Evangelische Kirche von Westfalen
Landessynode der Evang. Kirche von Westfalen 1994
1. Die Landessynode dankt dem Ausschuß "Christen und Juden" für die Ausarbeitung "Wer sind wir als Kirche Jesu Christi in der Gegenwart Israels?" [siehe Auszüge unten - Red. MD]. Sie sieht in ihr eine Weiterführung bisheriger kirchlicher Stellungnahmen zum Verhältnis von Christen und Juden sowie eine ausbaufähige Grundlage für die Weiterarbeit am Thema.
2. Die theologische Arbeit der letzten Jahrzehnte hat neue Zugänge zum Verstehen der ganzen Bibel und des Judentums eröffnet. Die Landessynode hält die Fortführung der Arbeit am Thema "Christen und Juden" auch deshalb für geboten, um einem immer noch nicht überwundenen Antijudaismus in Frömmigkeit, Kirche und Theologie und dem sich wieder zeigenden Antisemitismus in unserem Land entgegenzutreten.
3. In Aufnahme ihres Beschlusses von 1992 (Beschluß Nr. 161) bekräftigt die Landessynode die Bitte an die Kirchenleitung, das Verhältnis von Christen und Juden in einer Hauptvorlage zum Thema der gesamten Landeskirche zu machen und vorrangig in der Synode zu behandeln.
4. Für das Gespräch in der Gemeinde wird es wichtig sein, daß die Hauptvorlage einerseits die strittigen theologischen Fragen im Verhältnis von Christen und Juden anspricht, andererseits die Bedeutung ihrer Beziehung zueinander für das Selbstverständnis der Kirche herausstellt.
5. Die Landessynode empfiehlt der Kirchenleitung, eine landeskirchliche Beauftragung für die Weiterarbeit am Thema "Christen und Juden" auszusprechen. Sie bittet die Kirchenkreise, soweit noch nicht geschehen, Beauftragte für den christlich-jüdischen Dialog zu benennen.
Aus der Stellungnahme des Ausschusses "Christen und Juden"
Wer sind wir als Kirche Jesu Christi in der Gegenwart Israels? Unsere Schuld und unsere Suche nach Wegen der Umkehr. (...)
II. Was unser Bekenntnis zu Jesus sein möchte:
Lob des einen Gottes, des Gottes Israels
a) Wir bekennen als unsere Schuld, daß wir Jesus nicht das haben sein lassen, was er nach dem Neuen Testament in aller Selbstverständlichkeit war: ein Jude. Es war uns nicht genug, seine Einzigartigkeit in dem zu erkennen, was nach dem Zeugnis des Neuen Testaments Gott an ihm getan hat, indem er den Gekreuzigten von den Toten auferweckte. Darüber hinaus suchten wir Einzigartigkeit in dem, was Jesus gesagt und getan hat. Wir konnten sie nur finden, indem wir seine Worte und Taten von seiner jüdischen Bibel und Tradition lösten und sie im völligen Gegensatz zu seinen jüdischen Zeitgenossen erklärten, und behaupteten, er habe das Judentum überwunden. So haben wir ihn von seinem Volk getrennt. Indem wir uns allein mit ihm verbanden, haben wir uns von seinem Volk entfernt.
Schrittweise ließen wir undeutlich werden, daß Gott, den Jesus mit seinem jüdischen Volk als den Einen bekennt und "Vater" nennt, der Gott Israels ist und bleibt. Wir haben so getan, als seien die Liebe und das Erbarmen Gottes erst im Neuen Testament offenbart worden, während dem Alten Testament und damit dem Judentum ein richtender und vergeltender Gott eigentümlich sei.
Wir glauben, daß Gott über sein Schöpferwirken hinaus durch Kreuz und Auferweckung Jesu sich aller Welt kundgetan und barmherzig zugewandt hat. Weil die weit überwiegende Mehrheit des Judentums diesen Glauben damals nicht teilte und es auch heute nicht tut, haben wir die hier erfahrene Barmherzigkeit Gottes dazu mißbraucht, das Judentum zum Exempel des richtenden Handelns Gottes zu erklären.
b) Wir halten fest und wollen nicht mehr vergessen, daß Jesus Jude war und als Jude inmitten seines Volkes lebte und wirkte. Sein Schicksal war ein jüdisches Schicksal. Was das Neue Testament von ihm bekennt, konnte - auch wenn es von Jüdinnen und Juden mehrheitlich nicht geteilt wurde und wird - so nur im Judentum bekannt werden und bleibt bezogen auf den einen Gott, der im Alten wie im Neuen Testament zugleich als richtender und als gnädiger Gott bezeugt wird.
Unser Bekenntnis zu Jesus als dem leidenden Messias darf uns nicht mehr dazu führen, ihn von seinem Volk zu trennen. Es macht uns empfänglich, die Geschichte Israels mit ihren Leidenszeiten und den darin eingeschlossenen messianischen Hoffnungen wahrzunehmen.
c) Wir wollen die altkirchlichen Dogmen von der Trinitäts- und Zwei-Naturen-Lehre nicht dazu gebrauchen, einen "christlichen" gegen einen "jüdischen" Gott zu setzen. Deshalb wollen wir danach suchen, wie wir mit ihrer Hilfe das vielfältige Zeugnis des Neuen Testaments von der Gegenwart Gottes in Jesus besser begreifen und dem Handeln Gottes in und durch Jesus nachdenken können. Wir fragen: Wie können wir es deutlich machen, daß unser Bekenntnis zu Jesus Christus allein der Ehre Gottes, des Vaters, dient (Phil 2,11)?
(...)
IV. Worauf wir hören wollen: Schrift und Zeugnis
a) Ist der Bund Gottes mit seinem Volk Israel nicht gekündigt, so ist auch die Urkunde und das Zeugnis dieses Bundes, das von uns so genannte Alte Testament, nicht veraltet. Wir bekennen als unsere Schuld, uns die hebräische Bibel so angeeignet zu haben, daß wir sie dem Judentum entrissen und es ihm bestritten, sie legitim zu gebrauchen, und daß wir sie zugleich als Altes Testament gegenüber dem Neuen Testament abwerteten. Wir haben das Alte Testament nicht als das ältere und in Geltung bleibende verstanden, sondern bloß als Vorstufe und Vorankündigung, die nun erfüllt, übertroffen und überwunden sei.
b) Wir haben erkannt, daß unsere christliche Bibel nicht in allen Teilen uns allein gehört. Wir nehmen wahr, daß ihr erster und umfangreicherer Teil als jüdische Bibel in lebendigem Gebrauch ist. Wir machen uns bewußt, daß sie auch die Bibel Jesu und der Urgemeinde war. Für unser Bibellesen halten wir die Einheit beider Testamente fest, die beide Gott als gnädigen und richtenden Gott bezeugen. Wir haben gelernt, daß "Tora" nicht "knechtendes Gesetz" ist, sondern Gottes Weisung, die seinem Volk Leben eröffnet und gibt.
c) Um es uns gegenwärtig zu halten, daß der erste Teil unserer Bibel zuerst dem Judentum gehört, erscheint es angebracht, ihn nicht nur als "Altes Testament" zu bezeichnen, sondern mehrere Begriffe nebeneinander zu gebrauchen und diesen Gebrauch einzuüben: z.B. "Hebräische Bibel", "Jüdische Bibel", "Erstes Testament".
Da die hebräische Bibel die Bibel Jesu und der Urgemeinde war, wollen wir es lernen, das Neue Testament vom Ersten her zu lesen. Weil der Bund Gottes mit seinem Volk ungekündigt ist, hat die jüdische Bibel einen Eigenwert, den wir nicht christlich vereinnahmen können und dürfen. Wir wollen ihn wahrnehmen und respektieren und bei unserem Lesen des Alten Testaments zugleich auf die jüdische Auslegung in Geschichte und Gegenwart hören.
Eine besondere Schwierigkeit liegt darin, wie wir als Kirche aus den Völkern auf die Tora hören können. Wie kann es "Tora für Christen" geben, ohne daß sie durch eigenmächtigen Zugriff entstellt wird? Welche Hilfe bieten uns die noachidischen Gebote? Ist eine Anknüpfung an urchristliche Versuche, Tora für Menschen aus den Völkern verbindlich zu machen (Apg 15, 20.29), möglich und geboten?