Mitteldeutsche Synode distanziert sich von Antisemitismus Luthers

4. Tagung der II. Landessynode der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland vom 16. bis 19. November 2016 in Erfurt. Beschluss der Landessynode zu „Martin Luther und die Juden – Erbe und Auftrag - Eine Verlautbarung der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland".

Martin Luther und die Juden. Erbe und Auftrag

Eine Verlautbarung der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland

Als Evangelische Kirche in Mitteldeutschland bekennen wir uns in unseren Grundbestimmungen zum christ-lich-jüdischen Gespräch, erinnern an die Mitschuld der Kirche an der Ausgrenzung und Vernichtung jüdi-schen Lebens, setzen uns für die Versöhnung mit dem jüdischen Volk ein und treten jeder Form von Anti-semitismus und Antijudaismus entgegen (KVerfEKM Art. 2,8).

Das 500-jährige Reformationsjubiläum 2017 nimmt uns im Kernland der Reformation in besonderer Weise in die Pflicht, diesem Auftrag unserer Verfassung zu entsprechen. Wir würdigen das Werk des Reformators, indem wir es dankbar und kritisch an seinem eigenen Grundsatz prüfen: „… die Schrift soll Richter sein, um nach ihr angesichts der Kirche alle Geister zu prüfen.“ (De servo arbitrio)

I. Luthers erschreckende Äußerungen

Der Wittenberger Theologe entdeckte die befreiende Botschaft von der Gnade Gottes in Jesus Christus neu. Gott rechtfertigt den sündigen Menschen ohne dessen Verdienste allein aus Glauben.

Wie die meisten Theologen seiner Zeit stand auch Luther in der Tradition judenfeindlicher Denkmuster, deren Wurzeln bereits in Texten des Neuen Testaments zutage treten, die die Abgrenzung der entstehen-den Kirche von der Synagoge bezeugen und im Mittelalter die gesellschaftliche Ächtung der Juden beför-dert hatten.

Dem gegenüber setzte Luther in seiner frühen Schrift „Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei“ (1523) einen anderen Akzent. In ihr kritisiert er das unheilvolle Verhalten der Kirche den Juden gegenüber. Sein Werben zielt darauf, dass etliche sich zum Christentum bekehren, wenn sie nur das Evangelium als heilvoll erfahren. Mit dem gelebten und gelehrten Judentum seiner Zeit hatte er weder Kontakt noch konnte er ihm aus theologischen Gründen eine eigene Existenzberechtigung zugestehen. In seinen späteren Texten schlug er jenen feindlich gesinnten Ton an. In seiner Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ (1543) fordert Luther, die Obrigkeiten sollten die Synagogen niederbrennen und die festen Häuser der Juden zerstören, ihre religiösen Bücher vernichten, ihnen religiöse Lehre und öffentlichen Gottesdienst sowie die Nennung des Namens Gottes vor christlichen Ohren verbieten; das freie Geleit solle ihnen entzogen, das Geldge-schäft untersagt, alles Vermögen konfisziert und körperliche Zwangsarbeit auferlegt werden. Am besten allerdings wäre die radikale Lösung, dass „wir geschieden sind und sie aus unserem Land vertrieben wer-den. Sie müssen in ihr Vaterland streben.“

Luthers Sprachgewalt verdichtet die in seiner Theologie begründeten judenfeindlichen Aussagen und mit-telalterliche Stereotype zu Äußerungen, die an Schärfe und Feindseligkeit ihresgleichen suchen.

II. Unheilvoller Umgang mit Luthers Erbe

Luthers Schriften über die Juden wurden nicht zu allen Zeiten rezipiert, gingen dem deutschen Protestan-tismus aber niemals verloren. Ihre Verbreitung während des nationalsozialistischen Regimes in Deutsch-land war Teil des Programms zur Vernichtung der europäischen Juden. Nicht nur die Deutschen Christen (DC), sondern auch Teile der Bekennenden Kirche rezipierten Luthers antijüdische Polemik. Der Thüringer DC-Bischof Martin Sasse jubelte angesichts der Reichspogromnacht: „Am 10. November 1938, an Luthers Geburtstag, brennen in Deutschland die Synagogen [...]. In dieser Stunde muss die Stimme des Mannes gehört werden, der als der deutsche Prophet im 16. Jahrhundert [...] der größte Antisemit seiner Zeit geworden ist, der Warner seines Volkes wider die Juden.“

Wenig später, im Mai 1939, wurde mit einem Festakt im Hotel auf der Wartburg symbolträchtig das „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ eröffnet. Elf deutsch-christlich dominierte evangelische Landeskirchen, die dieses Institut gründeten, beriefen sich auf die Tradition lutherischer Theologie und behaupteten, dass es „im Bereich des Glaubens keinen schärferen Gegensatz als den zwischen der Botschaft Jesu Christi und der jüdischen Religion der Gesetzlichkeit und der politischen Messiashoffnung“ gäbe.

Nach 1945 distanzierten sich die evangelischen Kirchen nicht deutlich von denen, die nationalsozialisti-sches und antisemitisches Gedankengut in Kirche und Wissenschaft verbreitet und mitverantwortet hatten. Im Gegenteil, einige von ihnen wirkten als theologische Lehrer weiter.

Auf dem Gebiet der heutigen EKM unterblieb eine spürbare Aufarbeitung der evangelischen Kirchen im Nationalsozialismus. Eine kritische Bearbeitung der regionalen und örtlichen Kirchengeschichte in dieser Zeit steht vielerorts noch aus.

III. Bekenntnishafte Herausforderung Wir distanzieren uns von Luthers unhaltbaren Äußerungen und seiner Feindseligkeit gegenüber den Juden. Wir distanzieren uns von allen Versuchen, eine Verwerfung Israels theologisch zu begründen. Wir distanzieren uns von allen Versuchen, Jüdinnen und Juden zu einer Konversion zu bewegen. Auch angesichts der erschreckenden Unrechtsgeschichte im 20. Jahrhundert bekennen wir Schuld und Versagen in unseren Kirchen und im deutschen Protestantismus, wo theologisch motivierte Judenfeind-schaft bis in die jüngste Zeit weitergetragen und tradiert wurde, als sei sie Teil des Evangeliums. Wir verpflichten uns, jeder Form von Antisemitismus und Antijudaismus in Kirche und Gesellschaft zu wi-dersprechen. Wir sind gewiss, dass die bleibende Erwählung Israels Ausdruck der Treue Gottes zu seinem Volk ist. Wir verpflichten uns, in theologischer Ausbildung und kirchlichem Leben das religiöse Selbstverständnis des Judentums zu achten und zu dessen Kenntnis auch in der Gesellschaft beizutragen.

Wir sind gewiss, dass es in religiösen Dingen weder Wahrheitsprivilegien noch ein Definitionsmonopol gibt. Wir distanzieren uns von jedweder theologischen Bevormundung oder Diffamierung.

Wir verpflichten uns, für Religionsfreiheit und religiöse Pluralität unserer Gesellschaft einzustehen und jeder drohenden Entrechtung, Diskriminierung und Zerstörung jüdischen Lebens und jüdischen Erbes entgegenzutreten.

Wir sind gewiss, dass das Evangelium Offenbarung des Wortes Gottes ist. Wir erkennen an, dass nach jüdischem Verständnis ebenso die jüdische Auslegung der Schrift Wort des lebendigen Gottes ist. Die Schriften der Hebräischen Bibel sind Heilige Schrift der Juden wie der Christen.

Wir verpflichten uns, den Reichtum der jüdischen Auslegungstradition in Gottesdienst, Verkündigung und Lehre wahrzunehmen und uns mit antijüdischen Interpretationen der christlichen Bibel kritisch auseinander-zusetzen.

Wir hoffen trotz der Schuld unserer Kirche auf vertrauensvolle Begegnungen mit den unter uns lebenden Jüdinnen und Juden.