Der Jüdische Friedhof Weißensee

Der Jüdische Friedhof in Berlin-Weißensee, einer der schönsten und größten jüdischen Friedhöfe in Europa. Unter jedem Grabstein liegt eine Weltgeschichte, schrieb einst Heinrich Heine in seinen Reisebildern.

Der 1880 eingeweihte Friedhof verbindet Menschen und Schicksale aus der ganzen Welt: den Chirurgen aus Israel, dessen Großeltern hier begraben liegen, die Familie aus Südamerika, die das Mausoleum ihres reichen Vorfahren zu Geld machen wollte, den Mann, der als 14-Jähriger zwischen den Gräbern Sportunterricht hatte und sich dabei in seine Mitschülerin verliebte, oder auch die kleine Familie, die heute auf dem Friedhof wohnt.

Dieses Buch spürt Geschichten derer auf, die in Weißensee ihre letzte Ruhe fanden und derer, die mit ihnen verbunden sind. Bisher unbekannte historische und aktuelle Fotografien ergänzen die Texte.

»Alle Geschichten wird man nie erzählen können, aber es lohnt sich, immer wieder neuen Geschichten nachzuspüren, sie in gewisser Weise den Grabsteinen zu entlocken.«

Hermann Simon (Direktor der Stiftung Neue Synagoge Berlin- Centrum Judaicum)

Britta Wauer / Amélie Losier

Der Jüdische Friedhof Weißensee

Momente der Geschichte

In Deutsch und Englisch

be.bra Verlag, Berlin 2011

176 Seiten, mit 141 farb./sw Abb., geb.

24,95 € [D]/ 44,00 SFr / 25,70 € [A]

ISBN 978-3-8148-0172-8

 


 

Einleitung

Auf dem Plan sieht er aus wie ein Garten der Renaissance: Eine Geometrie von Rechteck, Trapez und Dreieck. Die Alleen kreuzen sich in Kreisen und Quadraten. Aber wer die Anlage betritt, fühlt sich wie an einem verwunschenen Ort. Morgentau und Nebel, hohe Bäume, Dickicht. Dazwischen Säulen, Steine, Mausoleen, Efeu, Flieder und von rechts ein kleiner Fuchs – der Jüdische Friedhof Weißensee.

Es ist der dritte, der von der neuzeitlichen Jüdischen Gemeinde Berlins angelegt wurde. 130 Jahre ist er alt und der größte jüdische Friedhof in Europa, auf dem noch bestattet wird. Etwa 86 Fußballfelder hätten dort Platz. Dennoch steuert kaum ein Sightseeing-Bus das Gelände abseits der Touristenpfade an. Nur wenige wissen, dass das unter Denkmalschutz stehende Areal in einigen Jahren offiziell zum Welterbe der UNESCO zählen soll. Das Bedeutsame des Friedhofs sind nicht nur die außergewöhnlichen Grabdenkmäler, deren Vielzahl und Pracht heute schier unglaublich erscheint, sondern es ist sein Schicksal, das eng mit dem Berlins verbunden ist. Wenn man über den Friedhof geht, spaziert man wie durch ein Geschichtsbuch. Lang ist die Liste berühmter Künstler, Philosophen, Juristen, Architekten, Ärzte, Religionslehrer und Verleger, die dort beerdigt sind. Die Kaufhausgründer Adolf Jandorf (KaDeWe) und Hermann Tietz (Hertie) gehören dazu, der Maler Lesser Ury, der Verleger Samuel Fischer (S. Fischer Verlag), Berthold Kempinski, der den berühmten Luxus-Hotels seinen Namen gab, und Rudolf Mosse, dem einst das größte Verlagshaus Europas gehörte.

Als erster wurde allerdings keine Berühmtheit begraben, sondern am 22. September 1880 Louis Grünbaum, der ehemalige Leiter eines Altersheims. Auf seinem Grabstein steht an der Seite eine große »1«. Dass der Stein noch steht, liegt daran, dass ein jüdischer Friedhof für die Ewigkeit angelegt wird. Die Gräber werden nicht eingeebnet, Liegefristen gibt es nicht. Auf jedem Grabstein in Weißensee findet sich eine fortlaufende Nummer, die frischen Gräber haben sechsstellige Zahlen.

Über 115 000 Menschen sind auf dem Friedhof in Weißensee bestattet. Einfache Steine stehen neben prächtigen Mausoleen aus der Zeit von Jugendstil oder Art déco. Einige Grabmale sind von den Bauhaus-Architekten Ludwig Mies van der Rohe und Walter Gropius entworfen. Manche wirken verspielt, viele rühren mit ihren Inschriften, andere beeindrucken durch ihre Monumentalität. Doch so unterschiedlich das Budget einst gewesen sein muss, das für die Grabgestaltung zur Verfügung stand, so sehr gleichen sich die Gräber heute: eingestürzt, zugewachsen, vergessen. Kaum ein Lichtstrahl dringt im Sommer durch die riesigen Baumkronen auf die Gräber. Manche Wege sind so verwuchert, als wäre seit Jahren kein Mensch mehr bis zu den Grabstellen vorgedrungen. Angehörige, die die Gräber pflegen könnten, gibt es kaum. Die Shoa hat nicht nur das Leben von Millionen Menschen vernichtet, sondern auch das Andenken an sie zerstört. In Berlin lebten in den 1930er Jahren rund 170 000 Juden, nach Kriegsende waren es nur noch 5 000.

Das Besondere ist: Weißensee wurde nie geschlossen. Der Friedhof gehörte zu den wenigen Institutionen in Deutschland, die auch während der Nazizeit in jüdischer Selbstverwaltung blieben. In Weißensee spielten jüdische Kinder, als es auf den Berliner Straßen zu gefährlich für sie wurde. Hier naschten sie Pflaumen und Aprikosen von wilden Obstbäumen. Einzelne Juden versteckten sich für ein paar Nächte in frisch ausgehobenen Gräbern oder Mausoleen vor ihren Verfolgern. Unter Rabbiner Martin Riesenburger fanden sogar von 1943 bis 1945 Beerdigungen statt – alle nach jüdischem Brauch, bis auf die Tatsache, dass Riesenburger und seine verbliebenen Mitarbeiter die einzigen waren, die den Sarg zur Grabstelle begleiten konnten.

Was aus den Berliner Juden wurde, erzählen manche Gräber: Steine, auf denen Eltern samt ihren Kindern dasselbe Todesdatum haben, deuten auf Freitod hin. Blanke Stellen auf Grabsteinen, die leer geblieben sind, erzählen von Menschen, für die ein Platz vorgesehen war, die dort aber nie beerdigt werden konnten, weil sie in einem Konzentrationslager ermordet wurden. Manchmal erfahren wir ihre Namen. An Familiengräbern steht hin und wieder der Zusatz: »Im Gedenken an …«.

Am Rande der Hauptstadt der DDR gelegen, geriet der Friedhof nach dem Krieg immer mehr in Vergessenheit. Der kleinen Ostberliner Gemeinde war es nicht möglich, den sich ausbreitenden Urwald in Weißensee zu beherrschen. In ihrer Hilflosigkeit entschied sich die Verwaltung damals, den größten Teil des Friedhofs der Natur zu überlassen, um Kraft und Mittel wenigstens für einige repräsentative Felder im Eingangsbereich zu haben, auf denen noch bestattet wurde. Seit der Wiedervereinigung versuchen die Mitarbeiter des Friedhofes, Stück für Stück die einzelnen Felder zurück zu erobern.

Die Jüdische Gemeinde zu Berlin ist heute mit mehr als 12 000 Mitgliedern die größte jüdische Gemeinde in Deutschland. Dies liegt an den in den letzten Jahren eingewanderten Juden aus der ehemaligen Sowjetunion. Mittlerweile sind etwa 80 Prozent der Gemeindemitglieder Zuwanderer. Die Bräuche und Traditionen der Angehörigen, mitgebracht aus der alten Heimat, sind das jüngste und spannungsreiche Kapitel von Weißensee, denn auf dem historischen Areal wird immer noch bestattet. Was wir auf dem Friedhof finden, ist jüdische Geschichte, die zugleich Berliner und deutsche Geschichte ist – abgeschlossen ist sie nicht.

Editorische Anmerkungen

"Einleitung" mit freundlicher Genehmigung des be.bra Verlags, Berlin.

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