„Die Last der Geschichte annehmen“

Gemeinsame Erklärung der Deutschen, Berliner und Österreichischen Bischofskonferenz, 20. Oktober 1988 anläßlich des 50. Jahrestages der Novemberpogrome 1938.

1. Historischer Rückblick

„Jene unfaßbaren Schmerzen, Leiden und Tränen stehen mir vor Augen und sie sind meiner Seele tief eingeprägt. In der Tat, nur wen man kennt, den kann man lieben.“ Mit diesen Worten hat Papst Johannes Paul II. am 24. Juni 1988 in Wien bei einer Begegnung mit Vertretern der jüdischen Gemeinden in Österreich der Ereignisse vor 50 Jahren gedacht.[1]

Damals, in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 und am folgenden Tage, wurden überall im „Großdeutschen Reich“, zu dem seit dem „Anschluß“ auch Österreich gehörte, Synagogen in Brand gesetzt oder zerstört, jüdische Friedhöfe geschändet und zahllose Geschäfte und Wohnungen der Juden demoliert und ausgeplündert. Zahlreiche Juden wurden bei diesen von der NS–Führung inszenierten Pogromen ermordet und unzählige wurden mißhandelt. Zehntausende wurden für Tage oder Wochen in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen „verbracht“. Die meisten verließen die Stätte ihrer Demütigung und Not seelisch und körperlich schwer gezeichnet. Die ganze jüdische Bevölkerung erlitt unermeßliche seelische Qualen. In perfider Verhöhnung wurde den Geschädigten auch noch eine „Sühneleistung“ von einer Milliarde Reichsmark auferlegt.

Die NS– Presse stellte diese Krawalle als „spontane“ Vergeltungsaktionen erzürnter „Volksgenossen“ dar; bald machte das verharmlosende Wort von der „Reichskristallnacht“ die Runde. Doch jedermann wußte, daß die Novemberpogrome in Wirklichkeit von oben befohlener, aber vor Ort organisierter Strassenterror übelsten Ausmasses waren. Daher hat es in der Bevölkerung neben aktiver Beteiligung auch demonstratives Fernbleiben, neben Schadenfreude auch Beschämung, neben Gleichgültigkeit auch inneres Entsetzen und neben ängstlichem Wegsehen auch Hilfsbereitschaft gegeben. Aber nirgendwo kam es zu Protestkundgebungen.

Heute beklagen viele, daß auch die christlichen Kirchen damals kein öffentliches Wort der Verurteilung gesprochen haben. Gewiß, viele Priester und Laien sind wegen offener Kritik an den antijüdischen Ausschreitungen von den NS– Behörden gemaßregelt worden. Wir kennen das Zeugnis des Berliner Dompropstes Bernhard Lichtenberg, der später für sein mutiges Handeln in den Tod gegangen ist. Unsere Vorgänger im Bischofsamt hingegen haben keinen gemeinsamen Kanzelprotest erhoben.

Ihr Schweigen wirft auch deswegen Fragen auf, weil am kompromißlosen Nein der Kirche zu Hitlers Rassenpolitik kein Zweifel sein konnte. In seiner Enzyklika „Mit brennender Sorge“ vom 14. März 1937 hatte Papst Pius XI. festgestellt, wer Rasse, Volk oder Staat zur höchsten Norm erhebe, der verfälsche „die gottgeschaffene und gottbefohlene Ordnung der Dinge“.[2] Der gleiche Papst rief ein Jahr später, am 13. April 1938, alle katholischen Universitäten und katholisch–theologischen Fakultäten zur Bekämpfung des Antisemitismus in Wort und Schrift auf. Im September 1938 sagte er: „Der Antisemitismus ist eine abstossende Bewegung, an der wir Christen keinen Anteil nehmen können. ... Der Antisemitismus ist nicht vertretbar. Geistlich sind wir Semiten.“[3]

Die deutschen Bischöfe beschlossen vor dem 9. November 1938 zur NSRassenlehre auch ihrerseits Richtlinien für den Klerus. Darin stellten sie fest: „... in der Kirche gibt es grundsätzlich keinen Unterschied zwischen Volk und Volk, Rasse und Rasse“. Dies war zwar kein direktes Eintreten für die Juden, aus der Sicht der Machthaber aber war es unmißverständlich und dadurch provozierend. Denn durch die permanente Infragestellung der Rassenideologie rüttelte die Kirche an den weltanschaulichen Grundlagen des Regimes. Wesentlichstes Ziel aller Seelsorge, hieß es in einem Grundsatzpapier des Kölner Kardinals Schulte, müsse es sein, „das Glaubensleben in möglichst vielen Katholiken so zu vertiefen und zu stärken, daß sie den Prüfungen der Zeit gewachsen sind, auch wenn, Bekennertreue von ihnen verlangt wird.“ Dies ließ die Kirche in den Augen der Nationalsozialisten zu einem Hauptgegner ihrer Weltanschauung werden. Kurz nach den Novemberpogromen hielt ein regierungsamtlicher Stimmungsbericht fest: „Nur die von der Kirche beeinflußten Kreise gehen in der Judenfrage noch nicht mit.“[4]

Aber genügten Gewissensbildung und weltanschauliche Immunisierung angesichts brennender Synagogen und tausender mißhandelter jüdischer Mitbürger? – so fragen wir, nach 50 Jahren zurückblickend. Wäre nicht öffentlicher Protest, eine weit sichtbare Geste der Mitmenschlichkeit und Anteilnahme der vom Wächteramt der Kirche geschuldete Dienst gewesen?

Diese Fragen bedrücken uns um so mehr, als wir sie –im Unterschied zu den Zeitgenossen – im Wissen um „Auschwitz“ stellen. Aber es ist schwer, auf diese Fragen eine klare, eindeutige Antwort zu finden. Wir kennen nicht einmal die Beweggründe des Episkopats; auch über die Haltung und die Erwartungen des Kirchenvolkes fehlt es uns an Quellen. Eines allerdings steht außer Zweifel: Die Zurückhaltung der Bischöfe ist überhaupt nur vor dem Hintergrund des nationalsozialistischen Kirchenkampfes zu verstehen, bei dem es für die Kirche um Sein oder Nichtsein ging.

Anfang Oktober 1938 hatte der Kirchenkampf in Österreich mit der Verwüstung des Erzbischöflichen Palais in Wien einen ersten Höhepunkt erreicht. In München wurde gleichzeitig mit den Novemberpogromen unter der Parole „Gegen das Weltjudentum und seine schwarzen und roten Bundesgenossen“ der Amtssitz von Kardinal Faulhaber gestürmt.“[5] Wenige Wochen zuvor war Bischof Sproll von Rottenburg nach inszenierten Krawallen aus seiner Diözese vertrieben worden. Ein großer Teil der Bevölkerung sah daher die antijüdischen Ausschreitungen als Generalprobe für künftige Angriffe auf die katholische (und die evangelische) Kirche. Das befürchteten auch die Bischöfe. In ihrem gemeinsamen Hirtenwort vom 19. August 1938 hatten sie „die Zerstörung der katholischen Kirche innerhalb unseres Volkes, ja selbst die Ausrottung des Christentums“ als das Ziel der NS–Kirchenpolitik bezeichnet. So liegt die Vermutung nahe, daß die Bischöfe alles versucht haben, eine weitere Eskalation des Kirchenkampfes nicht ihrerseits zu provozieren. Wohl haben sie in den folgenden Jahren ihre praktischen, aber unspektakulären caritativen Bemühungen zugunsten der Verfolgten verstärkt. Der Raphaels–Verein, das Caritas–Notwerk und die Hilfswerke von Bischof Preysing (Berlin), Erzbischof Gröber (Freiburg) und Kardinal Innitzer (Wien) waren für nicht wenige die letzte Rettung, ehe ab 1942 die Deportationen in die Vernichtungslager des Ostens einsetzten.

Doch unbeschadet aller damaligen Opportunitätserwägungen fragen wir, ob im November 1938 nicht auch andere Formen brüderlicher Solidarität möglich und gefordert gewesen wären: Ein gemeinsames Gebet etwa für die unschuldig Verfolgten oder eine demonstrative erneute Bekräftigung des christlichen Liebesgebotes. Daß dies unterblieb, bedrückt uns heute, wo wir das Eintreten für die elementaren Rechte aller Menschen als eine die Konfessionen, Klassen und Rassen übergreifende Pflicht empfinden.

Man wird freilich bedenken müssen, daß manche Einstellungen, die wir heute für selbstverständlich halten, erst in harter Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Regime gewachsen sind. Die Bereitschaft, über die Belange der eigenen Kirche hinaus auch für die Menschenrechte anderer einzutreten, gehört ebenso hierzu wie die Ablehnung jedweder Sondergesetzgebung gegen einzelne Gruppen der Gesellschaft, während die Prüfung staatlichen Rechts und Handelns an naturrechtlichen, nicht zur Disposition der Machthaber stehenden Normen schon eine lange katholische Tradition hatte. Die Bischöfe und auch die Gläubigen haben – ebenso wie andere – angesichts der Menschenwürde und Menschenrechte hohnsprechenden nationalsozialistischen Unrechts schmerzhafte Lehren ziehen müssen. Das war von großen Spannungen begleitet, die die Fuldaer Bischofskonferenzen bis an den Rand des Auseinanderbrechens brachten.

Wir wissen, daß mit diesem historischen Rückblick und der Darlegung der Zeitumstände nicht alles erklärt und schon gar nicht alles entschuldigt werden kann. Auch unter uns Katholiken hat es Versagen und Schuld gegeben. Die Fuldaer Bischofskonferenz hat im August 1945 bekannt: „Viele Deutsche, auch aus unseren Reihen, haben sich von den falschen Lehren des Nationalsozialismus betören lassen, sind bei den Verbrechen gegen menschliche Freiheit und menschliche Würde gleichgültig geblieben; viele leisteten durch ihre Haltung den Verbrechen Vorschub, viele sind selber Verbrecher geworden. Schwere Verantwortung trifft jene, die auf Grund ihrer Stellung wissen konnten, was bei uns vorging, die durch ihren Einfluß solche Verbrechen hätten hindern können und es nicht getan haben, ja diese Verbrechen ermöglicht und sich dadurch mit den Verbrechern solidarisch erklärt haben.“ Hieran knüpften die Bischöfe in der Bundesrepublik Deutschland an, als sie in ihrer Erklärung aus dem Jahr 1980 sagten: „Zur Liebespflicht der Christen gegenüber den Juden gehören auch das immerwährende Gebet für die Millionen im Laufe der Geschichte ermordeten Juden und die ständige Bitte an Gott um Vergebung des vielfachen Versagens und der zahlreichen Versäumnisse, deren sich Christen in ihrem Verhalten den Juden gegenüber schuldig gemacht haben. In Deutschland haben wir besonderen Anlaß, Gott und unsere jüdischen Brüder um Verzeihung zu bitten.“ So wiederholen wir das Rufen des Psalmisten: „Würdest du, Herr, unsere Sünden beachten, Herr, wer könnte bestehen? Doch bei dir ist Vergebung, damit man in Ehrfurcht dir dient.“ (Psalm 130, 3 f)

2. Besinnung und Umkehr

Der Rückblick auf den November 1938 und die zwölf Jahre nationalsozialistischer Herrschaft ist bedrückend. Manche fragen darum, ob die Erinnerung an die Vergangenheit nicht einmal ein Ende haben solle. Aber man kann die eigene Geschichte nicht nur selektiv akzeptieren und das Belastende ausblenden. Wir müssen die Last der Geschichte annehmen. Das sind wir den Opfern schuldig, deren Leiden und Tod nicht vergessen werden darf. Das sind wir den Überlebenden und Angehörigen schuldig, weil sonst jedes Gespräch mit ihnen und jedes neue Miteinander unmöglich wäre. Aber wir sind es auch der Kirche und damit uns selbst schuldig. Denn die Geschichte ist nicht etwas Äußerliches, sie ist Teil der eigenen Identität der Kirche und kann uns daran erinnern, daß die Kirche, die wir als heilig bekennen und als Geheimnis verehren, auch eine sündige und der Umkehr bedürftige Kirche ist. Darum müssen wir ein nie nachlassendes Interesse daran haben, uns diese Geschichte möglichst umfassend und zutreffend zu vergegenwärtigen. Aus diesem Grunde werden wir die Erforschung und Darstellung unserer Geschichte auch künftig nach Kräften fördern und das in unseren Möglichkeiten Stehende tun, damit im Religionsunterricht, in der Katechese und auf anderen Feldern die historische Wahrheit unverkürzt gelehrt wird. Um dieser Wahrheit willen werden wir aber auch gegen alle Versuche auftreten, die Geschichte für aktuelle Auseinandersetzungen in Kirche, Staat oder Gesellschaft zu instrumentalisieren und für unsachliche Angriffe gegen einzelne oder ganze Gruppen zu mißbrauchen. Auch dies gebietet der Respekt vor den Opfern.

Die Geschichte annehmen heißt, sich ihren Licht–und Schattenseiten zu stellen. Es hat ja unter der nationalsozialistischen Terrorherrschaft nicht nur Versagen und Schuld, sondern auch Bewährung und Mitgefühl mit den Opfern gegeben. Bisweilen lag beides dicht beeinander und betraf ein und dieselbe Person. Schuld oder Bewährung folgen immer aus der freien persönlichen Entscheidung des einzelnen. Sie lassen sich darum auch nur schwer durch nachträgliche Analysen aufweisen und dem einzelnen oder gar ganzen Bevölkerungsgruppen zurechnen. Aber auch, wenn man nicht ein ganzes Volk schuldig sprechen kann und darf, bleibt doch die Mitverantwortung aller für das im Namen aller Geschehene und seine Folgen bestehen. Dies gilt auch für die Kirche. „Wir wissen,“ –um das Wort der Deutschen Bischofskonferenz zum 1. September 1979 aufzunehmen – „daß es auch in derKirche Schuld gegeben hat. Wir wissen uns verpflichtet zum dauernden Bemühen, die Folgen aus den Irrtümern und Verwirrungen dieser schrecklichen Zeit zu ziehen.“[6]

Gedenktage rufen uns diese Verpflichtung immer wieder eindringlich ins Bewußtsein. Auch die Erinnerung dieser Tage an die Novemberpogrome des Jahres 1938 soll uns ein solches Mahnzeichen sein. Aber Gedenktage dürfen kein punktuelles Ereignis bleiben. Sie müssen eingebettet sein in ein ständiges Bemühen, unter Besinnung auf die Vergangenheit zu einer positiven Änderung von Einstellungen und Verhalten beizutragen. In dieser sich unaufhörlich stellenden Aufgabe liegt die eigentliche Herausforderung. Ihr müssen wir uns stellen. Dabei können gelegentlich auch Rückschläge und Mißverständnisse auftreten. Ihnen müssen wir mit der inneren Gelassenheit begegnen, die man freilich nur aufbringen kann, wenn das Ziel fest im Blick bleibt. Wir müssen bereit sein, uns auch einmal überfordern zu lassen, ohne – wie es auf dem ersten deutschen Nachkriegs–Katholikentag 1948 hieß – „gleich die Ruhe oder gar die Liebe zu verlieren“.[7] Aber es gibt auch Zeichen und Aufbrüche, die Mut machen. So erinnern wir uns dankbar daran, daß der Prozeß des Umdenkens gerade auch von jüdischer Seite mitinitiiert und mitgetragen wurde, als hervorragende Vertreter des Judentums von sich aus das Gespräch wieder aufnahmen. Auf diesem Weg müssen wir weitergehen. Ein besonderes Gewicht werden dabei die Bemühungen um eine redliche Erfassung und Darstellung von Judentum und jüdischer Religion in Theologie und Katechese haben müssen. Weiterhin sollte nichts unversucht gelassen werden, um das Verstehen zwischen Juden und Christen durch unmittelbare Begegnung zu fördern und für den Weltdienst beider die notwendigen Folgerungen aus der Vergangenheit zu ziehen.

Mit diesen Stichworten sind die Bereiche angesprochen, die bei den Bemühungen der vergangenen Jahre um ein neues Miteinander zwischen Juden und Christen besonderes Gewicht besessen haben und besitzen. Sie sind in einer Vielzahl von grundsätzlichen Darlegungen und Erklärungen aufgenommen, die der Heilige Stuhl, zahlreiche Ortskirchen, Laiengremien und auch gemeinsame Gesprächskreise von Juden und Christen vorgelegt haben. An Bedeutung ragt unter diesen Dokumenten die vom II. Vaticanum 1965 publizierte Erklärung Nostra aetate (Artikel 4) hervor, die einen Neuanfang im christlich– jüdischen Dialog einleitete. An dieses Dokument knüpfen die Durchführungsrichtlinien sowie die Hinweise für Predigt und Katechese an, die von der vatikanischen Kommission für die Beziehungen zum Judentum 1974 bzw. 1985 erlassen worden sind. In verschiedenen Ländern sind diese Anstöße aufgenommen und in eigenen Texten für die jeweiligen Gegebenheiten konkretisiert worden. So haben sich die Deutsche Bischofskonferenz (1980), die Österreichische Bischofskonferenz (1982) und die Berliner Bischofskonferenz (1988) in Erklärungen geäußert.[8] Daneben verdienen das 1979 publizierte Arbeitspapier und die Erklärung des Gesprächskreises „Juden und Christen“ beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken von 1988 besondere Aufmerksamkeit, weil sie von Juden und Christen gemeinsam erarbeitet wurden.[9] Diese und andere Dokumente sowie die wiederholten Zusammenkünfte kirchlicher Repräsentanten mit Vertretern jüdischer Organisationen – zuletzt im Rahmen des für den ernsten Willen vieler, „daß die alten Vorurteile überwunden werden und man Raum gibt für eine immer vollere Anerkennung jenes ,Bandes? und jenes ,gemeinsamen geistigen Erbes?, die zwischen Juden und Christen bestehen“ (Johannes Paul II. am 13. April 1986). Das Gedenken an die Novemberpogrome sollte erneut Anstoß sein, diese Dokumente in ihrem Anliegen und Inhalt aufzunehmen und auf dem gewiesenen Wege fortzuschreiten.

3. „Ihr seid unsere bevorzugten Brüder“

Die Notwendigkeit, aufeinander einzugehen, stellt sich auch und gerade in der Theologie. Über Jahrhunderte haben Irrtümer, Mißverständnisse und Vorurteile über Glaube und Religion das Verhältnis zwischen Christen und Juden auf beiden Seiten schwer belastet. Hier liegen – neben politischen, sozialen und wirtschaftlichen Ressentiments –die Quellen des Antijudaismus, der auch unter Katholiken verbreitet war. Diese traditionellen Vorurteile haben die Abwehrkräfte gegen das neue Phänomen des modernen Antisemitismus geschwächt, der die Rasse zum höchsten Prinzip erhob und das zentrale Element der nationalsozialistischen Ideologie wurde. Die Judenvernichtung des „Dritten Reiches“ hat uns die eigenen Defizite und Versäumnisse schmerzlich bewußt gemacht. „Die schrecklichen Verfolgungen, die die Juden in den verschiedenen Geschichtsepochen erlitten haben, haben endlich die Augen geöffnet und die Herzen aufgerüttelt.“ (Papst Johannes Paul II. am 6. März 1982) Dabei durften wir –beschämt und beschenkt zugleich –das jüdische Volk als das Volk des ersten, nie gekündigten Bundes Gottes mit den Menschen wiederentdecken. Anknüpfend an die Lehre des Konzils sagte Papst Johannes Paul II. bei seinem Besuch in der Synagoge von Rom am 13. April 1986: „Die jüdische Religion ist für uns nicht etwas ,Äußerliches?, sondern gehört in gewisser Weise zum ,Inneren? unserer Religion. Zu ihr haben wir somit Beziehungen, wie zu keiner anderen Religion. Ihr seid unsere bevorzugten Brüder und, so könnte man gewissermaßen sagen, unsere älteren Brüder.“

Dieses besondere Band zwischen Christen und Juden scheint auf, wenn man den Wurzeln des Christentums nachgeht und das geistliche Erbe Israels für die Kirche bedenkt. Der Glaube an den einen Schöpfergott ist uns ebenso gemeinsam wie die Gebote des Dekalogs oder die Hoffnung auf den Messias. Wir Christen sind aufgerufen, unsere Auffassungen über Juden und Judentum unter diesem Gesichtspunkt der Gemeinsamkeit zu prüfen und, wo nötig, zu ändern. Dabei kann es nicht darum gehen, wahrhaft Trennendes zu leugnen oder falsche Kompromisse zu schließen. Uns eint und trennt vor allem die Person Jesu, der Jude war und für uns Christen Sohn Gottes und Erlöser der Welt ist. Das Aufzeigen der gemeinsamen Wurzeln läßt uns aber das Judentum in seiner Identität besser verstehen und hilft uns zugleich, vielleicht verschüttete Dimensionen unseres Glaubens zu erschließen. Diese Klärung sollte – wo immer möglich –von Christen und Juden gemeinsam versucht werden. Über das Alte Testament oder die Bedeutung Jesu etwa kann sich ein für beide Seiten ertragreicher Dialog entfalten. Dringend gefordert und aktuell ist dieser gemeinsame Einsatz von Juden und Christen aber, wenn es um den Glauben an den einen Gott geht. Angesichts der Versuchungen neuer esoterischer Mythen und innerweltlicher Heilsversprechungen ist das Bekenntnis all derer notwendig, die an Gott als den Schöpfer und Erlöser der ganzen Welt glauben.

4. Predigt und Katechese –Über Juden und Judentum angemessen sprechen

Das II. Vaticanum hat mit der Erklärung Nostra aetate das Band, „wodurch das Volk des Neuen Bundes mit dem Stamme Abrahams geistlich verbunden ist“, eindrücklich ins Bewußtsein gehoben. Damit eine wirkliche Begegnung zwischen Christen und Juden möglich wird, hat das Konzil die Förderung der „gegenseitige(n) Kenntnis und Achtung“ als wichtige Aufgabe vor Augen gestellt. Die Durchführungsrichtlinien der vatikanischen Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum konkretisieren dieses Anliegen und legen den Christen ans Herz, zu lernen, „welche Grundzüge für die gelebte religiöse Wirklichkeit der Juden nach ihrem eigenen Verständnis wesentlich sind“. Damit sind nicht nur einzelne Bereiche der Information und Unterweisung angesprochen, sondern „alle Ebenen der christlichen Lehre und Bildung“. Die Spannweite der in den Blick genommenen Informationsmittel reicht von katechetischen Werken über historische Darstellungen bis zu den „Medien der Massenkommunikation (Presse, Radio, Film, Fernsehen)“. Die gleiche Kommission hat vor wenigen Jahren die Gedanken der Richtlinien erneut aufgenommen und inhaltliche „Hinweise für eine richtige Darstellung von Juden und Judentum in der Predigt und in der Katechese der katholischen Kirche“ gegeben.

Diesen Bemühungen und Vorgaben auf weltkirchlicher Ebene korrespondieren zahlreiche Initiativen und Maßnahmen in verschiedenen Ortskirchen, die auf eine angemessene Darstellung und Würdigung von Juden und Judentum innerhalb der Verkündigung zielen. Die genannten Erklärungen der drei Bischofskonferenzen fügen sich in diesen Rahmen ebenso ein, wie die Verlautbarungen des Gesprächskreises „Juden und Christen“ beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Diese Anstöße und Hilfen tragen bereits erste Früchte. Bei der Ausbildung der Priester, im Religionsunterricht und in der Katechese, bei Tagungen katholischer Akademien und Bildungseinrichtungen oder in kirchlichen Publikationen nimmt diese Thematik einen neuen Stellenwert ein. Eindrucksvoll sind nicht zuletzt die Deutschen Katholikentage, bei denen unter großer Beteiligung der Jugend der christlich–jüdische Dialog und das gemeinsame Gebet seit geraumer Zeit bereits einen besonderen Schwerpunkt bilden. Hierzu gehören auch die beiden Wiener Zusammenkünfte unter dem Titel „Schalom“, weil diese in Österreich wesentlich dazu beigetragen haben, daß die Vertreter der israelitischen Kultusgemeinde zu einem weiterführenden Dialog bereit waren und sind. Auch beim Dresdner Katholikentreffen 1987 spielte die Frage des christlich–jüdischen Gesprächs eine wesentliche Rolle. Dies ist kein Grund zur Selbstzufriedenheit. Es macht aber Mut, fortzufahren und in unseren Bemühungen nicht nachzulassen. Mut macht vor allem, daß ein Teil dieser Initiativen auch von Juden mitgetragen wird. Ihnen schulden wir dankbare Anerkennung.

5. Bemühen um Aussöhnung

Zahlreichen Völkern und Gruppen ist während des „Dritten Reiches“ im deutschen Namen großes Leid zugefügt worden. Daß es nochmals gelingen könnte, mit den Nachbarn zu einem von Vertrauen und gegenseitiger Achtung getragenen Verhältnis zu gelangen, war 1945 eher zweifelhaft. Und dennoch ist das Unwahrscheinliche eingetreten. Die Opfer selber haben –wie der verstorbene Kardinal Höffner feststellte –entscheidend dazu beigetragen.[10]

Zu einer Aussöhnung mit den Juden in aller Welt zu gelangen, ist eine noch größere Aufgabe, die noch lange nicht bewältigt ist. Die Verletzungen gehen tief. Den Juden war die „Endlösung“, die vollständige Vernichtung angedroht. Die Opfer der Juden unter der „Schoah“ sind unermeßlich. Und dennoch müssen wir uns um Aussöhnung unablässig bemühen. Die gemeinsamen religiösen und kulturellen Wurzeln von Juden und Christen können dabei einen besonderen Anknüpfungspunkt bilden und zur wechselseitigen Offenheit beitragen. Zentral aber ist die persönliche Begegnung. In diesem Sinne verdienen alle Initiativen, die unmittelbare Kontakte erlauben, alle Foren, die uns ins Gespräch bringen, und alle Angebote, die den Blick über die Grenzen der Völker, Konfessionen und gesellschaftlichen Gruppen weiten, nachhaltige Unterstützung. Manches ist bereits geschehen. Vieles ist noch zu tun. Große Hoffnung setzen wir dabei auf die Offenheit und Verständigungsbereitschaft der Jugend, die künftig das Verhältnis zwischen Juden und Christen zu gestalten haben wird. Ihr mag es vielleicht gelingen, die gemeinsame Erinnerung für ein neues Miteinander und eine gemeinsame Verantwortung für die Gestaltung der Zukunft fruchtbar werden zu lassen.

Der Wille zur Offenheit und Gesprächsbereitschaft ist auf beiden Seiten notwendig. Aber so wie wir nicht vergessen dürfen, müssen wir auch akzeptieren, daß viele Juden nicht vergessen können. Viele von denen, die selbst unter den Verfolgungen zu leiden gehabt haben, aber auch manche der nachfolgenden Generation können diese Offenheit noch nicht aufbringen. Zu tief ist ihr Schmerz. Ihnen müssen wir Respekt entgegenbringen. Aussöhnung läßt sich weder erzwingen noch erkaufen, sondern nur in einem langen Prozeß des Aufeinanderzugehens erringen.

6. Gemeinsame Aufgaben in der Welt

Beim Besuch Papst Johannes Paul II. in der Synagoge von Rom sagte Oberrabbiner Toaff: „Wir können ... die Vergangenheit nicht vergessen. Aber wir möchten heute voller Vertrauen und Hoffnung den Anfang setzen für eine neue Geschichtsperiode, die fruchtbar zu sein verspricht durch gemeinsames Wirken, das endlich im Geist der Partnerschaft, der Gleichwertigkeit und der gegenseitigen Achtung der ganzen Menschheit zum Vorteil gereichen kann.“ Dieses Bewußtsein der Gemeinsamkeit zwischen Christen und Juden, aber auch zwischen allen Menschen guten Willens, ist unter der nationalsozialistischen Bedrängnis gewachsen. Es löste ein Denken und Verhalten ab, das vor allem die Belange der eigenen Gruppe –ob Partei, Gewerkschaft oder Kirche –im Blick hatte und wenig Raum ließ für ein übergreifendes Verantwortungsbewußtsein. Dabei sind die Voraussetzungen für einen Einsatz von Juden und Christen füreinander und miteinander in besonderer Weise gegeben: Beide achten die Würde des Menschen und sehen in der humanen Gestaltung der Welt eine Aufgabe, weil sie an die im Buch Genesis verbürgte Schöpfungstat Gottes glauben. Darum sollten beide entschieden dafür eintreten, daß dieses Bewußtsein der Gemeinsamkeit nicht wieder verschüttet und ein neues „Lagerdenken“ in Staat und Gesellschaft Raum gewinnen kann.

Die Felder für einen gemeinsamen Einsatz von Juden und Christen bei der Gestaltung der Welt sind vielfältig und auch von Land zu Land unterschiedlich: An der Spitze stehen das Bemühen um die Achtung der Menschenwürde, die ethische Fundierung der Staats– und Gesellschaftsordnung und die Gewährleistung der Menschenrechte. Ungeachtet aller öffentlichen Beteuerungen und internationalen Abmachungen sind die Menschenrechte noch immer weltweit gefährdet –sei es aus rassischen, religiösen, sozialen oder politischen Gründen. Gefährdet ist vor allem das erste Recht des Menschen, das Recht auf Leben. Dies gilt nicht nur für Regionen besonderer Bedrückung und Krisen, sondern auch für uns selbst, wo jährlich Hunderttausende Kinder im Mutterleib getötet werden. Die Erfahrungen der Geschichte lehren uns, daß alle Dämme brechen, wo das Leben des einzelnen nicht mehr respektiert wird. „Niemand ist seines Lebens sicher, wenn nicht unangetastet dasteht: ;Du sollst nicht töten!? „ (Fuldaer Bischofskonferenz 1942).

Aber Christen und Juden sollten auch zusammenfinden, wenn es um den Kampf gegen jede ungerechtfertigte Benachteiligung und Diskriminierung einzelner oder ganzer Gruppen aus ideologischen, religiösen oder sonstigen Gründen geht. Die Glaubens–und Gewissensfreiheit ist ein hohes Gut. Chris ten und Juden sollten darum für eine gerechte gesellschaftliche Ordnung eintreten, die von gegenseitiger Achtung und Toleranz geprägt ist, die unveräußerlichen Rechte eines jeden einzelnen wahrt und dem Antisemitismus oder jeder anderen menschenverachtenden Ideologie keinen Raum läßt. In diesem Sinne sind Christen und Juden in besonderer Weise zum Dienst an Gerechtigkeit und Frieden gefordert.

Gefordert sind sie ferner zum Dienst am Frieden in der Welt, dessen Gefährdungen uns nur zu bewußt sind. Der erste Schritt dazu ist auch hier, im anderen den Menschen zu erkennen und weder sein Recht auf Leben noch seine Entfaltungsmöglichkeiten in Frage zu stellen. Wie innerhalb eines Staates gilt auch zwischen den Völkern das Wort: „Gerechtigkeit schafft Frieden“ (Jes 32, 17), das –anknüpfend an das Leitwort Papst Pius' XII. –über den gegenwärtigen Bemühungen der christlichen Kirchen für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung steht.

Und schließlich ist unser Einsatz für die Bewahrung der Schöpfung gefordert. Die Bedrohung unserer natürlichen Umwelt durch die technische Zivilisation mahnt uns an den Auftrag, mit der Schöpfung verantwortlich und sachgerecht umzugehen, die Schätze der Erde nicht rücksichtslos auszuplündern und die Folgen unseres Handelns für uns und die nachfolgenden Generationen zu bedenken. Wir sollten uns und anderen gemeinsam vor Augen führen, daß wir alle „Geschöpfe“, nicht Herren dieser Welt sind.

Für jeden von uns und für uns gemeinsam stellt sich hier ein weites Aufgabenfeld, auf dem Gemeinsames mehr wiegt als Trennendes. Die Geschichte zeigt uns die Notwendigkeit, rechtzeitig gestalterisch zu handeln. Im Maße dieses Handelns wächst –so hoffen wir –die Einsicht in die Gemeinsamkeit von Juden und Christen, aber auch in die Gemeinsamkeit aller Menschen guten Willens.

„Versöhnung geschieht durch Erinnerung“ (Martin Buber). Man kann diese Versöhnung nicht mit den Händen schaffen, sie ist im letzten Gottes Werk. Zum Abschluß dieser Erklärung wollen wir daher die Geschehnisse, die Anlaß unseres Gedenkens sind, im Gebet vor den Herrn der Geschichte tragen. Nur von dort kann uns Kraft und Mut auf dem beschwerlichen Weg zur Aussöhnung zufließen.

[1] 1 L'Osservatore Romano, Deutsche Ausgabe vom 1. Juli 1988 Die Texte zum christlich–jüdischen Dialog sind in dem von Rolf Rendtorff und Hans Hermann Henrix herausgegebenen Sammelband „Die Kirchen und das Judentum. Dokumente von 1945 bis 1985, Paderborn, München 1988“ zusammengefaßt. Einzelnachweise werden darum nur bei solchen Texten gegeben, die in diesem Band nicht erfaßt sind. Hinsichtlich der historischen Quellen wird auf die von Bernhard Stasiewski und dann von Ludwig Volk herausgegebenen „Akten deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche 1933 –1945; Band 1 bis 6, Mainz 1968 bis 1985“ verwiesen. Einzelnachweise erfolgen auch hier nur bei solchen Quellen, die in dieser Reihe nicht abgedruckt sind.

[2] Gedruckt in: Dieter Albrecht (Bearb.), Der Notenwechsel zwischen dem Heiligen Stuhl und der Deutschen Reichsregierung, Band 1, Mainz 1965, S. 402–443.

[3] Zitiert nach: Rudolf Lill, Katholizismus nach 1848, in: Karl Heinrich Rengstorf, Siegfried von Kortzfleisch (Hrsg.), Kirche und Synagoge. Handbuch zur Geschichte von Christen und Juden. Darstellung und Quellen, Band 2, Stuttgart 1970, S. 366.

[4] Helmut Witetschek, Die kirchliche Lage in Bayern nach den Regierungspräsidentenberichten 1933 –1943, Band 1: Regierungsbezirk Oberbayern, Mainz 1966, S. 300.

[5] Ludwig Volk (Bearb.), Akten Kardinal Michael von Faulhabers 1917 –1945, Band 2, Mainz 1978, S. 604.

[6] Erklärung der deutschen Bischöfe vom 27. August 1979 zum 40. Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges, in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Erinnerung und Verantwortung, Arbeitshilfen 30, (Bonn 1983).

[7] Der Christ in der Not der Zeit, Paderborn 1949, S. 216.

[8] Die deutschen Bischöfe, Erklärung über das Verhältnis der Kirche zum Judentum vom 28. April 1980, in: Rendtorff/Henrix, S. 260–280. Österreichische Bischofskonferenz/Pastoralkommission Österreichs, Die Christen und das Judentum, April 1982, in: Rendtorff/Henrix, S. 205–215.

[9] Gesprächskreis „Juden und Christen“ beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken, Arbeitspapier „Theologische Schwerpunkte des jüdisch– christlichen Gesprächs“ vom 8. Mai 1979, in: Rendtorff/Henrix, S. 252– 260. Nach 50 Jahren –wie reden von Schuld, Leid und Versöhnung? Erklärung des Gesprächskreises „Juden und Christen“ beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken 50 Jahre nach der Reichspogromnacht, in: Berichte und Dokumente 68, S. 30–46. Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken ist das von der Deutschen Bischofskonferenz anerkannte Organ zur Koordinierung der Kräfte des Laienapostolats und zur Förderung der apostolischen Tätigkeit der Kirche in der Bundesrepublik Deutschland und in Berlin (West). Ihm gehören insbesondere Vertreter der Diözesanräte und der zentralen Verbände und Organisationen an.

[10] Joseph Kardinal Höffner, Predigt im Ökumenischen Gottesdienst im Kölner Dom am 8. Mai 1985, in: Presse– und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.), Erinnerung, Trauer und Versöhnung. Ansprachen und Erklärungen zum vierzigsten Jahrestag des Kriegsendes, S. 101–105.

Editorische Anmerkungen

Quelle: Deutsche Bischofskonferenz.