Evangelische Landeskirche in Württemberg Erklärung zum 50. Jahrestag des Judenpogroms „Reichskristallnacht“ am 9. November 1938Verbundenheit mit dem jüdischen Volk</3>
15. November 1988Die Beziehung zwischen den Juden als dem Volk Gottes und der Kirche Jesu Christi
beschreibt der Apostel Paulus mit dem Bild des Ölbaums und den eingepfropften Zweigen:
„Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich.“ (Römer 11,18)
Gleichzeitig warnt er seine heiden-christlichen Brüder vor Überheblichkeit. 1. Geschichtliche Entwicklung und christliche SchuldDie Mahnung des Apostels geriet schnell in Vergessenheit. Statt des gemeinsamen
Wurzelgrunds begannen Distanz und Ablehnung das Verhältnis zu prägen. In den fast 2ooo Jahren ihres Exils unter christlichen Völkern waren die Juden Vorurteilen,
Verleumdungen, gesellschaftlicher Isolierung und Verfolgungen ausgesetzt. Durch die
Geschichte des christlichen Abendlandes zieht sich eine unheilvolle Spur von
Judenfeindschaft. Sie endete auch nicht, als im 19. Jahrhundert in den meisten europäischen
Staaten die Juden gleichberechtigte Bürger wurden. Gegen den Judenhaß und die
Hetzpropaganda des Dritten Reiches formierte sich darum kein nachhaltiger geistiger
Widerstand. Als im November 1938 in der später verharmlosend so genannten
„Reichskristallnacht“ Synagogen angezündet, jüdische Geschäfte geplündert und
demoliert, jüdische Mitmenschen schändlich mißhandelt, gefangen genommen und in
Konzentrationslager verschleppt wurden, blieb bis auf wenige Ausnahmen jeder öffentliche
Protest aus. Auch die Kirchen waren weithin sprachlos und blind. Als Christen leiden wir unter der schweren Last dieser Vergangenheit. Wir erkennen und
bekennen unsere Schuld vor Gott und vor dem jüdischen Volk und bitten den Herrn, daß er
uns helfe zur Umkehr im Glauben und Tun. 2. Erinnern, nicht vergessen!Die lange Tradition der Ablehnung alles „jüdischen“ in der Christenheit läßt sich
nicht allein durch gute Absicht und schnelle Aufklärung verändern. Eine gründliche und
selbstkritische geistliche Arbeit von Generationen wird nötig, sein, um den langen Weg zu
gehen, der vom Mißtrauen zur Aufgeschlossenheit, von der Abweisung zur Bejahung und zum
Bewußtsein des Zusammengehörens führt. Unerläßlich ist dabei, daß wir uns der Erinnerung stellen und nicht verdrängen, was
geschehen ist. Nur wenn wir die Geschichte kennen und ihre Last verantwortlich auf uns
nehmen, kann sie uns helfen, die Herausforderungen der Gegenwart zu bestehen. 3. Vom Trennenden zum Gemeinsamen
In der Tradition der Kirche gab es bisher wenig Raum für Überlegungen, die auf das Juden
und Christen Verbindende zielten. Die Kirchengeschichte war eher darauf angelegt,
Unterschiede und Gegensätze zu betonen. Der neue Weg, den wir gehen wollen, führt uns weg von falschem Selbstbewußtsein und hin zu
geistiger Aufgeschlossenheit, die sich vom gegenseitigen Kennenlernen, von Dialog und
Gedankenaustausch etwas verspricht und sich darum bemüht. Im Vordergrund aller Überlegungen soll stehen, was Christen und Juden gemeinsam haben und
gemeinsam tun können. Was uns im Glauben unterscheidet, soll nicht verschwiegen werden, es
darf aber auch nicht mehr zur Trennung führen. Gottes Treue gilt uneingeschränkt sowohl Seinem erwählten Volk, wie der in Christus Jesus
berufenen Gemeinde aus allen Völkern. Nicht gegenseitige Abgrenzung, sondern gemeinsames
Lob der Treue Gottes ist unser Anliegen.
4. Überlegungen zum "Neuen Weg"
Wäre das Judentum nur eine religiöse Lehre, so könnte man sich durch Literatur und Medien
damit vertraut machen. Da es aber in erster Linie eine im Glauben praktizierte Lebensform
ist, die von der Thora, der Weisung Gottes, bestimmt wird, kann kein bloßes Wissen über
das Judentum die Begegnung mit jüdischen Menschen ersetzen. Begegnung und Gespräch sind in der Bibel der beispielhafte Weg zum Mitmenschen. Sollten
nicht Christen und Juden, von der Menschenfreundlichkeit Gottes zur Nachahmung angereizt,
aufeinander zugehen, sich mit wohlwollendem Interesse beobachten, sich anfreunden, sich
kennen und schätzen und gegenseitig vertrauen lernen? Satte Selbstgenügsamkeit, die sich dem Gespräch verschließt, ist keine christliche
Tugend; Offenheit und Entgegenkommen entsprechen dem Verhalten Jesu.
5. Hören und Aufnehmen
Bei der angestrebten Begegnung steht es uns gut an, wenigstens eine Zeitlang eher Zurückhaltung
zu üben. Wir wollen hören, lernen und aufnehmen, was jüdische Gesprächspartner über
sich selbst und andere sagen. Christliche Repräsentanten haben, obwohl sie echtes, gelebtes
Judentum kaum kannten, viele Jahrhunderte lang ohne Scheu die Rolle der Wissenden übernommen
- auch in der Belehrung über das, was Juden denken und glauben und tun.
6. Umbesinnung: Auf allen Gebieten notwendig
Die Beziehung zu Israel als dem Volk Gottes stellt eine Grundkomponente christlicher
Selbsterkenntnis dar. Es gibt darum kein Gebiet, wo sie nicht aufgenommen und reflektiert
werden müßte. Wir sehen darin eine Aufgabe für die wissenschaftliche Theologie an den Universitäten wie
für die kirchliche Lehre; die Verbundenheit mit dem jüdischen Volk ist Inhalt christlicher
Erziehung, Verkündigung und Öffentlichkeitsarbeit. Einzelne Daten, wie etwa der „Israelsonntag“ am 10. Sonntag nach Trinitatis oder der Buß-
und Bettag im November, können ein Anlaß sein, diese Beziehung besonders und ausdrücklich
zum Thema zu machen.
7. Umkehr: Auf allen Ebenen zu vollziehen
Neubesinnung und Umkehr ereignen sich nicht durch bloße Absichtserklärungen. Sie müssen
von jedem einzelnen konkret vollzogen werden. Darum stehen alle, die im Raum der Kirche
Verantwortung tragen, in der Pflicht: Kirchengemeinderäte und Leiter von Gemeindekreisen,
Jugendgruppen und Gemeinschaften wie auch hauptamtliche kirchliche Mitarbeiter, Lehrer und
Pfarrer. Ein besonderes Maß an Verantwortung kommt Oberkirchenrat und Synode zu, die für
die Landeskirche sich äußern und handeln. Sie haben ein Wächteramt auch gegenüber den
christlichen Weltorganisationen zu üben und in kritischer Wahrnehmung unserer
Mitgliedschaft beim Ökumenischen Rat der Kirchen und beim Lutherischen Weltbund darauf zu
achten, daß politischer Anliegen wegen nicht die wesensmäßige Verbundenheit mit dem jüdischen
Volk verschwiegen oder in Frage gestellt wird. Umkehr müßte sich auch darin erweisen, daß wir als Christen den Ansätzen eines neu
aufkommenden Antisemitismus in unserem Land entgegentreten. Es gilt aber auch, der
vereinfachenden Gleichsetzung von Antisemitismus und kritischer Solidarität mit dem Staat
Israel entgegenzuwirken.
8. Schwerpunkte des Dialogs in der württembergischen Landeskirche
Es hat einen guten Sinn, wenn der christlich-jüdische Dialog schwerpunktmäßig bei den
charakteristischen Eigenheiten der jeweiligen Kirchen ansetzt. Die Verwurzelung breiter
Kreise in der Heiligen Schrift war und ist ein besonderes Kennzeichen der württembergischen
Landeskirche. Mit Anerkennung und Zustimmung stellt die Kirchenleitung fest, daß das Gespräch
zwischen Christen und Juden in der württembergischen Landeskirche sich gerade auch in
dieser Tradition entfaltet und einen unverwechselbaren Beitrag leistet. Exemplarisch seien
hier genannt: Christlich-jüdische Bibelwochen über alttestamentliche Texte mit thoratreuen
jüdischen Lehrern; biblisch-theologische Arbeit mit jüdischen Gelehrten bei
Pfarrkonventen; "Bibelauslegungen aus jüdischen Quellen" zu den
alttestamentlichen Predigtperikopen, in Buchform vorgelegt von einem dialogerfahrenen
Rabbiner; junge Theologen, die in Jerusalem Bibel und Judentum studieren; Werke der Nächstenliebe
in Israel, wie das „Liebeswerk Zedakah“ für Überlebende aus den Konzentrationslagern. Daß das Kennenlernen über dem Bibelwort sich nicht in Kommissionen, sondern bevorzugt in
Kirchengemeinden und bei der Fortbildung kirchlicher Mitarbeiter abspielt, ist eine der
Besonderheiten unserer Landeskirche, zu deren Pflege wir ermutigen.
9. Dank an jüdische Gesprächspartner
Oberkirchenrat und Synode nehmen in diesem Zusammenhang gerne die Gelegenheit wahr, öffentlich
jüdischen Lehrern und Familien zu danken, daß sie sich im Raum unserer Landeskirche an
einer von gegenseitiger Achtung und Vertrauen getragenen Zusammenarbeit beteiligen. Mit großem Respekt erfüllt uns die Bereitschaft jüdischer Menschen, trotz zum Teil
schwerster persönlicher Erlebnisse und über die Zerwürfnisse und Gräben der
Vergangenheit hinweg, das Gespräch mit Christen in Deutschland zu führen. Wir sehen darin ein Stück gelebter
Vergebung.
10. Zum Staat Israel
Auf dem Hintergrund ihrer jahrtausendelangen Leidensgeschichte teilen wir die Freude der
Juden über die Heimkehr ins Land der Väter und begreifen ihre Verbundenheit mit dem Staat
Israel. Wir anerkennen und verstehen, was ein deutscher Jude zum 40jährigen Bestehen des
Staates Israel schrieb: „Aus Israel schöpfen wir, und in noch höherem Maße unsere
Kinder, die Kraft für eine kontinuierliche jüdische Identität, die aufzugeben mit dem
Verzicht auf unsere weitere Existenz gleichzusetzen wäre, wie uns die historische Erfahrung
schmerzhaft lehrt. Ob er sich dessen bewußt wird oder nicht, ob er es wünscht oder nicht,
ist heute jeder Jude, wo immer auf dieser Welt er auch leben möge, auf das innigste mit dem
Staat Israel verbunden.“ (Heinz Galinski, Vorsitzender des Zentralrats der Juden in
Deutschland, in der Allgemeinen jüdischen Wochenzeitung vom 22. April 1988.)11. Zum Nahost-Konflikt
Als mit dem Volk Israel verbundene Kirche beten wir für den Frieden im Nahen Osten und
bitten alle am arabisch-israelischen Konflikt mittelbar und unmittelbar Beteiligten, den Mut
zu Verständigungs- und Aussöhnungsbereitschaft nicht zu verlieren. Feindschaft, Mißtrauen,
Gewalt und Haß führen ins Verderben. Nur die beharrliche Bemühung um Verständigung,
Ausgleich und Frieden kann den Völkern im Nahen Osten den Weg in eine gemeinsame Zukunft
ebnen.
12. Unter Gottes Segen
Die Kirchenleitung sieht in dem Berufungswort an Abraham den tragenden Grund, auf dem die
Verbundenheit der Kirche mit dem jüdischen Volk Bestand hat, und hört auf diese
Gottesverheißung „Ich will segnen, die dich segnen ... ; und in dir sollen gesegnet
werden alle Geschlechter auf Erden“ (Gen. 12,3).
(gez.) Landesbischof Theo Sorg (gez.) Dr. Oswald Seitter, Präsident der Württembergischen Evang. Landessynode Erklärung des Württembergischen Evangelischen Oberkirchenrats und der Württembergischen
Evangelischen Landessynode vom 15. September 1988
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