Im Ökumenischen Rat der Kirchen droht ein Vergessen des Judentums

Deutscher Koordinierungsrat dringt auf Vertiefung des Dialogs.

Die im Spätsommer 2022 in Karlsruhe stattgefundene Vollversammlung der im Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) verbundenen über 350 Mitgliedskirchen weltweit war eine sehr eindrückliche Versammlung intensiver Begegnungen von christlichen Traditionen aus höchst unterschiedlichen Kulturen und Sprachen aus aller Welt. Ein bewegendes Singen und Beten, eine kunstvolle Mischung unterschiedlicher liturgischer Traditionen, ein engagiertes Diskutieren und Streiten, ein Aufeinander-Hören - so gut es ging. Als Gäste hatte der ÖRK wieder Vertreter:innen aus unterschiedlichen Religionen eingeladen, auch aus der jüdischen Gemeinschaft, und sie in Begegnungen und Veranstaltungen eingebunden.

Aus Sicht des christlich-jüdischen Dialogs fällt die Bilanz der Konferenz gleichwohl sehr ernüchternd aus. Zu den zentralen Themen der Versammlung zählten unter anderem die christliche Einheit und der Nahostkonflikt.

Christliche Einheit im Vergessen des Judentums?

Die Förderung der Einheit unter den christlichen Kirchen, das bessere Verständnis der Unterschiede zwischen ihnen und die Ermöglichung von Begegnung, Gesprächen und vertiefter Zusammenarbeit im Angesicht dieser Unterschiede waren von Anfang an Ziele des Ökumenischen Rates der Kirchen. Allerdings hat dabei bereits die Gründungsversammlung des ÖRK 1948 erklärt, dass die Kirche „nach göttlichem Plan“ in einer „besonderen Beziehung“ zum Judentum steht. Das Verständnis dieser „besonderen Beziehung“ wurde in der Arbeit unterschiedlicher ÖRK-Gremien weiter vertieft und unter anderem in der Erklärung des ÖRK-Zentralausschusses von 1992 „Der christlich-jüdische Dialog nach Canberra `91“ den Mitgliedskirchen zur weiteren Beratung mit auf den Weg gegeben. Seit aber im Zuge der Umstrukturierung des ÖRK nach der Vollversammlung in Canberra 1991 das Beratungsgremium für christlich-jüdische Beziehungen („Consultation on the Church and the Jewish People“) aufgelöst und der christlich-jüdische Dialog in die interreligiöse Programmarbeit sowie in die theologischen Beratungen des ÖRK-Gremiums „Glaube und Kirchenverfassung“ überführt wurde, droht im ÖRK ein Vergessen der „besonderen Beziehung“ zum Judentum. Schon in dem Dokument von 2013 „Die Kirche. Auf dem Weg zu einer gemeinsamen Vision“ fand nach langen Beratungen nur noch ein kleiner Hinweis auf diese Verbundenheit der Kirche mit dem Judentum einen Niederschlag im Text.

Nun hat in Karlsruhe die weltweite Versammlung der Kirchen ein Dokument zur Einheit der Kirchen angenommen, in der das Judentum in keinem einzigen Satz mehr erwähnt wird. In der Selbstvergewisserung der Kirchen auf dem Weg zur weiteren Einheit ist das Judentum in Vergessenheit geraten. Das Dokument offenbart einen schweren Rückfall hinter den in den 80er und 90er Jahren erreichten Stand der christlich-jüdischen Beziehungen im ÖRK.

Der Deutsche Koordinierungsrat ruft den neu gewählten ÖRK-Zentralausschuss dringlich auf, wieder ein Beratungskomitee für die Fragen der Beziehungen der Kirchen zum Judentum einzurichten und dafür zu sorgen, dass die bisher erreichten Einsichten des christlich-jüdischen Dialogs dem Vergessen entzogen und in künftige Beratungen über das Verständnis von Kirche, über die Einheit der Kirchen und über die Beziehungen zum Staat Israel einbezogen werden.

ÖRK und Israel

Die Debatte um die Haltung der ÖRK-Mitgliedskirchen zum Nahen Osten war bereits im Vorfeld der ÖRK-Versammlung entbrannt, als die Ankündigung eines Antrags aus Südafrika publik wurde, Israels Politik als „Apartheid“ zu brandmarken. In der Debatte der Delegierten zeigten sich zwei deutliche Positionierungen. Vor allem aus den USA wurde der Antrag, Israel als „Apartheid“-Staat abzuurteilen, entschieden unterstützt, insbesondere von Vertreter:innen der Presbyterianischen Kirche und der „United Church of Christ“. Die deutsche Delegation, insbesondere in Gestalt der EKD-Auslandsbischöfin Petra Bosse-Huber, trat vehement gegen die Verwendung des „Apartheid“-Begriffs ein. Eine solche Formulierung würde nur noch Öl in das Feuer des ohnehin hitzigen Konflikts gießen. Auch Vertreter des ökumenischen Patriarchats und andere lehnten die Verwendung des Begriffs ab.

Angesichts dieser Debattenlage urteilte das „Public Issues Committee“, dass in der Frage der Verwendung der Formulierung „Apartheid“ keine Einigung der Versammlung erreicht werden könnte und dass daher diese Uneinigkeit als Ergebnis der Debatte zu konstatieren sei: „Wir sind in dieser Frage nicht einer Meinung“. Der ÖRK macht sich die Aburteilung Israels als „Apartheid“-Staat nicht zu eigen! Damit wurde ein Eklat verhindert, der eine tiefe Beschädigung in den Beziehungen zu der jüdischen Gemeinschaft hätte zur Folge haben können.

Die Debatte um das „Apartheid“-Thema verdeckte allerdings, dass der Text zum Nahen Osten insgesamt höchst problematisch und sehr einseitig ist. Er präsentiert vor allem eine Negativliste von Problemen, die man in Israel allerdings tatsächlich anfindet: Besatzungsrealität, Ausbau von Siedlungen, Menschenrechtsverletzungen, Enteignungen, Gewalt. Die zentrale Bedeutung Israels für das Judentum weltweit findet dagegen keinerlei Erwähnung, ebenso wenig die Leistungen Israels etwa in der Ausbildung und der Ermöglichung beruflicher Chancen auch für israelische Palästinenser:innen.

In dem Papier wird eine Verbundenheit der Kirchen zum Nahen Osten mit einem Verweis auf Jesus Christus begründet, der in dieser Region „geboren, gekreuzigt und auferweckt wurde“. Einen Hinweis allerdings darauf, dass Jesus im damaligen Land Israel als Jude „geboren, gekreuzigt und auferweckt wurde“, findet sich an keiner Stelle.

Unter dem Titel „Auf der Suche nach Gerechtigkeit und Frieden für alle im Nahen Osten“ kommen außer Israel andere Länder und Akteure kaum oder gar nicht vor. Der furchtbare Krieg in Syrien wird gestreift, aber nirgends vertieft, der Libanon kommt in einem Halbsatz vor, der Einfluss des Iran bleibt völlig unerwähnt. Jordanien, Ägypten und die Türkei sind keiner Erwähnung wert.

Das Ende der israelischen Besetzung der Westbank und die Aufhebung der Blockade des Gaza-Streifens werden gefordert, ohne einen Hinweis darauf zu geben, wie denn aus Sicht des ÖRK die Umsetzung solcher Forderungen realistisch umgesetzt werden kann.

Einseitigkeit überwinden

Das Papier stellt Israel als Hauptverursacher des israelisch-palästinensischen Konflikts dar und schiebt vor allem Israel auch die Verantwortung für die Lösung des Konflikts zu. In dieser Fokussierung und der Verdrängung anderer Akteure zeigt sich erneut eine höchst irritierende Einseitigkeit des ÖRK in seiner Wahrnehmung des Nahen Osten.
Der Deutsche Koordinierungsrat ruft den neu gewählten ÖRK-Zentralausschuss dazu auf, diese Einseitigkeit zu überwinden und nach Wegen zu suchen, wie im Kontext des ÖRK das Reden und Urteilen über Israel hin zu einem Dialog mit Israelinnen und Israelis verändert werden kann.

Bad Nauheim, 15. September 2022
Das Präsidium des Deutschen Koordinierungsrates

Editorische Anmerkungen

Quelle: Deutscher Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit.