Erklärung zum Kairos Document (2009)

Erklärung über das Kairos Document (2009),

angenommen durch das Board of Trustees im April 15, 2010

Diejenigen unter Ihnen, die die BDS (boycott, divestment, sanctions - Boykott, Veräußerung, Sanktionen) und ähnliche Angriffe auf Israel verfolgen, werden zweifellos vertraut sein mit dem Kairos-Dokument, in Umlauf gebracht im Dezember letzten Jahres, in dem christliche Gläubige auf der ganzen Welt aufgefordert werden, eine Politik der BDS gegen Israel als Ausdruck ihres Glaubens zu übernehmen.


Die folgende Resolution, die in dieser Woche von der Konferenz der amerikanischen Rabbiner verabschiedet wurde, widerlegt und bekämpft ruhig, aber unabweisbar die wichtigsten Forderungen und Argumente des Kairos-Dokuments:

Central Conference of American Rabbis (CCAR)

Erklärung über das Kairos Document (2009),

angenommen durch das Board of Trustees im April 15, 2010

Der andauernde Kampf der Israelis und Palästinenser, Seite an Seite in dem Land zu leben, das beiden heilig ist, ist eine der größten Tragödien unserer Zeit. Menschen guten Willens, unabhängig von ihrem Glauben oder Hintergrund, sehen sich konfrontiert mit einem doppelten Schrecken: Israels Existenzkampf angesichts der massiven Überfälle, der Jahre wahlloser Bombenanschläge und des mörderischen Terrorismus, und zugleich das schreckliche Leiden und die täglichen Demütigungen, denen Palästinenser unter israelischer Besatzung ausgesetzt sind. Israel und die Palästinenser brauchen dringend eine friedliche Lösung, die zu einer Beendigung der Besatzung der Palästinenser beiträgt, die Würde und Selbstregierung für die Palästinenser vorsieht, und zugleich Sicherheit für Israel in einem jüdischen und demokratischen Staat. Eine solche Lösung ist eine moralische und praktische Notwendigkeit im Interesse aller. Dieser Moment in der Geschichte erfordert nüchterne, ehrliche und nuancierte Stimmen vor allem der beteiligten religiösen Führer, die die Notwendigkeit eines Kompromisses verstehen und die den Machthabern auf beiden Seiten die Wahrheit sagen. Der Sache des Friedens ist nicht durch Äußerungen gedient, die eine Seite rechtfertigen, während sie die anderen verteufeln, sondern durch den Mut der moralischen Klarheit und Respekt vor der Wahrheit.

Im Dezember 2009 wurde ein Dokument, bekannt als "Kairos – Ein Augenblick der Wahrheit. Ein Wort des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe aus dem Herzen des Palästinensischen Leidens" von neun palästinensischen Mitgliedern des christlichen Klerus und von sechs palästinensischen christlichen Laien herausgegeben und unterzeichnet.

Eine genaue Lektüre des Kairos-Papiers zeigt, dass es alles andere ist, als ein Dokument, das auf Wahrheit beruht. Die sorgfältige Abwägung dessen, was es sagt und was es nicht sagt, der Geschichte, die es zeichnet und der Geschichte, die es verschleiert, sowie des moralischen Maßstabes, den es an Israel anlegt, während es gleichzeitig Kompromisse angesichts palästinensischer Gewalt macht, enthüllt ein moralisch inkonsistentes und theologisch suspektes Dokument, das nur einen Teil der Wahrheit ausspricht, und manchmal nicht einmal das.

Leider lehnt dieses Dokument mehr als ein halbes Jahrhundert der jüdisch-christlichen Annäherung ab oder ignoriert es zumindest, und nimmt seinen Platz unter den anderen christlichen Dokumenten ein, die im Laufe der Geschichte das Ziel verfolgten, den fortdauernden Bund des jüdischen Volkes mit Gott zu delegitimieren, vor allem mit dem Argument, dass unser Bund abgelöst worden sei durch Jesus und das Christentum. Allzu oft sind solche kirchlichen Dokumente als Vorwand für unsere Verfolgung, unsere Vertreibung, und sogar für unsere versuchte Vernichtung in Anspruch genommen worden. Seit der Shoah und des Zweiten Weltkriegs und vor allem mit dem II. Vatikanum hat das jüdische Volk begonnen, Besseres von unseren christlichen Brüder und Schwestern zu erwarten.

Wie die Autoren des Kairos-Dokumentes ist auch die Central Conference of American Rabbis zutiefst besorgt um das Wohlergehen der palästinensischen Bevölkerung, wie unsere zurückliegenden Stellungnahmen zeigen (“Where We Stand on Israel,” 2002 and 2003; Resolution on Peace in Israel, 2001 inter alia,; Resolution on Gaza and the West Bank, 2006; Resolution on Building a Defensive Barrier between Israel and Palestinian Communities, 2004; Resolution on Discriminatory Home Demolitions in Israel, 2005 u.v.a.). Unsere schwerwiegenden Einwände gegen das Kairos-Papier schmälern nicht unsere Verpflichtung zu einer Zwei-Staaten-Lösung als dem einzigen Weg zu einem gerechten und dauerhaften Frieden, der einen sicheren jüdischen Staat Israel bewahrt und zum ersten Mal die nationale Souveränität („nationhood’) des palästinensischen Volkes realisiert.

Unter den vielen Versäumnissen des Kairos-Dokuments seien folgende genannt:

  1. Es erinnert an die enterbungstheologische Sprache ('supersessionist language’) der christlichen Vergangenheit, die von den meisten christlichen Konfessionen des Mainstreams abgelehnt wird, wenn es – unter Aufnahme von Worten der christlichen Schrift - auf die Tora nur als „toten Buchstaben“ Bezug nimmt, wo diese von der christlichen Offenbarung absieht.
  2. Auf der einen Seite bestreitet und negiert es, dass biblische Texte, historische Anwesenheit und theologischer Diskurs anwendbar sind, wenn es darum geht, die Existenz eines jüdischen Staates zu rechtfertigen. Auf der anderen Seite tut es genau das, wenn es darum geht, einen palästinensischen Staat zu begründen.
  3. Es verwirft durchgängig „die Besatzung“, ohne klarzustellen, dass sie sich ausschließlich auf Land bezieht, das Israel seit dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 besetzt hält und das seitdem umstritten ist. Letztendlich läuft das Dokument darauf hinaus, dass es die Idee eines jüdischen Staates insgesamt ablehnt.
  4. Es besteht darauf, dass die Ursache des palästinensischen Widerstands - sowohl des gewalttätigen als auch des gewaltfreien – „die Besatzung“ sei, und verschleiert [damit] die historische Wahrheit, dass die arabische Welt die Existenz eines jüdischen Staates vor 1948 militant ablehnte, und dass es die Jahrzehnte des Krieges und Terrorismus waren, die im Jahr 1967 die Einnahme der Westbank, des Gazastreifens und der Golanhöhen herausforderten und notwendig machten.
  5. Es gibt vor, gewaltfreien Widerstand als die einzig legitime christliche Antwort auf die israelische Besatzung zu fördern, doch äußert es "Respekt" und "hohe Wertschätzung für diejenigen, die ihr Leben für unser Volk gegeben haben," und billigt, ja lobt, damit implizit Selbstmordattentäter.
  6. Es unternimmt es, das Konzept des Terrorismus durch die euphemistische Bezugnahme auf „Terrorismus“ zu neutralisieren, wobei suggeriert wird, dass das absichtliche Zielen von Palästinensern auf israelische Zivilisten mit der Ansicht, so viele wie möglich von ihnen zu töten, um [dadurch] Angst und Schrecken zu verbreiten, nicht Terrorismus sei, sondern eine Form des "rechtmäßigen Widerstands."
  7. Es zeichnet ein zutreffendes Bild der Wirklichkeit palästinensischen Lebens unter israelischer Herrschaft, ignoriert aber die Realität der Israelis, die gezwungen werden, um ihr Leben in Luftschutzbunker zu rennen, oder die in Angst leben, während des Essens in einem Restaurant, während eines Pessach-Seder oder beim Tanzen auf einer Bar Mizwa-Feier in die Luft gesprengt zu werden.

Ausdrücklich gebilligt wurde das Kairos Dokument [nur] durch eine relativ kleine Zahl palästinensischer Kirchenführer. Dennoch ist die Akzeptanz und Billigung dieses Dokuments durch bestimmte andere Personen und kirchliche Gruppen, mit denen wir uns harmonischer interreligiöser Beziehungen erfreut haben, überraschend, verstörend und zutiefst enttäuschend. Wenn heute ein Christ diesem enterbungstheologischen Dokument beipflichtet, bringt er [damit] seinem jüdischen Nachbarn und Freund zum Ausdruck, dass das Judentum keine Gültigkeit als eine Religion des Bundes hat, dass der Schmerz und das Martyrium, das von unzähligen Generationen von Juden ertragen war, umsonst gewesen war; dass die Welt im Laufe der Zeiten besser dran gewesen wäre ohne die religiösen, kulturellen, geistigen, sozialen, wissenschaftlichen und pädagogischen Beiträge jüdischer Menschen, und dass der Gott, den wir anbeten und dem wir dienen, überhaupt kein Gott ist.

So viele Kirchen des Mainstreams haben die Enterbungstheologie abgelehnt, nicht nur wegen der Jahrhunderte der Verfolgung, die sie hervorgebracht hat, sondern weil sie glauben, dass sie nicht wahr ist. Kurz gesagt: Diejenigen, die für dieses Dokument Partei ergreifen und für die religiösen Grundlagen, auf denen es fußt, löschen [damit] die Jahre aus, in denen die christliche Seele auf der Suche war und Reue zeigte, als ob es sie nicht gegeben hätte. Wir erwarten mehr von unseren interreligiösen Partnern. Wir sind gezwungen zu fragen, ob diese kirchlichen Organisationen den enterbungstheologischen und antisemitischen Charakter des Kairos-Dokument nicht erkennen oder ob sie keinen Wert mehr darauf legen, mit uns einen interreligiösen Dialog zu pflegen.

Daher erklärt die Central Conference of American Rabbis:

  1. Das Kairos-Papier ist ein sachlich, theologisch und moralisch mangelhaftes Dokument.
  2. Die Konferenz besteht darauf, dass es die ausdrückliche Enterbungstheologie und der inhärente Antisemitismus des Kairos-Dokuments unmöglich machen, dass dieses einen legitimen Rahmen für den interreligiösen Dialog und das gegenseitige Verständnis darstellt.
  3. Sie erkennt dankbar an, dass das Kairos-Papier das palästinensische Volk dazu aufruft, "den Hass anzulehnen“ (wie wir alle es tun müssen), um das christliche Gebot, „den Feind wie den Freund zu lieben“, zu erfüllen und Widerstand durch die „Achtung des Lebens " zu leisten, wie es die zitierten christlichen Schriften verlangen.
  4. Sie fordert die Autoren des Kairos-Papiers auf, der Liebe und der Achtung des Lebens gerecht zu werden, der sie sich anschließen, sowie genau derjenigen Schriften, die sie zitieren, indem sie die unterschiedslose und gezielte Ermordung israelischer Männer, Frauen und Kinder als unmoralisch und unchristlich ablehnen.
  5. Sie betont noch einmal, dass solche Mordtaten, sei es als Racheakte oder mit der fadenscheinigen Bezeichnung "rechtmäßiger palästinensischer Widerstand", in Wirklichkeit Terrorismus sind, der von allen Menschen auf der Welt mit Gewissen als ein unakzeptables Instrument zur Erreichung politischer Ziele angeprangert werden müsste.
  6. Sie hält fest, dass das Recht des jüdischen Volkes auf nationale Souveränität innerhalb des Landes Israel in erster Linie etabliert wird, nicht durch subjektive religiöse Überzeugung oder fundamentalistische Lektüre der hebräischen Bibel, sondern durch ein Jahrtausend der nationalen Existenz und Zivilisation im Land, gefolgt - sogar im Exil - von nahezu zwei Jahrtausenden ungebrochener körperlicher und geistiger Unterstützung für und Sehnsucht nach dem Land.
  7. Sie kennzeichnet die Behauptung als theologisch scheinheilig und historisch unehrlich, dass die historische Gegenwart des palästinensischen Volkes im Land sein Recht auf Rückkehr begründe, während zugleich die historische Gegenwart des jüdischen Volkes, die 3000 Jahre zurückdatiert, nicht eben das gleiche Recht begründet.
  8. Sie fordert die Christen von Treu und Glauben auf, die Komplexität des israelisch-arabischen Konfliktes zu erkennen, der verkompliziert wird durch territoriale Streitigkeiten, durch konkurrierende Inanspruchnahmen als Heiliges Land, durch das Leiden der Palästinenser sowie durch palästinensischen Terror; und der nicht reduziert werden darf, wie es die Autoren des Kairos-Papiers tun, indem sie behaupten, dass das die Sache des jüdischen Volkes falsch sei, während die palästinensische Sache vollständig gerecht ist;
  9. Sie fordert alle auf, die das Kairos-Papier gebilligt haben, einen tieferen Blick in seine Worte zu werfen und ehrlich in ihre eigene Seele zu blicken und das fehlerhafte und verzerrte Bild der Wirklichkeit zu erkennen, das es zeichnet, und ihm abzuschwören.
  10. Sie stellt fest, dass die CCAR ernsthaft darüber nachdenken würde, bevor Sie unsere gemeinsame Sache mit irgendeiner Kirche oder kirchlichen Organisation fortfahren würde, die das Kairos-Papier billigt oder fortfährt es zu billigen.
  11. Sie bekräftigt erneut unser Engagement für unsere anhaltende interreligiöse Zusammenarbeit mit christlichen Gruppen, die den fortdauernden einzigartigen Bund zwischen Gott und dem jüdischen Volk bekräftigen.
  12. Sie verpflichtet sich zu allen würdigen und legitimen Bestrebungen, ein Ende der Leiden des palästinensischen Volkes herbeizuführen, das erreicht werden muss durch Verhandlungen [mit dem Ziel], einen palästinensischen Staat neben und in Zusammenarbeit mit einem sicheren jüdischen Staat Israel.
  13. Sie fordert unsere Mitglieder auf, sich in dieser Angelegenheit weiterzubilden und in ihrer Region Möglichkeiten zum Austausch von Bedenken hinsichtlich des Kairos-Dokuments mit ihren christlichen Kollegen und Laien zu suchen.

Editorische Anmerkungen

Quelle: BLICKPUNKT.E, April 2011;

Aus dem Englischen überstezt von Dr. Stefan Meißner.