„Gott wirkt weiterhin im Volk des alten Bundes“[1]

Eine Antwort der Deutschen Bischofskonferenz auf die Erklärungen aus dem Orthodoxen Judentum zum Verhältnis von Judentum und Katholischer Kirche

„Ein fruchtbarer Moment im Dialog“ (Papst Franziskus)

Am 31. August 2017 überreichten Vertreter der Europäischen Rabbinerkonferenz (CER), des Rabbinischen Rats von Amerika (RCA) und des Israelischen Oberrabbinats Papst Franziskus die Erklärung Between Jerusalem and Rome (BJR): „Zwischen Jerusalem und Rom. Reflexionen zu 50 Jahre Nostra aetate[2]. Sie stellt die erste Positionsbestimmung rabbinischer Vereinigungen und Instanzen orthodoxer Rabbiner zum Dialog mit dem Christentum und der katholischen Kirche dar. Schon aus diesem Grund kommt dem Dokument ein einzigartiger Rang zu, was in seinen inhaltlichen Ausführungen bestätigt wird. „Ein fruchtbarer Moment im Dialog“ ist in den Worten von Papst Franziskus damit erreicht. Zuvor hatte bereits eine Gruppe orthodoxer Rabbiner am 3. Dezember 2015 unter dem Titel Den Willen unseres Vaters im Himmel tun: Hin zu einer Partnerschaft zwischen Juden und Christen[3] eine Erklärung zum Christentum veröffentlicht.

Aus christlicher Sicht kann man von einem günstigen Zeitpunkt in den Beziehungen zwischen Judentum und katholischer Kirche sprechen. Was für die katholische Kirche mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil begann, findet nun eine Anerkennung durch repräsentative Instanzen des orthodoxen Judentums. Ihr kommt ein theologisches Gewicht zu, weil es in der Wahrnehmung gemeinsamer Verantwortung für die Welt auch darum geht, „unser gegenseitiges Verständnis zu fördern“ (BJR 13). Dieses Ziel verfolgte bereits die Erklärung Dabru emet („Redet Wahrheit“) aus dem Jahr 2000, die mehrheitlich von liberalen und konservativen Rabbinern und jüdischen Wissenschaftlern unterzeichnet und veröffentlicht wurde.

Mit großer Dankbarkeit nehmen die deutschen Bischöfe diese Entwicklung wahr. Angesichts der jahrhundertelangen Existenz auch eines christlichen Antijudaismus, dessen Erbe uns immer noch mit Schmerz und Scham erfüllt, sehen wir in den freundschaftlichen Beziehungen zum Judentum, wie sie in den vergangenen Jahrzehnten gewachsen sind, einen Durchbruch zu einer gemeinsamen friedlichen Zukunft. Diese Entwicklung bringt unsere Gemeinschaften im Glauben an Gott näher.

Die katholische Kirche nimmt im „Kampf gegen die neue Barbarei“ (BJR 13) eines religiösen Fanatismus ein Zeichen der Zeit wahr. Einspruch und Widerstand gegen Gewalt im Namen Gottes und das unzweideutige Bekenntnis zur Religionsfreiheit verbindet Juden und Christen politisch, aber auch religiös. In einer Welt, in der nicht selten soziale und politische Konflikte religiös motiviert oder verstärkt werden, können der Dialog und die Zusammenarbeit von Juden und Christen in Deutschland und anderen Ländern ein Modell dafür sein, wie ein friedliches, von gegenseitigem Respekt und Verständnis bestimmtes Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Erfahrungen, Überzeugungen und Lebensweisen gelingen kann.

Für die katholische Kirche besitzt der Dialog mit ihren jüdischen Glaubensgeschwistern unbedingte theologische Dignität. Denn ohne diesen Dialog kann sie ihre Sendung nicht erfüllen. „Die Kirche … betrachtet das Volk des Bundes und seinen Glauben als eine heilige Wurzel der eigenen christlichen Identität (vgl. Röm 11,16–18).“[4] Das gilt nicht nur in rückblickender Perspektive, vielmehr „wirkt Gott weiterhin im Volk des alten Bundes“ (EG 249). Darin erkennt die katholische Kirche eine offenbarungstheologische Voraussetzung ihres Dialogs mit dem Judentum.

„Zwischen Jerusalem und Rom“

Beeindruckt sind wir von der jüdischen Wertschätzung der Konzilserklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen Nostra aetate (NA), die 50 Jahre nach ihrer Verabschiedung den äußeren Anlass zur Entstehung des Dokuments Zwischen Jerusalem und Rom gegeben hat. Die Punkte, die die orthodoxen Rabbiner im Rückblick hervorheben (vgl. BJR 6–8), bilden die normative Grundlage der Beziehungen zwischen Juden und Christen:

  • den „Prozess der Selbstprüfung“, der „die kirchliche Lehre von jedweder Feindseligkeit gegenüber Juden bereinigt“;
  • das Bekenntnis dazu, dass man die Verantwortung für die Kreuzigung Jesu „weder allen damals lebenden Juden ohne Unterschied noch den heutigen Juden zur Last legen“ dürfe (NA 4);
  • die theologische Bekräftigung der bleibenden Erwählung Israels;
  • die Anerkennung des Staates Israel;
  • die Verurteilung jeder Form von Antisemitismus.

Die sehr differenzierten Ausführungen zu den katholisch-jüdischen Beziehungen in der Geschichte und die wertschätzende Aufmerksamkeit für die Entwicklungen seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, die von den Päpsten und Bischöfen, von den Gemeinden wie von Theologinnen und Theologen getragen und gefördert wurden, fordern gerade die katholische Kirche in Deutschland mit ihrer besonderen historischen Verantwortung dazu auf, den Dialog mit dem Judentum weiterhin engagiert fortzuführen und dabei die Impulse und Positionierungen aus dem orthodoxen Judentum aufzunehmen.

Das gilt in besonderer Weise für die theologische Perspektive, mit der die Erklärung BJR die Entwicklungen der katholisch-jüdischen Beziehungen seit dem Konzil erschließt. In den biblischen Schöpfungsgeschichten öffnet sich der Blick „auf eine universale, undifferenzierte Menschheit“ (BJR 3), die alle Menschen umfasst. Diese in Gott begründete Verbundenheit gilt es, angesichts der Herausforderungen der Globalisierung in Erinnerung zu rufen. Die katholische Kirche weiß sich mit dem Judentum in dem Bemühen verbunden, „gemeinsam die Welt zu verändern: Gottes Wegen zu folgen, die Hungrigen zu speisen, die Nackten zu kleiden, Witwen und Waisen Freude zu bringen, den Verfolgten und Unterdrückten Zuflucht zu bieten …“ (BJR 13 f.).

Die deutschen Bischöfe nehmen dankbar zur Kenntnis, dass trotz der theologischen Differenzen zwischen Judentum und Christentum Christen als „Partner, enge Verbündete und Brüder bei unserer gemeinsamen Suche nach einer besseren Welt“ (BJR 12) bezeichnet werden. Dies wird durch die Erinnerung daran unterstrichen, dass „einige der höchsten Autoritäten des Judentums erklärt (haben), dass den Christen ein besonderer Status gebührt, da sie den Schöpfer des Himmels und der Erde anbeten, der das Volk Israel aus ägyptischer Knechtschaft befreite und dessen Vorsehung der gesamten Schöpfung gilt“ (BJR 11). Ebenso betonen die Rabbiner, dass Katholiken und Juden „den gemeinsamen Glauben an den göttlichen Ursprung der Tora“ (BJR 13) und an die Erlösung der Welt teilen.

Israel lebt aus dem Bund mit Gott und gibt Gott Raum, indem es nach seinen Geboten lebt. Das führt Juden dazu, Verantwortung für die ganze Menschheit wahrzunehmen, selbst wenn jüdisches Leben immer wieder verfolgt wurde. In Israels Bundestreue erweist sich Gott als Gott des Lebens. So erkennt die katholische Kirche den „doppelten Auftrag“ des Judentums an: „die Gründung des Volkes Israel, das im heiligen, gelobten Land Israel eine vorbildliche Gesellschaft erben und errichten sollte, während es gleichzeitig als Quelle des Lichts für die gesamte Menschheit dienen sollte“ (BJR 3).

Mit großer Zustimmung nehmen die deutschen Bischöfe die Kundgebungen der Rabbiner im letzten Teil der Erklärung BJR zur Kenntnis. Wir sind dankbar, dass die Rabbiner auf die schwierige Lage der Christen im Mittleren Osten und anderen Teilen der Welt aufmerksam machen, deren Religionsfreiheit stark eingeschränkt ist, die sozial diskriminiert und nicht selten offen verfolgt werden. Der Verurteilung „jede(r) Gewalt gegen Personen aufgrund ihres Glaubens oder ihrer Religion“ sowie „alle(r) Akte von Vandalismus, mutwilliger Zerstörung und/oder Entweihung von heiligen Stätten aller Religionen“ (BJR 13) stimmen wir vorbehaltlos zu und versichern unseren jüdischen Partnern, dass auch wir uns weiterhin gegen jede Form von Antisemitismus und für die Förderung jüdischen Lebens einsetzen werden – eingedenk des Wortes des Propheten Sacharja: „Wer euch antastet, tastet meinen Augapfel an.“ (Sach 2,12)

„Den Willen unseres Vaters im Himmel tun“

Mit Anerkennung greifen die deutschen Bischöfe auch die Erklärung einer Gruppe orthodoxer Rabbiner auf, die am 3. Dezember 2015 unter dem Titel Den Willen unseres Vaters im Himmel tun: Hin zu einer Partnerschaft zwischen Juden und Christen veröffentlicht wurde. Sie ist als Reaktion auf das Dokument „Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt“ (Röm 11,29) entstanden, das die Päpstliche Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum im selben Jahr vorgelegt hat.[5] Diese Erklärung wurde von einer Gruppe von orthodoxen Rabbinern verfasst, die seit vielen Jahren und auf unterschiedlichen Ebenen mit christlichen Vertretern im Gespräch sind. In der zeitlichen Konstellation der drei Dokumente 50 Jahre nach Nostra aetate erweist sich die Lebendigkeit, Ernsthaftigkeit und Produktivität des jüdisch-katholischen Dialogs.

Ausdrücklich möchten die Unterzeichner „den Willen unseres Vaters im Himmel tun, indem wir die uns angebotene Hand unserer christlichen Brüder und Schwestern ergreifen. Juden und Christen müssen als Partner zusammenarbeiten, um den moralischen Herausforderungen unserer Zeit zu begegnen“ (Einleitung). Der Dialog erhält damit eine theologische Begründung: Wenn Juden und Christen miteinander sprechen und gemeinsam „als Partner bei der Welterlösung“ arbeiten, folgen sie dem Willen Gottes. Mit den Verfassern sieht auch die katholische Kirche „eine gemeinsame Aufgabe in der Verheißung des Bundes, die Welt unter der Herrschaft des Allmächtigen zu verbessern, sodass die gesamte Menschheit Seinen Namen anruft und Laster von der Erde verbannt werden“ (Nr. 4).

Dankbar nehmen wir wahr, dass in den Augen der Autoren „das Christentum weder ein Zufall noch ein Irrtum ist, sondern göttlich gewollt und ein Geschenk an die Völker“ (Nr. 3). Ohne die grundlegenden theologischen Differenzen zu verschweigen, betonen die Rabbiner den Vorrang der Gemeinsamkeiten: „den ethischen Monotheismus Abrahams; die Beziehung zum Einen Schöpfer des Himmels und der Erde, der uns alle liebt und umsorgt; die jüdische Heilige Schrift; den Glauben an eine verbindliche Tradition; die Werte des Lebens, der Familie, mitfühlender Rechtschaffenheit, der Gerechtigkeit, unveräußerlicher Freiheit, universeller Liebe und des letztendlichen Weltfriedens“ (Nr. 5).

Weiterführende Überlegungen

Die deutschen Bischöfe befürworten einen umfassenden Dialog mit dem Judentum. Dazu gehört aus katholischer Sicht auch die Frage, was „die unüberbrückbaren theologischen Differenzen“ (BJR 12) und die als „tiefgehend“ (BJR 10) und „wesentlich“ (BJR 11) bezeichneten Unterschiede in der jeweiligen Lehre für beide Seiten bedeuten. Sicherlich bleiben „Bedeutung und Wichtigkeit“ der Glaubenslehre den „internen Erörterungen der jeweiligen Glaubensgemeinschaft“ vorbehalten (BJR 11). Aber die Suche nach einem besseren Verständnis des anderen hält dazu an, theologischen Reflexionen einen Ort im Dialogprozess zu geben, nicht zuletzt um Vorurteile und Missverständnisse zu klären, aber auch um Gemeinsames und Trennendes zu benennen und zu verstehen. Dabei sieht sich auch die katholische Kirche aufgefordert, genauer zu klären, was sie angesichts der Bedeutung der Person und der Sendung Jesu Christi unter einem theologischen Dialog mit dem Judentum versteht.

Als Voraussetzung eines solchen Dialogs muss unmissverständlich festgehalten werden, dass die Kirche keine Judenmission betreibt und auch keine Interessen dieser Art verfolgt. Das entspricht ihrer Lehrpraxis. So spricht die Erklärung der Päpstlichen Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum, „Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt“ (Röm 11,29), von einer „prinzipielle(n) Ablehnung einer institutionellen Judenmission“ (Nr. 40). Die Erklärung BJR erkennt dies ausdrücklich an. Umso mehr ist aus katholischer Sicht eine vertiefte theologische Begründung für diesen Perspektivwechsel gefordert. Sie ist ein wichtiger Aspekt der produktiven Fortschreibung von Nostra aetate Nr. 4 und gehört zur lebendigen Entwicklung der kirchlichen Tradition im Gespräch mit dem Judentum. Auch die Erklärung BJR spricht von einer Neubewertung (Reevaluation) der Beziehungen zum Christentum.

Zum christlich-jüdischen Dialog gehört die Pflege einer Kultur der Erinnerung an die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden in der nationalsozialistischen Zeit. Schon seit vielen Jahren arbeiten Christen und Juden in sozialen, pädagogischen und wissenschaftlichen Projekten zusammen. Das gemeinsame Engagement in der Flüchtlingshilfe, die Beteiligung am Mitzvah Day, diverse Projekte in Schulen oder die wissenschaftlichen Kooperationen unter Beteiligung katholischer Theologinnen und Theologen sind nur einige Beispiele. Erwähnung verdient auch die fruchtbare Arbeit der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit und des Gesprächskreises „Juden und Christen“ beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK). Dank dieser vielfältigen Initiativen ist in Deutschland eine Kultur des Dialogs zwischen Juden und Christen entstanden, die wir auch zukünftig nach unseren Möglichkeiten unterstützen wollen.

Diesen Dialog begreift die katholische Kirche in Deutschland als Auftrag und als Ausdruck des Willens unseres Vaters im Himmel. Das Geheimnis des Bundes, in dem Israel und Kirche stehen, setzt auch voraus, in theologischer Demut die Grenzen unseres Verstehens anzuerkennen und alles von Gott zu erwarten. Der Gott, der sich offenbart, bleibt der Gott, den wir zugleich nur in seiner Verborgenheit, als bleibendes Geheimnis erfahren. Dazu gehört, mit den Propheten Israels, mit dem Juden Paulus als Apostel Jesu Christi, also in grundlegender Verbundenheit mit der Tradition Israels sowie mit den jüdischen Glaubensgeschwistern heute den Tag zu erwarten, „der nur Gott bekannt ist, an dem alle Völker mit einer Stimme den Herrn anrufen und ihm ‚Schulter an Schulter dienen‘ (Zef 3,9)“ (NA 4). Diese Erfahrung gibt einer tiefen geistlichen Erfahrung Raum. Juden und Christen teilen sie in einer Welt, der Gott oft genug fremd, unbekannt oder auch inexistent erscheint. Aber gerade hier zeigt sich eine Gemeinsamkeit in der Zuversicht, wie sie Ps 40,17 aussagt: „Alle, die dich suchen, frohlocken; sie mögen sich freuen in dir. Die dein Heil lieben, sollen immer sagen: Groß ist Gott, der Herr.“

Würzburg, den 29. Januar 2019












[1] Papst Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute (24. November 2013), 249: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.): Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 194 (Bonn 2013), S. 168. Im Text zitiert als EG.

[2] Vollständige wortwörtliche deutsche Fassung, hg. vom Rabbinat der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Wien 2017. Im Text zitiert als BJR; die Seitenangabe bezieht sich auf diese Ausgabe.

[3] cjcuc.org/2015/12/03/orthodoxe-rabbinische-erklarung-zum-christentum/.

[4] Papst Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute (24. November 2013), 247: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.): Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 194 (Bonn 2013), S. 168.

[5] Reflexionen zu theologischen Fragestellungen in den katholisch-jüdischen Beziehungen aus Anlass des 50-jährigen Jubiläums von Nostra aetate (10. Dezember 2015): Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.): Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 203 (Bonn 2016).

Editorische Anmerkungen

Quelle: Deutsche Bischofskonferenz.