Richtlinien für lutherisch-jüdische Beziehungen

Diese Richtlinien sind aus der "Declaration of the Evangelical Lutheran Church in America to the Jewish Community" vom April 1994 erwachsen. Nov 1998

Richtlinien für lutherisch-jüdische Beziehungen

Evangelisch-Lutherische Kirche in Amerika

Die folgenden Vorschläge zur Förderung des lutherisch-jüdischen Dialogs und der lutherisch-jüdischen Zusammenarbeit wurden von der Konsultativen Kommission für lutherisch-jüdische Beziehungen der Abteilung für Ökumenische Angelegenheiten der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Amerika entworfen und vom Rat der ELCA in seiner Sitzung am 16. November 1998 angenommen. Diese Richtlinien sind aus der "Erklärung an die jüdische Gemeinschaft” der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Amerika vom April 1994 eewishsen, die die antijüdischen Schriften Martin Luthers verwarf und "unseren dringenden Wunsch, unseren Glauben an Jesus Christus in Liebe und Achtung gegenüber dem jüdischen Volk auszuleben” zum Ausdruck brachte.

Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Amerika hofft, auch für die Beziehungen mit Gliedern anderer Glaubensgemeinschaften in den Vereinigten Staaten Richtlinien herauszugeben.


Als Lutheraner versuchen wir, unser Verhältnis zum jüdischen Volk zu erneuern und zu verbessern, ein Verhältnis, das für lange Zeit durch Mißverständnis und Vorurteil entstellt war. In ihrer “Erklärung an die jüdische Gemeinschaft” von 1994 verwarf die Evangelisch-Lutherische Kirche in Amerika öffentlich die antijüdischen Schriften Martin Luthers und brachte ihre Reue über christliche Mitschuld an Haß und Gewalt gegen die Juden durch Jahrhunderte hindurch zum Ausdruck und verpflichtete sich, ein Verhältnis zum jüdischen Volk zu schaffen, das sich auf Liebe und Achtung gründet. Für Lutheraner kann ein erster Schritt zur Erneuerung des Verhältnisses zur jüdischen Gemeinschaft darin bestehen, diese Erklärung (hier beigefügt) zu lesen, zu verstehen und zu bestätigen. Versöhnung beginnt stets mit einem Verstehen des Vergehens und einer Bereitschaft, zu bereuen und die falsche Denk- und Handlungsweise zu korrigieren. Erst dann können weitere Schritte auf ein neues Verhältnis hin unternommen werden.

Als Christen haben wir Teil an den tiefen und gemeinsamen Wurzeln mit Juden, nicht zuletzt an den Büchern der Heiligen Schrift, die von beiden Gemeinschaften geachtet werden. Viel kann erreicht werden, wenn diese gemeinsamen Wurzeln und die Gründe für die “Trennung der Wege” in der Zeit der ersten Generationen von Jesusnachfolgern erforscht werden. An vielen Stellen reflektiert das Neue Testament die Feindseligkeit zwischen den beiden Gemeinschaften, aber zeigt zugleich auch Wege auf, wie ein neuer Geist gegenseitiger Achtung und gegenseitigen Verständnisses erreicht werden kann.

Als Christen müssen wir auch die reiche Entwicklungsgeschichte des Judentums seit der neutestamentlichen Zeit und das jüdische Volk als vielfältige, lebendige Glaubensgemeinschaft der Gegenwart kennenlernen. Eine solche Begegnung mit dem lebendigen und glaubenstreuen Judentum kann das christliche Selbstverständnis tiefgehend bereichern. Um diesen Segen zu fördern, bieten wir diese Richtlinien zu einem aufrichtigen und gewissenhaften Gespräch und zur Zusammenarbeit zwischen Lutheranern und Juden an.

  1. Lutheraner werden gebeten, die Initiative zur Pflege des lutherisch-jüdischen Gesprächs zu ergreifen. In vielen Fällen wird es hilfreich sein, solche Gespräche zusammen mit anderen Christen zu organisieren und durchzuführen.
  2. Versammlungen sollten gemeinsam geplant werden, um Taktgefühl und genaue Information über die jeweils andere Gruppe zu gewährleisten. Zum Beispiel müssen Lutheraner die Bedeutung des Sabbat und anderer heiliger Tage, sowie der Speisegesetze für ihre jüdischen Gesprächspartner bedenken.
  3. Weil es eine gewisse Zeit braucht, um Beziehungen und gegenseitiges Verständnis aufzubauen, sollten die Planer solcher Gespräche von vornherein eine Reihe von Begegnungen vorsehen.
  4. Auf beiden Seiten sind lebendige Glaubens- und Gottesdienstgemeinschaften beteiligt. Wegen starken Engagements und schmerzhafter Erinnerungen können starke Emotionen im Dialog eine Rolle spielen. Teilnehmer sollten bereit sein, einander zuzuhören und allen zu helfen, auf Heilung zuzugehen.
  5. Es sollte allen klar sein, daß das Ziel solcher Gespräche nicht geistlose Toleranz oder eine rein oberflächliche Übereinstimmung ist, sondern ein besseres Selbstverständnis und gegenseitige Bereicherung. Ehrliche Unterschiede werden bestehen bleiben, während zugleich weitgehende Gemeinsamkeiten entdeckt werden.
  6. Auf der Basis eines neuen Verständnisses, das durch den Dialog erreicht wird, können Pläne für die Zusammenarbeit in geistlichen und gesellschaftlichen Anliegen gemacht werden, die gegen Mächte kämpfen, die die göttliche Ebenbildlichkeit des Menschen leugnen oder entwürdigen. Zu derartigen gemeinsamen Anliegen gehören Fragen um das Verhältnis von Kirche und Staat, Religionsfreiheit und soziale Gerechtigkeit.
  7. Gemeinsame Aktivitäten können geplant werden, wie zum Beispiel die folgenden:
    1. Gegenseitige Besuche in Gotteshäusern entweder zu regulären Gottesdiensten oder anläßlich eines besonders geplanten “Offenen Hauses”, zu dem Erläuterungen und Diskussionen gehören. Solche Besuche sind sowohl für Erwachsene als auch für Jugendgruppen und Konfirmations- oder Bar/Bat Mitzwaklassen geeignet. Lutheraner sollten allerdings bedenken, daß es Christen leichter fällt, an einem typischen jüdischen Gottesdienst teilzunehmen, als Juden und Jüdinnen an einem typischen christlichen Gottesdienst, weil dieser Gebete und Segnungen enthält, die den Glauben an Jesus und die Dreifaltigkeit voraussetzen.
    2. Informelle Diskussionen in Privatwohnungen, bei denen Studienmaterial für das zwischenreligiöse Gespräch benutzt werden. Teilnehmer können aus einer Kirche und einer Synagoge oder aus mehreren Gemeinden gewonnen werden.
    3. Gemeinsame Ausflüge und Studienfahrten zu Orten, die für die jeweilige Tradition von historischer oder religiöser Bedeutung ist.
    4. Vorträge und Diskussionen über Gesprächsthemen von gegenseitigem Interesse. Dabei kann es sich um biblische, historische, theologische und ethische Themen handeln oder um interreligöses Bibelstudium für Laien oder Geistliche.
    5. Gemeinsame Freizeiten für Geistliche und/oder Laien.
  8. Die Teilnahme von Lutheranern an Bar und Bat Mitzwas, Sederfeiern (Passahmahlzeiten) in jüdischen Familien oder Synagogen und an Yom HaSchoa (Holocaust-Gedenktag) Gedenkfeiern kann großen Lern- und geistlichen Wert haben. Lutheraner sollten Juden und Jüdinnen auch zu unseren Festlichkeiten und Zeremonien willkommen heißen.
  9. Wenngleich die Teilnahme an Sederfeiern in jüdischen Familien oder Synagogen vorzuziehen ist, so sind doch sogenannte “Veranschauligungssederfeiern” in christlichen Kirchen ziemlich weit verbreitet und können pädagogischen Wert haben, indem sowohl die gemeinsamen Wurzeln als auch die bedeutsamen Unterschiede erlernt werden. Hier ist allerdings Vorsicht geboten und das Bewußtsein, daß man vielleicht den “heiligen Boden“ des andern “betrampelt”. Falls solche Veranschaulichungen durchgeführt werden, sollten sie sorgfältig und möglichst in Rücksprache mit einem örtlichen Rabbiner vorbereitet oder von ihm ausgerichtet werden.
  10. Lutheraner werden manchmal eingeladen, bei zivilen Anlässen, wie z. B. in gesetzgebenden Versammlungen oder öffentlichen Schulpromovierungen ein Gebet zu sagen. Dabei besteht immer die Gefahr, daß die Grundlagen unseres Glaubens zugunsten der amerikanischen zivilen Religion kompromittiert werden. Allerdings können solche Gelegenheiten auch genutzt werden, um unseren gemeinsamen Glauben an Gott zum Ausdruck zu bringen, wie das im Gebet geschieht, das uns Jesus selbst hinterließ.
    Bei Gelegenheiten, wo Personen mehrerer Religionen Gebete sprechen, mag es angebracht sein, einleitend darauf hinzuweisen, daß ein jeder in einer Sprache betet, die völlig seine eigene Tradition reflektiert. Unter solchen Voraussetzungen werden Lutheraner gern unsere Tradition des trinitarischen Gebets “im Namen Jesu” oder “durch Jesus Christus unseren Herrn” bezeugen.
  11. Gruppen wie “Juden für Jesus” oder “Messianische Juden” bestehen aus Personen mit jüdischem Hintergrund, die sich zum Christentum bekehrt haben und die ihr jüdisches Erbe und ihre jüdische Identität beibehalten wollen. Lutheraner sollten wissen, daß die meisten Juden und Jüdinnen solche Personen als vom Judentum Abgefallene betrachten und dem widersprechende Bemühungen als betrügerisch ansehen.
  12. Lutheraner sollten die Tiefe jüdischer Besorgnis um das Überleben der Gemeinschaft verstehen, eine Besorgnis, die nicht nur durch den Holocaust, sondern auch durch Jahrhunderte christlicher Antipathie gegenüber dem Judentum geprägt ist. Darum werden Juden und Jüdinnen entschiedene Ansichten haben über Themen wie Sicherheit des Staates Israel, Heirat mit Nichtjuden und Bekehrung, wo jüdisches Überleben als gefährdet angesehen wird. Lutheraner sind nicht verpflichtet, in diesen Angelegenheiten die gleiche Position zu beziehen, aber für uns ist es sehr wichtig, die Anliegen unseres Nächsten zu verstehen und zu respektieren.
  13. Lutherische Pastoren sollten in ihrer Predigt uhältehre klarmachen, daß das Neue Testament zwar frühe Konflikte widerspiegelt, aber nicht zur Rechtfertigung von Feindseligkeit gegen heutige Juden und Jüdinnen mißbraucht werden darf. Die Schuld am Tod Jesu sollte nicht dem Judentum oder dem jüdischen Volk angelastet werden, und Stereotypen des Judentums als “gesetzlicher Religion” sollten vermieden werden. Lutherisches Lehrmaterial sollte die gleiche Sorgfalt üben.
  14. Themen, die sich mit den christlich-jüdischen Beziehungen beschäftigen, sollten in pädagogischen Veranstaltungen bei Synodalversammlungen und beruflichen Fortbildungskonferenzen einbezogen und im lutherischen Seminarunterricht angesprochen werden. Außerdem kann um Stellungnahme von jüdischen Gelehrten und Führern für die bei Lutheranern zur Diskussion und Debatte stehenden Fragen nachgesucht werden.
  15. Der Austausch von Studenten und Professoren zwischen lutherischen und jüdischen theologischen Schulen und anderen pädagogischen Institutionen kann von großem Wert sein im Blick auf die Vorbereitung der nächsten Generation auf ein größeres interreligiöses Verständnis und bessere Zusammenarbeit.

Diese Richtlinien wollen denen, die sich in das zwischenreligiöse Gespräch einbringen wollen, die Erfahrung derer bieten, die vorangegangen sind. Sie sollen sowohl praktische Hilfestellung geben als auch die für einen wahrhaft lohnenden Weg nötige Ermunterung sein.


Für weitere Auskunft und Hilfestellung:

Department for Ecumenical Affairs

Evangelical-Lutheran Church in Amerika

8765 West Higgins Road, Chicago, Illinois 60631

Telefon (773) 380-2610 · Fax (773) 380-2977

Web: www.elca.org

 

Editorische Anmerkungen

Übersetzung: Fritz Voll nach Rücksprache mit Franklin Sherman (ELCA)



Erklärung an die jüdische Gemeinschaft

English Original