„Dann werde ich die Lippen der Völker verwandeln in reine Lippen, damit alle den Namen des Ewigen anrufen und ihm einmütig dienen.“ (Zefanja 3.9).
Wir Unterzeichner dieser Erklärung, Juden in Frankreich, freuen uns, dass wir den 50. Jahrestag der Erklärung Nostra Aetate feiern, veranlasst durch das Zweite Vatikanische Konzil, das eine Ära der Versöhnung zwischen Juden und Christen eingeleitet hat. Für uns markiert dieses Jubiläum nicht nur den Erfolg des Jahrestags einer Annäherung. Es muss auch der Beginn eines anderen sein. Wir verstehen dieses Ereignis als eine geheiligte Aufforderung, einen Wendepunkt der Zeit, um Bilanz zu ziehen, eine Zeit der Herausforderung und der Verpflichtung.
Was haben wir Juden von Ihnen, den Christen, in diesen letzten 50 Jahren gelernt?
Dass die katholische Kirche und auch die protestantischen Kirchen sowie prominente Mitglieder der orthodoxen und anglikanischen Kirche, entschieden haben sich zu erneuern, anhand jüdischer Quellen und Werte bis ins Herz der Identität Jesu und der Apostel.
In einer Bewegung, deren Aufrichtigkeit geprüft ist, hat die Kirche einen entscheidenden Wendepunkt in ihrer theologischen Haltung vollzogen. Nun wird das jüdische Volk nicht mehr für den Tod Jesu verantwortlich gemacht; der christliche Glauben erklärt den Bund zwischen Gott und seinem Volk Israel nicht mehr für nichtig oder ersetzt ihn. Antijudaismus, der oft Hand in Hand mit dem Antisemitismus ging und der sich aus der lehramtlichen Verkündigung nähren konnte, ist eine Sünde; das jüdische Volk wird nicht mehr als ausgestoßenes Volk angesehen; und der Staat Israel wird nun vom Vatikan anerkannt.
Diese Umkehr bedeutet für uns Juden nicht nur einen glücklichen Gesinnungswandel. Es zeigt auch eine ungewohnte Fähigkeit, sich im Namen grundlegender religiöser und ethischer Werte zu verändern. Dadurch wird den Name des Ewigen geheiligt, diesem Vorgang gebührt für immer unser Respekt und es ist ein beispielhafter Präzedenzfall für alle Religionen und spirituellen Überzeugungen auf dem Planeten.
Was können wir Juden hoffen, mit Ihnen, den Christen, in den nächsten 50 Jahren zu bauen?
Was ist unsere Pflicht, jetzt, da die Vertreter der höchsten christlichen Institutionen den ungewohnten Wunsch geäußert haben, sich wieder einzupflanzen, sich wieder einzupfropfen in den Stamm Israels? Das Christentum als Religion unserer Brüder und Schwestern willkommen heißen, als zusätzliche Kraft mit dem Judentum!
Unterstützt durch die historische Forschung erkennen wir Unterzeichner, dass das rabbinische Judentum und das konziliare Christentum in der Vergangenheit sich jeweils in gegenseitiger Abgrenzung, in Verachtung und Hass aufeinander, selbst verstanden haben. Juden hatten oft einen hohen Preis für die Verfolgung zu zahlen. Diese zwanzig Jahrhunderte der Verleugnung haben das Wesentliche vergessen lassen: unsere Wege, auch wenn jeweils unverrückbar einzigartig, ergänzen einander und beziehen sich aufeinander. Haben wir nicht in der Tat als höchste Hoffnung, dass die Geschichte der Menschheit den gleichen Horizont hat, den der universellen Brüderlichkeit einer Menschheit, die rund um den einen und einzigen Gott versammelt ist? Wir müssen mehr denn je gemeinsam Hand in Hand daran arbeiten.
Wir Juden arbeiten daran durch das Studium der Tora, durch das Halten der Mizwot, das heißt der göttlichen Gebote, durch die Lehre der Weisheit, die daraus folgt und welche die Veränderung der Herzen und Köpfe anstrebt. Sie Christen arbeiten daran durch die Aufnahme des Wortes, das Ihnen eine Zugabe zum Sein gibt, eine Erhöhung des Herzens und des Geistes. Die theologischen Unterschiede sollten uns nicht vergessen lassen, dass viele christliche Lehren in tadelloser Übereinstimmung mit denen der rabbinischen Tradition stehen.
Das bevorstehende Jubiläum gebietet uns, gemeinsam den Aufbau dieser universalen Brüderlichkeit und die Auffrischung einer gemeinsamen Ethik zu gestalten, die für die ganze Welt Gültigkeit besitzt. Wir müssen lernen, uns von Vorurteilen frei zu machen, die sich im Laufe der Zeit in unserem jeweiligen Bewusstsein verbreitert haben über das, was der Andere glaubt, denkt oder tut, um besser darauf zu hören, was jede Religion über sich selbst sagt und über ihren Plan zur Einhaltung des Wohlergehens der ganzen Menschheit. Wir müssen uns von jetzt an dazu hingeben, den Anderen besser zu verstehen, ihn wertzuschätzen, ihn hochzuachten, ihn zu lieben für das, was er ist und was er als solcher selbst vollbringt.
Die Brüderlichkeit zwischen Juden und Christen ist ein erster Schritt und eine Einladung zum Dialog zwischen allen Religionen und Spiritualitäten, der Eckstein für eine versöhnte und befriedete Menschheit. Sie möge das Herz unserer Gebete bewohnen.