Evangelische Kirche in Westfalen
Landessynode 1988
Zum Verhältnis zwischen Christen und Juden
Thesen zur Weiterführung des Dialogs
24.-28. Oktober 1988 (Auszug)
1. Schuld
Das Erschrecken über den millionenfachen Mord an den Juden Europas hat unter Christen zu der Erkenntnis einer millionenfachen Schuld geführt. Wir bekennen diese Schuld. Im Vertrauen auf Gottes Gnade bitten wir um Vergebung und suchen Versöhnung.
1.2 Die Beziehungen zwischen Juden und Christen stellen sich immer deutlicher als eine Geschichte unheilvoller Verstrickungen dar. Es ist notwendig, diese Schuldgeschichte in konkreten Einzelheiten zu erhellen und sich mit ihren Ursachen und Wirkungen auseinanderzusetzen.
1.3 Von daher muß umfassender und entschiedener als bisher versucht werden, in der Theologie wie in allen Zweigen der kirchlichen Ausbildung, in Predigt, Unterricht und Schrifttum die christlichen Fehlurteile über das Judentum kenntlich zu machen und durch zutreffende Darstellung zu überwinden.
1.4 Eine Voraussetzung für die Überwindung solcher Fehlurteile ist das Gespräch mit Juden. Wir sind dankbar dafür, daß jüdische Menschen nach der Katastrophe bereit waren, in dieses Gespräch einzutreten. Wir hoffen, daß die Bereitschaft dazu weiter wächst.
1.5 Eine notwendige Folgerung aus diesem Gespräch ist es, daß Christen und Juden gemeinsam für die Rechte ethnischer und religiöser Minderheiten gegen alle Formen der Diskriminierung und des Hasses eintreten.
2. Schrift
2.1 Das Alte Testament ist gemeinsame Heilige Schrift für Christen und Juden. Das Neue Testament der Christen ist auf das Alte bezogen und bildet mit diesem zusammen für sie die Bibel.
2.2 In der "Schrift" begegnen Juden und Christen gemeinsam dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, zu dem sie auch gemeinsam beten können.
2.3 Juden und Christen haben einen unterschiedlichen Zugang zur "Schrift": für Juden geschieht er im wesentlichen von der Tora her. Für Christen steht das gnädige Handeln Gottes an seinem Volk, wie es sich im Christusgeschehen letztgültig darstellt, im Mittelpunkt.
2.4 Der Begriff "Altes Testament" sollte wegen seiner ökumenischen Weite und seines Gegenübers zum Neuen Testament in der Kirche beibehalten werden; die Gleichsetzung von "alt" mit "veraltet" ist ein Mißverständnis.
2.5 Die theologische Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium darf nicht dahingehend verstanden werden, daß das Alte Testament mit dem Gesetz, das Neue Testament mit dem Evangelium gleichgesetzt wird, in beiden Testamenten sind Gesetz und Evangelium enthalten.
3. Volk Gottes
3.1 Gott hat nach seinem freien Ratschluß Israel zu seinem Volk erwählt; in Jesus Christus ist die christliche Gemeinde in die Erwählung einbezogen.
3.2 Das eine Volk Gottes aus Juden und Christen lebt inmitten der Völker der Welt mit der besonderen Berufung und Aufgabe, Gott zu erkennen, ihm zu dienen, seinen Namen vor der Welt zu bezeugen und seinem Willen zu folgen.
3.3 Juden und Christen als die beiden Gestalten des einen Gottesvolkes bleiben in ihrer je eigenen Erwählung sowohl aufeinander bezogen als auch voneinander geschieden.
Sie sind aufeinander bezogen, insofern der erwählende Gott für sein Rettungshandeln jedesmal leibhaftige Menschen aus der Menschheit herausruft und zu einer sichtbaren Gemeinschaft zusammenschließt. Sie sind voneinander geschieden, insofern die Erwählung Israels (sein "Geheimnis") in der Berufung eines Volkes als solchem zum Dienst an den Völkern besteht, die Erwählung der christlichen Gemeinde dagegen in der Berufung von einzelnen Glaubenden zu einem Volk Gottes in allen Völkern.
Sie sind aufeinander bezogen, insofern allein das erwählte Gottesvolk Israel der Ort war, an dem und von dem aus Gottes weiterführendes Handeln in Jesus, dem Christus, begann. "Das Heil kommt von den Juden" (Joh. 4,29). Sie sind voneinander geschieden, insofern für das Gottesvolk Israel der in der Tora offenbarte Wille des erwählenden Gottes sein Leben begründet und leitet, während der in Jesus, dem Christus, gegenwärtige Gott Mitte und Wegweisung der christlichen Kirche ist. Das "Geheimnis" der Kirche wird daher nicht nur mit dem Begriff "Gottesvolk", sondern außerdem mit der Bezeichnung "Leib Christi" umschrieben.
3.4 Die Kirche als die Gemeinde des neuen Bundes ist nicht an die Stelle des alten Bundesvolkes getreten. Dieses ist nicht verworfen oder enterbt. Das eine Gottesvolk ist gegenwärtig im Volk Israel wie in der in Jesus Christus gegründeten christlichen Gemeinde. Der Begriff Volk Gottes umfaßt also in Jesus Christus beide, Juden und Christen.
4. Christologie
4.1 Jesus war Jude. Gott ist in Israel Mensch geworden und hat in diesem Volk den letztgültigen Schritt zur Erlösung der Welt getan. Jesu Judesein kennzeichnet also nicht nur seine menschliche Herkunft. Es bezeugt auch die in der Treue Gottes gründende Kontinuität seiner Rettungsgeschichte und verbindet die Kirche mit Israel. Deshalb gehört Jesu Judesein in das Bekenntnis der Kirche.
4.2 Jesus ist der Messias, aus und für Israel und für die Welt. Durch Kreuz und Auferweckung bekommt der Titel Messias einen spezifischen, so in Israel nicht vorgegebenen Inhalt. Er wird daher von Juden für Jesus nicht akzeptiert. Für Christen hält er fest, daß Jesus in der Rettungsgeschichte Gottes mit Israel steht. Jesus ist der Christus. Diese griechische Übersetzung des Wortes Messias kommt im Neuen Testament fast ausnahmslos vor. In ihr schwingt betont mit, daß in Jesus das Heil allen Völkern erschlossen ist. Sie enthält im Zusammenhang damit das Bekenntnis, daß in Jesus Gottes Reich schon verborgen anwesend ist und von ihm her auf seine öffentliche Erscheinung drängt.
4.3 Jesus, der Gekreuzigte, ist von Gott auferweckt worden. Dieses Bekenntnis der Christen schließt die Gewißheit ein, daß Gottes Heil für die Welt an ihm und durch ihn schon Ereignis geworden ist. Juden können diese Gewißheit nicht teilen, da sie mit dem erwarteten messianischen Retter bzw. dem endgültigen Heilshandeln Gottes zugleich die konkrete Verwandlung der Welt erwarten. Dieser Grundwiderspruch trennt bis zur Stunde Juden und Christen.
4.4 Jesus wird von den Christen als "Herr" oder "Sohn Gottes" bekannt. Sie wollen damit Gottes Einheit und Einzigkeit nicht antasten. Sie möchten vielmehr dem neuen Handeln des einen Gottes Israels folgen. Er hat nach ihrem Glauben in Jesus so einschneidend und weiterführend gehandelt, daß Jesus nur in einzigartiger Weise mit Gott zusammengedacht werden kann. Insofem wird Israels Grundbekenntnis nicht verlassen, sondern entfaltet und in dieser Entfaltung gerade bekräftigt. Christen beherzigen das in ihrem Sprachgebrauch: der Name "Jesus Christus" ersetzt oder verdrängt nicht den Namen "Gott".
5. Gerechtigkeit und Liebe
5.1 Gerechtigkeit und Liebe sind im Handeln Gottes miteinander verbunden.
5.2 Die Tora (Weisung) ist - im Gegensatz zum dogmatischen Begriff "Gesetz" - im Alten Testament von der Erwählung, dem Heilshandeln Gottes, getragen.
5.3 Gerechtigkeit und Liebe im Handeln Gottes und im Handeln des Menschen sollen einander entsprechen. Hier können Christen und Juden voneinander lernen.
5.4 Für Christen ist die rechtfertigende Tat Gottes in Jesus Christus die Voraussetzung für die Verwirklichung von Gerechtigkeit und Liebe. Das Sündersein des Menschen wird hier radikal ernst genommen. Juden betonen stärker die Möglichkeit des Menschen, trotz seiner Neigung zum Bösen gut und gerecht zu handeln. Doch wissen auch sie, daß er zum Heil auf Gottes Gnade angewiesen bleibt.
5.5 Zum Verständnis der Bedeutung von Gerechtigkeit und Liebe im Leben des Christen darf das paulinische Verständnis von "Gesetz", von Glaube und Werken nicht außer acht bleiben.
5.6 Christen und Juden wissen sich auf dem gemeinsamen Weg zu einer neuen Welt, in der Gerechtigkeit wohnt.
6. Land
6.1 Die dem Abraham gegebene Verheißung, ein großes Volk zu werden, ist unlösbar mit der Verheißung des Landes verbunden. So können wir der Frage nach dem Zusammenhang zwischen dieser Landverheißung und der Rückkehr Israels in sein Land wie der Neubegründung seiner staatlichen Existenz nicht ausweichen.
6.2 Der biblische Begriff des Zeichens schließt die Realität eines Geschehens mitten in der irdischen Wirklichkeit ein und schützt zugleich vor einer vorschnellen Gleichsetzung von politischen Ereignissen und Heilsgeschehen. So wird die Rückkehr der Juden in ihr Land als dem irdisch-geschichtlichen Lebensraum des Volkes dem Glauben zum Zeichen der Treue Gottes zu seinen Verheißungen. Christen lassen sich durch die Rückkehr der Juden in ihr Land an die Abrahamsverheißung erinnern und daran, daß der Christus Jesus in Israel zur Welt kam.
6.3 Wer Jesus Christus bekennt, hört auf die dem Abraham gegebenen Verheißungen, hofft mit Israel auf die Schöpfung eines neuen Himmels und einer neuen Erde, ist darum bemüht, Gottes Willen hier und heute auch nach seiner sozialen und politischen
Seite hin zur Geltung zu bringen, und widersteht einem rein innerlichen Verständnis des Heils.
6.4 Wenn Christen die Verheißung Gottes ernst nehmen, müssen sie auch die Probleme der Gegenwart im Blick haben. Darum treten sie für eine gesicherte Existenz des jüdischen Volkes im Land der Verheißungen ein.
6.5 Dennoch macht sich der Glaube nicht fest an Vorgängen in der Geschichte. Die Heimkehr der Juden in das Land der Väter verweist den Glaubenden auf die Treue Gottes in Jesus Christus und auf die eschatologische Dimension der Verheißung. (…)
8. Das Zeugnis von Christen gegenüber Juden
1. Die Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden schließt unabweisbar die Frage ein, ob und wie Christen auch künftig ihren Glauben an Jesus Christus Juden gegenüber bezeugen müssen. Eine Verdrängung dieser Frage würde die Erneuerung der Beziehungen belasten. Sie muß daher offen gestellt werden.
2. Die Antwort auf diese Frage hängt mit einer Grundsatzentscheidung zusammen. Wenn wir glauben, daß der Gott Israels in Jesus den endgültigen Schritt zur Rettung der Welt getan hat, muß dies Juden gegenüber bezeugt werden. Es wäre Untreue gegenüber Gott und damit auch gegenüber seiner Rettungsgeschichte in und mit Israel, würden wir diesem Glauben nicht zeugnishaft Ausdruck geben.
3. Dieses Zeugnis muß jedoch von der grundlegenden Verbundenheit zwischen Kirche und Israel ausgehen, die Gott durch sein Rettungshandeln selber gestiftet hat. Es muß ebenso die Zusage ernst nehmen, daß Israel nicht verworfen ist, sondern durch Gottes Treue bis zum Anbruch seines Reiches geführt und gehalten wird. Das Zeugnis von Christen gegenüber Juden wird treulos und inhaltlich falsch, wenn es diese Verbundenheit ignoriert.
4. Das Zeugnis von Christen gegenüber Juden ist dadurch belastet, daß christliche Theologie und Verkündigung in ihren Auswirkungen mitverantwortlich für Auschwitz geworden sind. Das "Wort vom Kreuz" ist dadurch in einer Weise entstellt und verraten worden, daß es vielen Juden nur noch als Botschaft des Schreckens oder doch als bloße Bedrohung ihrer Existenz und Identität hören können. Dieser Tatbestand ist mehr als ein psychologisches Faktum, dem nur methodisch Rechnung zu tragen wäre. Er reicht bis in die Tiefe des Verständnisses der Christologie und ihrer Bezeugung hinein.
5. Alle diese Gründe sprechen dafür, den Begriff "Judenmission" fallen zu lassen. Die Verdienste der historischen Judenmission, gerade auch im Eintreten für Juden und in dem Versuch, neue Beziehungen zwischen Christen und Juden zu stiften, bleiben dadurch unberührt. Das christliche Zeugnis gegenüber Juden läßt sich jedoch nur schwer unter einen Begriff subsumieren, der die Sendung der christlichen Kirche zu allen Menschen insgesamt meint, dem besonderen Verhältnis der Kirche zu Israel nicht genügend gerecht wird und durch die Geschichte des christlichen Antijudaismus außerordentlich belastet ist.
6. Die Suche nach einem neuen Wort muß alle genannten theologischen und historischen Gesichtspunkte berücksichtigen. Die inzwischen als Alternative genannten Begriffe wie "Gespräch", "Dialog" oder "Sendung", haben ihre je eigene Schwierigkeit bzw. müssen jeweils inhaltlich genau definiert werden. Der Begriff "Zeugnis" bietet sich deswegen an, weil er einen ganzheitlichen Charakter hat (martyria). Elemente dessen, was der Begriff Dialog meint, sind in dem neutestamentlichen Wort "Zeugnis" enthalten.
7. Die Art und Weise des Zeugnisses muß vom gegenseitigen Geben und Nehmen bestimmt sein. Israel hat tiefgreifende Erfahrungen mit demselben Gott, der Jesus gesendet hat. Das gemeinsame Lernen aus den Schriften, auch aus denen, die Christen und Juden jeweils besonders haben, ist ein wichtiges Feld dieses Gebens und Nehmens. Im Rahmen solcher Begegnungen wird dann immer wieder der Zeitpunkt kommen, an dem Christen ihr Bekenntnis zur Sendung Jesu aussprechen müssen und Juden auf diese Einschätzung reagieren. Über andere Formen des Zeugnisses ist nachzudenken. Vor allem aber muß das Zeugnis von Christen gegenüber Juden den Charakter des Tatzeugnisses tragen.