Der jüdisch-christliche Dialog 65 Jahre nach der Staatsgründung Israels

Am 14. Mai 1948 endete die britische Besatzung Palästinas und der Staat Israel wurde ausgerufen. Zum 65. Jubiläum der Staatsgründung hat KIRCHE IN NOT mit dem Präsidenten des Päpstlichen Einheitsrates, Kurt Kardinal Koch, über den aktuellen Stand des vatikanischen Dialogs mit dem Judentum gesprochen. Das Interview führte Oliver Maksan.

Eminenz, der Staat Israel feiert seinen 65. Geburtstag. Muss man als Christ darin eine neuzeitliche Erfüllung biblischer Landverheißungen an die Juden erkennen?


Das ist eine sehr schwierige Frage. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen der biblischen Landverheißung und ihrer Erfüllung im Staate Israel 1948 hat einerseits eine theologische und anderseits eine politische Bedeutung. Es ist wahr, dass die Verheißung des Landes zur Identität Israels gehört. Aber man muss zwischen Verheißung und Realisierung unterscheiden. Palästinensische Christen würden Ihnen da entschieden widersprechen. Sie haben die neue israelische Landnahme als Nakba, als Katastrophe, erlebt, die oft zum Verlust der alten Heimat durch Flucht und Vertreibung geführt hat.


Das ist nachvollziehbar. Denn von der Verheißung ist die politische Weise der Realisierung zu unterscheiden. Diese haben palästinensische Christen als ein für sie ungerechtes und mit Gewalt verbundenes Geschehen erlebt. Von daher kann man verstehen, dass sich etwa palästinensische Christen eine theologische Deutung der Staatsgründung Israels nicht zu eigen machen können. Zudem haben auch die Palästinenser das Recht auf einen eigenen Staat.

Der Apostel Paulus spricht im Römerbrief davon, dass Gott seinem Bund treu bleibt. Dennoch bleibt in der Theologiegeschichte der Gedanke der Enterbung der Juden lange vorherrschend. Wie kam es dazu?


Dies hat mit der Trennung von Kirche und Synagoge zu tun. Der Entfremdungsprozess ging zwar, wie historische Forschungen gezeigt haben, weniger schnell vonstatten, als man das lange angenommen hat. Aber der Prozess hat immer radikalere Konsequenzen nach sich gezogen. Die Vorstellung wurde vorherrschend, dass die Kirche das Judentum abgelöst hat. Der Römerbrief des heiligen Paulus, der das Geheimnis des Ineinander von Neuem und Altem Bund sehr subtil bedenkt, konnte dies auch nicht verhindern. Wie die ewige Gültigkeit des Alten Bundes mit der Neuheit des Neuen Bundes in Jesus Christus zusammenzudenken ist, bleibt auch heute eine große theologische Herausforderung.

 

Aber was heißt das? Gibt es dann zwei getrennte Heilswege für Juden und Christen? Abraham und Mose für die einen, Jesus Christus für die anderen? Dann wären Juden auch vom Evangelisierungsauftrag der Kirche ausgenommen.


Für den Christen gibt es natürlich nur einen Heilsweg, den Gott uns in Jesus Christus offenbart hat. Auf der anderen Seite müssen wir Christen den Juden gegenüber nicht einen Heilsweg bezeugen, der ihnen ganz fremd wäre, wie dies bei anderen Religionen der Fall ist. Denn das Neue Testament baut ganz auf dem Alten Testament auf. Die katholische Kirche kennt aus diesem Grund keine organisierte Judenmission, wie dies etwa in bestimmten evangelikalen Kreisen der Fall ist. Auf der anderen Seite bezeugen wir Christen auch Juden gegenüber die Hoffnung, die uns der Glaube an Christus schenkt.

 

Können die messianischen Juden, die Christus als Messias und Erfüller ihres Judentums anerkennen, hier eine Brücke sein?


Sie könnten eine Brücke sein, und sie sind eine Realität, die man nicht vernachlässigen kann. Für sehr viele Juden stellen die messianischen Gemeinden aber eine große Herausforderung dar. Diese Frage muss deshalb sehr sensibel betrachtet werden, um die offiziellen Dialoge mit dem Judentum nicht zu gefährden.

 

Für diese Dialoge könnte auch eine Seligsprechung Pius XII. zur Belastung werden. Dieser ist für viele Juden nach wie vor ein rotes Tuch. Man wirft ihm Schweigen zum Völkermord an den Juden während der Nazizeit vor. Können Sie das verstehen?


Pius XII. befand sich während des Zweiten Weltkriegs mit der grausamen Judenvernichtung in einer sehr schwierigen Situation. Unbestritten ist, dass er sehr vielen Juden das Leben gerettet hat. Deshalb hat es auch auf jüdischer Seite bei seinem Tod viele positive Äußerungen über ihn gegeben. Es gibt auch heute Juden, die diesen Papst zu den Gerechten unter den Völkern zählen möchten. In der Öffentlichkeit überwiegen heute von jüdischer Seite freilich die vor einer Seligsprechung warnenden Stimmen. Es bleibt die Hoffnung, dass die Erschließung aller Archive aus dieser Zeit ein noch adäquateres Bild von Papst Pius XII. und einen besseren Einblick in die äußerst komplexe Entscheidungssituation, in der er gestanden ist, ermöglichen wird.

 

Positiv besetzt ist hingegen der Name von Pius’ Nachfolger Johannes XXIII. Am 5. Juni jährt sich sein Todestag zum 50. Mal. Ist dieser Papst noch immer ein Impulsgeber für das jüdisch-katholische Gespräch?


Ganz sicher. Mit ihm wurde ein neuer Anfang im Verhältnis der katholischen Kirche zum Judentum gemacht. Er hatte wirklich eine prophetische Vision davon, dass wir Christen untrennbar mit dem Volk Israel verbunden sind. Diese Sicht hat sich dann im II. Vatikanischen Konzil in der Erklärung „Nostra Aetate“ niedergeschlagen und in der Zwischenzeit reiche Frucht getragen. Daran darf man gerade im jetzigen Jubiläumsjahr „50 Jahre Konzilseröffnung“ dankbar erinnern.

 

Der Pontifikat Papst Benedikts XVI. wurde von manchen Juden als Rückschritt hinter Nostra Aetate empfunden. Diese führen hier die Neuformulierung der Karfreitagsfürbitte in der außerordentlichen Form des Römischen Messritus oder den Fall Williamson an. Können Sie derartige Sichtweisen verstehen?


Ich sehe im Ganzen keine Belastungen des jüdisch-katholischen Gesprächs im Pontifikat Benedikts XVI. Im Gegenteil. Es gab nicht wenige Juden, die nach seinem Amtsverzicht betont haben, dass die Beziehungen noch nie so gut waren wie unter dem letzten Pontifikat. Die Karfreitagsfürbitte ist ja gerade kein Aufruf zur Judenmission, wie sie oft missverstanden wird, sondern macht sich die endzeitliche Perspektive des Apostels Paulus zu eigen. Dass es in der Causa Williamson bei der Vorbereitung und Veröffentlichung der Aufhebung der Exkommunikation schwerwiegende Pannen gegeben hat, hat Papst Benedikt selbst ehrlich zugestanden. Es macht in meinen Augen deshalb keinen Sinn, immer wieder diese Missverständnisse zu repetieren, statt den großen Beitrag von Papst Benedikt für den jüdisch-katholischen Dialog zu würdigen. Er hat das diesbezüglich große Erbe von Papst Johannes Paul II. weitergetragen und vertieft.

 

Wurde Papst Franziskus von der jüdischen Welt positiv angenommen?


Meiner Einschätzung nach genauso positiv wie Papst Benedikt. Es freut mich, dass unsere jüdischen Partner mit viel Erwartung und Hoffnung auf Papst Franziskus zugehen. Dies dürfte gewiss auch mit den guten Beziehungen zu tun haben, die er als Erzbischof von Buenos Aires zu den dortigen Rabbinern und jüdischen Gemeinschaften gepflegt hat.

Editorische Anmerkungen

Das Interview erschien zuerst am 7. Mai 2013 auf den Seiten von "Kirche in Not".