Auf dem Weg zum Reformationsjubiläum 2017 hat sich die Synode der EKD im Herbst 2015 mit dem Verhältnis Martin Luthers zu den Juden beschäftigt. Sie hat sich von Luthers Schmähungen gegenüber Juden distanziert und festgehalten, dass seine Sicht auf das Judentum nach unserem heute erreichten Verständnis mit der biblisch bezeugten Treue Gottes zu seinem Volk unvereinbar ist. In ihrer Erklärung vom 11. November 2015 hat die Synode die Notwendigkeit weiterer Schritte der Umkehr und Erneuerung benannt. Auf dem Weg der Umkehr und Erneuerung äußern wir uns auf unserer diesjährigen Tagung zur Frage der sogenannten ‘Judenmission‘. Dabei steht uns vor Augen, dass dieses Thema – wenn auch in unterschiedlicher Weise – sowohl für Juden als auch für Christen mit Fragen ihrer Identität verbunden ist. Für die christliche Kirche ist ihr Selbstverständnis als Kirche Jesu Christi berührt. Juden verbinden damit eine lange und schmerzhafte Geschichte von Zwangskonversionen und der Bestreitung ihrer Identität als bleibend erwähltes Volk Gottes.
1. 1950 erklärte die Synode der EKD in Berlin-Weißensee, "daß Gottes Verheißung über dem von ihm erwählten Volk Israel auch nach der Kreuzigung Jesu Christi in Kraft geblieben ist."[1]
Die Einsicht in die bleibende Erwählung Israels ist seitdem in Theologie und Kirche bedacht, auf ihre Folgen hin befragt und für die kirchliche Lehre fruchtbar gemacht worden. Wir bekräftigen: Die Erwählung der Kirche ist nicht an die Stelle der Erwählung des Volkes Israel getreten. Gott steht in Treue zu seinem Volk. Wenn wir uns als Christen an den Neuen Bund halten, den Gott in Jesus Christus geschlossen hat, halten wir zugleich fest, dass der Bund Gottes mit seinem Volk Israel uneingeschränkt weiter gilt. Das nach 1945 gewachsene Bekenntnis zur Schuldgeschichte gegenüber den Juden und zur christlichen Mitverantwortung an der Schoah hat zu einem Prozess des Umdenkens geführt, der auch Konsequenzen im Blick auf die Möglichkeit eines christlichen Zeugnisses gegenüber Juden hat.
2. Die Studie "Christen und Juden III" der Evangelischen Kirche in Deutschland hat im Jahr 2000 festgehalten: "Der Begriff ‚Bund‘ verweist auf das Handeln Gottes, seine begleitende Treue, von der Juden und Christen gleichermaßen leben" (46). Daraus folgt für uns: Christen sind – ungeachtet ihrer Sendung in die Welt – nicht berufen, Israel den Weg zu Gott und seinem Heil zu weisen. Alle Bemühungen, Juden zum Religionswechsel zu bewegen, widersprechen dem Bekenntnis zur Treue Gottes und der Erwählung Israels.
3. Christen sind durch den Juden Jesus von Nazareth mit dem Volk Israel bleibend verbunden. Das Verhältnis zu Israel gehört für Christen zur eigenen Glaubensgeschichte und Identität. Sie bekennen sich "zu Jesus Christus, dem Juden, der als Messias Israels der Retter der Welt ist" (EKIR, Synodalbeschluss von 1980). Die Tatsache, dass Juden dieses Bekenntnis nicht teilen, stellen wir Gott anheim. Auf dem Weg der Umkehr und Erneuerung haben wir von Paulus gelernt: Gott selbst wird sein Volk Israel die Vollendung seines Heils schauen lassen (vgl. Röm 11,25 ff). Das Vertrauen auf Gottes Verheißung an Israel und das Bekenntnis zu Jesus Christus gehören für uns zusammen. Das Geheimnis der Offenbarung Gottes umschließt beides: die Erwartung der Wiederkunft Christi in Herrlichkeit und die Zuversicht, dass Gott sein erstberufenes Volk rettet.
4. Dankbar blicken wir auf vielfältige Formen der Begegnung von Christen und Juden und durch solche Begegnungen eröffnete Lernwege. Diese bereichern uns. Sie helfen uns, die religiöse Eigenständigkeit des Judentums zu achten und den eigenen Glauben besser zu verstehen. Wir bekräftigen unseren Wunsch, diese Begegnungen fortzuführen und sie, wo immer möglich, mit Blick auf unsere gemeinsame Verantwortung vor Gott und in der Welt zu intensivieren.
5. In der Begegnung mit jüdischen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern haben wir gelernt, einander gleichberechtigt wahrzunehmen, im Dialog aufeinander zu hören und unsere jeweiligen Glaubenserfahrungen und Lebensformen ins Gespräch zu bringen. Auf diese Weise bezeugen wir einander behutsam unser Verständnis von Gott und seiner lebenstragenden Wahrheit.
6. Wir sehen uns vor der Herausforderung, unser Verhältnis zu Gott und unsere Verantwortung in der Welt auch von unserer Verbundenheit mit dem jüdischen Volk her theologisch und geistlich zu verstehen und zu leben.
Wo in Verkündigung und Unterricht, Seelsorge und Diakonie das Judentum verzeichnend oder verzerrt dargestellt wird, sei es bewusst oder unbewusst, treten wir dem entgegen. Wir bekräftigen unseren Widerspruch und unseren Widerstand gegen alte und neue Formen von Judenfeindschaft und Antisemitismus. Das Miteinander von Christen und Juden ist vielmehr ein gemeinsames Unterwegssein in der Verantwortung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung.
Die Synode bittet den Rat der EKD und die Kirchenkonferenz der EKD, dafür Sorge zu tragen, dass die von ihr formulierten Erkenntnisse den Gemeinden zugänglich gemacht und etwa durch begleitende Materialien als Ermutigung dafür präsentiert werden, dass die Begegnung mit unterschiedlichen Formen jüdischer Glaubenspraxis zu einem tieferen Verständnis des eigenen christlichen Glaubens führt.
Die Synode wird in drei Jahren die Ergebnisse der von ihr angeregten Weiterarbeit überprüfen.
Magdeburg, den 9. November 2016
Die Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland
Dr. Irmgard Schwaetzer