Verehrter Oberrabbiner,
sehr geehrte Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Roms!
Ich möchte mich mit meiner geistigen Nähe und dem Gebet dem Gedenken des 70. Jahrestages der Deportation der römischen Juden anschließen. Während wir uns dieser tragischen Stunden im Oktober des Jahres 1943 erinnern, ist es unsere Pflicht, das Schicksal jener Deportierten vor unseren Augen gegenwärtig zu halten, ihre Angst, ihr Leid, ihre Verzweiflung zu spüren, um sie nicht zu vergessen und sie in unserer Erinnerung und in unserem Gebet lebendig zu erhalten, zusammen mit ihren Familien, ihren Verwandten und Freunden, die ihren Verlust beweint haben und entsetzt waren angesichts der Barbarei, zu der der Mensch fähig ist.
Eines Ereignisses zu gedenken bedeutet allerdings nicht, sich bloß daran zu erinnern. Es bedeutet auch und vor allem den Versuch zu verstehen, welche Botschaft es für unsere heutige Zeit darstellt, so dass die Erinnerung an die Vergangenheit eine Lehre für die Gegenwart sowie ein Licht sein kann, das den Weg in die Zukunft erhellt. Der sel. Johannes Paul II. schrieb, dass »die Erinnerung ihren unerlässlichen Teil zum Aufbau einer Zukunft beiträgt, in der die unsagbare Schandtat der Shoah niemals mehr möglich sein wird« (Schreiben anlässlich der Veröffentlichung des von der Kommission für die religiösen Beziehungen zu den Juden herausgegebenen Dokuments »Wir erinnern: Eine Reflexion über die Shoah«, 16. März 1998; in O.R. dt., Nr. 14, 3.4.1998, S.7). Und Benedikt XVI. sagte im Konzentrationslager Auschwitz: »Das Vergangene ist nie bloß vergangen. Es geht uns an und zeigt uns, welche Wege wir nicht gehen dürfen und welche wir suchen müssen« (Ansprache, 28. Mai 2006).
Das heutige Gedenken könnte man daher als »memoria futuri« bezeichnen, als einen Appell an die jungen Generationen, ihre Existenz nicht zu verflachen, sich nicht mitreißen zu lassen von ideologischen Strömungen, niemals das Böse zu rechtfertigen, dem wir begegnen, niemals nachzulassen in der Wachsamkeit gegenüber Antisemitismus und Rassismus, von welcher Seite auch immer sie kommen mögen. Ich hoffe, dass von Initiativen wie dieser ausgehend Netze freundschaftlicher und brüderlicher Beziehungen zwischen Juden und Katholiken in dieser unserer geliebten Stadt Rom geknüpft und gepflegt werden können.
Der Herr sagt durch den Mund des Propheten Jeremia: »Denn ich kenne meine Pläne, die ich für euch habe, Pläne des Heils und nicht des Unheils; denn ich will euch eine Zukunft und eine Hoffnung geben« (Jer 29,11). Das Gedenken an Tragödien der Vergangenheit möge für alle zur Verpflichtung werden, mit all unseren Kräfte die Zukunft zu bejahen, die Gott für uns und mit uns vorbereiten und aufbauen will.
Shalom!
Franziskus
Aus dem Vatikan, am 11. Oktober 2013