Erklärung zur Begegnung zwischen lutherischen Christen und Juden

8. Mai 1990; Wir wenden uns mit den folgenden Aussagen als evangelisch-lutherische Christen an die Christen in- und außerhalb der unter uns vertretenen Kirchen und hoffen, daß sie zur Erneuerung des Verhältnisses zwischen Christen und Juden beitragen.

Lutherische Europäische Kommission Kirche und Judentum (LEKKJ)

Erklärung zur Begegnung zwischen

lutherischen Christen und Juden

8. Mai 1990

Uns ist erneut bewußt geworden, wie sehr theologische Aussagen – damals wie heute – sich im Raum der Gesellschaft und der Politik auswirken und wie groß die Verantwortung ist, die die Kirche hier trägt. Die Aufarbeitung der Geschichte, insbesondere der Theologiegeschichte, ist unerläßlich für die Gewinnung einer Glaubwürdigkeit der Kirche und für die Neugestaltung des Zusammenlebens in Europa.

Wir wenden uns mit den folgenden Aussagen als evangelisch-lutherische Christen an die Christen in- und außerhalb der unter uns vertretenen Kirchen und hoffen, daß sie zur Erneuerung des Verhältnisses zwischen Christen und Juden beitragen.

I. Grundlegendes

  1. Weil Jesus aus dem jüdischen Volk kommt und sich von ihm nicht losgesagt hat und weil das Alte Testament die Bibel Jesu und der Urkirche war, sind Christen durch ihr Bekenntnis zu Jesus Christus in ein einzigartiges Verhältnis zu Juden und ihrem Glauben gebracht, das sich vom Verhältnis zu anderen Religionen unterscheidet.
  2. Dieses Verhältnis zwischen Christen und Juden wurzelt in dem Zeugnis von dem einen Gott und seiner Bundestreue, wie es in den Büchern der Heiligen Schrift Alten Testaments, die wir gemeinsam haben, überliefert ist. In ihnen lesen wir dieselben Worte, wenngleich wir sie in unterschiedlicher Weise auslegen und weiterführen, im Judentum auf dem Weg des Talmuds, im Christentum auf dem Weg des Neuen Testaments.
  3. Gott hat Israel zu seinem Volk erwählt. Diese Aussage ist nicht aufgehoben und wird in dem neutestamentlichen Bekenntnis zu Jesus als dem gekommenen Messias erneuert und bestätigt. Israel wird nicht durch die Kirche ersetzt.
  4. Wir glauben, daß Gott in seiner Treue sein Volk Israel durch die Geschichte geführt und es durch die jüdische Glaubenstradition als Volk bewahrt hat. Wir sehen in der Heimkehr in das Land der Väter ein Zeichen der Bundestreue Gottes.
  5. Die christliche Gemeinde ist im jüdischen Volk entstanden und bedarf daher zur Bestimmung ihrer Identität einer Beziehung zum Judentum. Seither gehören zur Kirche sowohl Menschen aus dem jüdischen Volk als auch solche, die aus den anderen Völkern kommen. Judenchristen können dazu beitragen, daß die Kirche sich ihrer jüdischen Wurzeln bewußt wird und bleibt. Sie können einen besonderen Beitrag zum Gespräch zwischen Juden und Christen leisten.

II. Die Schoa (Holocaust) und Folgen

  1. Die Schoa (der Holocaust) und die Geschichte der Judenfeindschaft insgesamt stellen eine tiefgreifende Herausforderung an christliche Lehre und Praxis dar. Schon bei der Auslegung der Heiligen Schrift müssen antijüdische Motive und Interpretationsmuster aufgedeckt und in Unterricht und Verkündigung überwunden werden. Obwohl sich Christentum und Judentum historisch gesehen in gegenseitigen Konflikten entwickelt haben, gehört der Antijudaismus nicht zum Dogma der Kirche und darf nicht Bestandteil kirchlicher Lehre und Praxis sein.
  2. Christlicher Triumphalismus, der das Verhältnis der Christen zu den Juden lange Zeit hindurch belastet hat, ist mit einer ernsthaften Begegnung und einem echten Zeugnis nicht vereinbar. Darum ist hier ein Umdenken der Kirchen in Theologie und Verhalten notwendig. Unter Triumphalismus verstehen wir ein Überlegenheitsbewußtsein, bei dem die Ideale der eigenen religiösen Tradition mit der historischen Wirklichkeit der anderen verglichen werden. Christlicher Triumphalismus - Ausdruck einer theologia gloriae, die vom Kreuz Christi absieht - verfälscht Aussagen über Jesus zu Aussagen über die Wirklichkeit der Kirche. Dabei wird das Judentum der Zeit Jesu als dunkle Folie gezeichnet, auf deren Hintergrund die Kirche damals wie heute um so heller erstrahlen kann. Diese Haltung hat oft zur Rechtfertigung von Unterdrückung und Verfolgung gedient.
  3. Um ein neues Verhältnis zu den Juden zu gewinnen, müssen wir als Kirche lernen, Buße zu tun.
  4. Juden und Christen fragen nach Heil und Erlösung und finden unterschiedliche Antworten. Nach dem Neuen Testament ist das Heil in Jesus Christus eröffnet, der als der Heilsweg für Juden und Heiden verkündet wird. Umso mehr sollen wir Christen unseren jüdischen Gesprächspartnern mit Demut, Liebe und Respekt begegnen und ihre Glaubensaussage über Versöhnung und Erlösung hören und ernst nehmen. Das letzte Urteil über die Menschen steht bei Gott und bleibt sein Geheimnis.

III. Formen der Begegnung

  1. Das Verhältnis der Juden zu den Christen ist seit vielen Jahrhunderten dadurch belastet, daß die Juden sich als meist kleine Minderheit einer großen Mehrheit von Christen gegenüber sahen. Unter dieser Situation haben Juden auf verschiedene Weise zu leiden gehabt. Sie sind daher mit Recht sehr empfindlich gegenüber jeder Art von Machtausübung durch Christen. Wir bekräftigen unsere Überzeugung, daß insbesondere in der Begegnung von Christen und Juden jegliche Art von Zwang oder Ausnützung von Notlagen zu unterbleiben hat und daß diese auch nicht durch das Ziel zu rechtfertigen sind, Menschen zum Glaubenswechsel zu bewegen. Organisationen, die sich solcher Methoden (Proselytismus) bedienen, darf es unter uns Christen nicht geben.
  2. Unerläßliche Voraussetzung für unsere Begegnung ist die Bereitschaft der Christen, auf das Zeugnis der Juden zu hören, von ihrer Glaubens- und Lebenserfahrung zu lernen und dadurch neue Seiten der biblischen Überlieferung wahrzunehmen. Juden und Christen haben sich in der Begegnung viel zu sagen und können miteinander Gottes Wirklichkeit neu entdecken.
  3. Solche Begegnungen fordern aber auch das eigene christliche Zeugnis heraus. Dies wird jedoch nicht nur in Worten bestehen, sondern bewährt sich in der Praxis des Umgangs miteinander. Christen müssen sich dessen bewußt bleiben, daß ihre Geschichte der Judenfeindschaft oft genug gegen ihre Worte zeugt. Die Begegnung schließt für beide Partner die Möglichkeit ein, von dem Zeugnis des anderen überzeugt zu werden.
  4. Jede Begegnung zwischen Christen und Juden erfordert die Einsicht, daß Gott selbst der Sendende/Missionierende ist. Diese Einsicht in die missio dei hilft zum Verständnis der eigenen Möglichkeiten und Aufgaben: Gott ermächtigt zum gegenseitigen Bezeugen des Glaubens im Vertrauen auf das freie Wirken des Heiligen Geistes; denn er entscheidet über die Wirkung des Glaubenszeugnisses und über das ewige Heil aller Menschen. Er befreit von dem Zwang, alles selbst bewirken zu müssen. Aus dieser Einsicht heraus sind Christen verpflichtet, ihr Zeugnis und ihren Dienst in Achtung vor der Überzeugung und dem Glauben der jüdischen Gesprächspartner wahrzunehmen.
  5. Kirchen und Organisationen, die einer Begegnung in dieser Weise aufgeschlossen sind, dienen einer Erneuerung des Verhältnisses zwischen Christen und Juden.

IV. Folgerungen

  1. Wir hoffen, daß auf der Grundlage dieser Aussagen eine Klärung und Intensivierung der Begegnungen zwischen Lutheranern und Juden erreicht werden kann, und erklären uns bereit, im Rahmen der Möglichkeiten unserer Kommission daran mitzuarbeiten.
    Dafür ist es unerläßlich
    • die Entstehung der Spannungen zwischen Christen und Juden, wie sie sich schon in der Heiligen Schrift ankündigen, historisch-kritisch zu durchdenken.
    • Idealvorstellungen auf der einen Seite nicht mit Alltagswirklichkeit der anderen Seite zu vergleichen.
    • eine gemeinsame Sprachebene zu finden. Das Gespräch zwischen Juden und Christen ist oft dadurch erschwert, daß dieselben biblischen Begriffe eine unterschiedliche Entwicklung genommen haben. Um Mißverständnisse zu vermeiden, ist es notwendig, bei der Klärung der Begrifflichkeit auch auf beschreibende, instrumentale Sprache zurückzugreifen.
    • bei der Interpretation zeitgeschichtlicher, gegenwärtiger Ereignisse und Dokumente den geschichtlichen und sonstigen Kontext zu beachten.
  2. Wir dringen darauf, daß in den lutherischen Kirchen nicht nur die antijüdischen Ausfälle des späten Luther mit ihren verheerenden Folgen aufgearbeitet werden im Sinne der Erklärung von Stockholm 19831, sondern auch Grundschemata lutherischer Theologie und Lehre wie "Gesetz und Evangelium", "Glaube und Werke", "Verheißung und Erfüllung", "Zwei Regimente/Zwei Reiche" im Blick auf ihre Auswirkung auf das christlich-jüdische Verhältnis neu überdacht werden. Dafür kann gemeinsame theologische Arbeit mit Juden besonders in der Bibelauslegung wichtig werden.
  3. Wir fordern dazu auf, Christen Kenntnisse vom Judentum zu vermitteln, um ihnen zu einer positiven, unverzerrten Einstellung zum heutigen Judentum zu verhelfen und dadurch den säkular begründeten Antisemitismus ebenso wie den in den Kirchen überkommenen Antijudaismus zu überwinden.
  4. Wir bitten darum, das jüdische Volk, sein Heil und seinen Frieden in die Fürbitte einzuschließen und wissen uns verbunden mit allen, die in dem Staat Israel ihre Heimat, Zuflucht und Hoffnung sehen.

1) Dokumentiert in: Jean Halpérin/Arne Sovik (Ed.), Luther, Lutheranism and the Jews. A record of the Second Consultation between Representatives of the International Jewish Committee for Interreligious Consultations and the Lutheran World Federation held in Stockholm, Sweden, 11-13 July 1983, LWF-Studies, Genf 1984 (deutsch in: Friede über Israel 66, 1983, H. 4, 178-181).