Stellungnahme zum Kairos-Palästina-Dokument

Stellungnahme der Kirchenkonferenz der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und des Exekutivausschusses der Evangelischen Mittelost-Kommission (EMOK)

Die Stunde der Wahrheit (Kairos Palästina)

Teil I: Was nehmen wir Gutes und Neues wahr in diesem Dokument?

Im Dezember 2009 haben palästinensische Christen und Kirchenführer in Jerusalem der Öffentlichkeit ein Dokument übergeben „Die Stunde der Wahrheit: Ein Wort des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe aus der Mitte des Leidens der Palästinenser und Palästinenserinnen“.

Das Dokument ist ein Hilferuf von Menschen, die unter der Besetzung durch Israel leben müssen und unter dieser Besetzung leiden. Als solches ist es in der ökumenischen Gemeinschaft der Kirchen zu hören und sein Anliegen ernst zu nehmen. Das Dokument ist auch Ausdruck des christlichen Glaubens, dass dies sich ändern kann und sich ändern muss.

Der Aufruf wendet sich an die palästinensischen Christen und will ihre Hoffnung stärken; er macht palästinensischen Muslimen die christliche Haltung deutlich (5.4.1); er ist ein Zeichen gegenüber dem Staat Israel und sucht die Solidarität mit den Geschwistern in der Ökumene.

Wir erkennen, dass der Staat Israel als politisches Gegenüber vorausgesetzt und anerkannt wird und damit auch die Frage des Existenzrechtes Israels positiv beantwortet wird. Für uns ist das Existenzrecht Israels wie auch das Recht der Palästinenser auf einen unabhängigen Staat ein entscheidendes Kriterium bei der Beurteilung jeglicher Stimme und Position zum Konflikt zwischen Israel, den Palästinensern und Palästinenserinnen und ihren Nachbarstaaten.

Wenn sich der Aufruf in 3.4.3 gegen die Instrumentalisierung von Religion im politischen Konflikt ausspricht: „Deshalb darf keine Religion ein ungerechtes politisches System begünstigen und unterstützen, sondern sie muss vielmehr Gerechtigkeit, Wahrheit und Menschenwürde fördern. Sie muss alles tun, um politische Systeme, unter denen Menschen Unrecht leiden und die Menschenwürde verletzt wird, auf den rechten Weg zurückbringen“ stimmen wir dem uneingeschränkt zu und erkennen darin eine immer wieder neu an die eigene christliche Theologie zu richtende Anfrage; wir erkennen darin auch eine Absage an religiös-politische radikale Stimmen unter sog. christlichen Zionisten, radikal religiösen Gruppierungen in jüdisch-israelischen Gesellschaft und im Islam. Zu Recht wird der Dialog der Religionen als wichtiges Instrument der Versöhnung benannt.

Die EMOK nimmt diesen Aufruf dankbar und mit großer Aufmerksamkeit entgegen. Vor allem würdigt sie die Versöhnungsbereitschaft, den Willen zur Gewaltfreiheit und den theologisch in der Liebe begründeten Verzicht auf jede Form von Rache (4.2.6) und Vergeltung, zu denen sich der Aufruf bekennt, z. B. 4.2.5 „Wir wollen nicht Widerstand leisten, indem wir den Tod bringen, sondern vielmehr, indem wir das Leben schützen.“ Die EMOK ist nachdrücklich bereit, in diesem entschlossenen Friedenswillen einen gemeinsamen Weg zu sehen, und das weitere klärende Gespräch anzugehen. Die EMOK weist darauf hin, dass die im Dokument ausgesprochene Einladung „Kommt und seht!“ schon in vielfacher Form und bei zahlreichen Gelegenheiten stattfindet – in unterschiedlichen Partnerschaften mit Kirchen, Gemeinden und christlichen Institutionen und Projekten, sowie in gelebter ökumenischer Solidarität im Rahmen des EAPPI-Programms.

Teil 2: Anfragen und Vorbehalte

1. zu 3.3: Der Dialog der Religionen ist ein wichtiger Beitrag zu Versöhnung im Konflikt.

Zweifelsohne hat der palästinensische christlich-muslimische Dialog eine wesentliche Bedeutung. Alle drei Religionen sind aber für den Dialog wichtig; denn er muss umfassender sein als das Bemühen „die Mauern niederzureißen, die uns durch die Besatzung auferlegt werden“ (3.3.2). Es gilt die „verzerrte Wahrnehmung“ und „den Hass der Vergangenheit“ (3.3.4) zwischen den Menschen zu überwinden. Selbstkritisch ist auch die innerchristliche Zerrissenheit zu bedenken.

2. Wir hören den Aufruf als Ausdruck des Leidens des palästinensischen Volkes und sehen die von der israelischen Besetzung hervorgerufene Not. Ist aber die Besetzung die einzige Ursache für die Not des palästinensischen Volkes? Ist mit dem Ende der Besatzung automatisch das Ende des Leidens verbunden? Hier wünschen wir uns von der weltweiten christlichen Gemeinschaft, dass sie Ursachen und Folgen differenziert und genauer bestimmt.

3. Das betrifft z. B. 4.3 „Die Wurzeln des ‚Terrorismus’ liegen in dem menschlichen Unrecht, das uns angetan wird, und in dem Übel der Besetzung.“ Wir müssen leider wahrnehmen, dass es muslimische, palästinensische Gruppierungen gibt, die Israel als Staat grundsätzlich – unabhängig von der Besetzung – bekämpft haben und bekämpfen. So können wir die Handlungen der israelischen Regierungen wohl kritisieren oder die Besetzung verurteilen, aber die Bekämpfung des Terrorismus nicht einfach als „Vorwand“ (4.3) abtun.

4. Es wäre eine Hilfe, wenn die Verfasser des Aufrufs deutlicher machen, dass sie mit „Besetzung“ die im Juni 1967 von Israel eroberten Gebiete meinen, nicht aber auch das israelische Staatsgebiet innerhalb der Waffenstillstandslinie von 1949, das von der internationalen Gemeinschaft allgemein als israelische Grenze anerkannt wird. Zur notwendigen Differenzierung gehört auch, zu sehen, dass innerhalb der palästinensischen Gesellschaft dringend rechtsstaatliche Strukturen entwickelt werden müssen, um Gerechtigkeit und Frieden zu erreichen.

5. Es ist uns wichtig darauf hinzuweisen, dass wir bei dem Satz „Wir haben Hochachtung vor allen, die ihr Leben für unsere Nation hingegeben haben“ in keinem Fall an die Menschen denken können, die ihr Leben dadurch zu Ende gebracht haben, dass sie andere Menschen gewaltsam mit sich in den Tod gerissen haben.

6. Der Aufruf empfiehlt „den Rückzug von Investitionen und (…) Boykottmaßnahmen der Wirtschaft und des Handels gegen alle von der Besatzung hergestellten Güter“. Ein allgemeiner Boykott Israels erinnert die Kirchen in Deutschland an den Aufruf „Kauft nicht bei Juden!“ im Jahr 1933 und ist für uns nicht zu akzeptieren. Wir fragen jedoch: Welche anderen Solidaritätsmaßnahmen zugunsten des palästinensischen Volkes sind denkbar? Wie können wir die Lebensgrundlage von Palästinensern verbessern und vermeiden, dass Waren aus den widerrechtlichen Siedlungen gekauft werden?

7. Der Aufruf versteht sich auch als „ein Ruf zur Umkehr, zur Korrektur fundamentalistischer Positionen, die ungerechte politische Optionen in Bezug auf das palästinensische Volk unterstützen“. Dem stimmen wir in dieser allgemeinen Form zu, fragen aber, welche Positionen die Verfasser im Blick haben.

8. Wenn der Aufruf auch den Prozess der theologischen Umkehr mit seiner Einsicht in die bleibenden, dem Volk Israel von Gott gegebenen Verheißungen in den Kirchen Europas und Nordamerikas meint, braucht es das theologische Gespräch mit den christlichen Geschwistern in Palästina. Wir sind uns darin einig, dass keine Theologie zur Rechtfertigung des Leidens von Menschen missbraucht werden darf.

9. Die Verbreitung des Aufrufs durch den Ökumenischen Rat als „Kairos Papier“, die Vergleiche mit Südafrika im Aufruf selbst, im Begleittext der Verfasser und in verschiedenen Ansprachen des ehemaligen Generalsekretärs des ÖRK legen einen Vergleich mit dem Kairos Papier von 1985 nahe und wecken Assoziationen zum Kampf gegen das Apartheidregime. Eine derartige Gleichsetzung ist nach Meinung der EMOK problematisch. Die EMOK rät ab, die Situation so zu beschreiben, dass es ideologisierend wirken kann. Wir können den Aufruf aber als „Kairos“ verstehen im Sinne von: Jetzt ist es Zeit zu handeln!

EMOK-Exekutivausschuss am 22.04.2010

Kirchenkonferenz der EKD am 31.08.2011

Editorische Anmerkungen

Hier auch eine englische Übersetzung des Dokuments:
Statement