Den anderen anerkennen, Wunden heilen, Brücken bauen, Beziehungen knüpfen und einander helfen

Angelus-Meditation im Santakos-Park von Kaunas (Litauen), Sonntag, 23. September 2018.

Liebe Brüder und Schwestern,

die erste Lesung aus dem Buch der Weisheit spricht vom verfolgten Gerechten, von demjenigen, dessen bloße Gegenwart den Gottlosen stört. Der Gottlose wird als einer beschrieben, der die Armen unterdrückt, kein Mitleid mit den Witwen hat und die alten Menschen verachtet (vgl. 2, 10). Der Gottlose ist so anmaßend zu glauben, dass seine Stärke der Maßstab der Gerechtigkeit ist. Die Schwächsten unterwerfen, Gewalt in all ihren Formen anwenden, anderen eine Denkweise, eine Ideologie, eine Weltanschauung aufzwingen, Gewalt oder Unterdrückung anwenden, um diejenigen zu beugen, die einfach mit ihrem täglichen, ehrlichen, bescheidenen, fleißigen und hilfsbereiten Handeln zeigen, dass eine andere Welt, eine andere Gesellschaft möglich ist. Dem Gottlosen genügt nicht, dass er tut, was er will und sich von seinen Launen hinreißen lässt; er will nicht, dass seine Handlungsweise durch die Rechtschaffenheit der anderen hervortreten. Im Gottlosen versucht das Böse immer das Gute zu vernichten.

Vor fünfundsiebzig Jahren erlebte diese Nation die endgültige Zerstörung des Ghettos von Vilnius; in diesem Ereignis gipfelte die Vernichtung tausender von Juden, die bereits zwei Jahre zuvor begonnen hatte. Wie es im Buch der Weisheit heißt, ging das jüdische Volk durch Schmähungen und Qualen. Gedenken wir dieser Zeiten und bitten wir den Herrn, er möge uns die Gabe der Unterscheidung verleihen, sodass wir rechtzeitig ein neues Aufkeimen solch verderblicher Haltung erkennen – und alles, was die Herzen der Generationen verführt, die diese Zeit nicht erlebt haben und die manchmal versucht sind, solchem Sirenen-Gesang nachzulaufen.

Jesus erinnert uns im Evangelium an eine Versuchung, auf die wir besonders achten müssen und die sich in jedem menschlichen Herzen einnisten kann: das Verlangen nach den ersten Plätzen, danach, die anderen zu übertreffen. Wie oft ist es schon passiert, dass ein Volk sich überlegen fühlt und mehr Rechte und größere Privilegien für sich beansprucht, die bewahrt oder erobert werden müssen. Welches Gegenmittel schlägt Jesus vor, wenn sich solche Regungen in unserem Herzen oder im Leben einer Gesellschaft oder eines Landes bemerkbar machen? Sich zum Letzten und zum Diener aller zu machen; dort zu sein, wo niemand hingehen will, wo nichts zu erwarten ist, in die entlegenste Peripherie; und zu dienen, indem man Räume der Begegnung mit den Letzten, mit den Ausgesonderten schafft. Wenn sich die Mächtigen dafür entscheiden würden, wenn wir zuließen, dass das Evangelium Jesu Christi unser Innerstes berührt, dann wäre die „Globalisierung der Solidarität“ tatsächlich Wirklichkeit. »Während in der Welt, besonders in einigen Ländern, erneut verschiedene Formen von Kriegen und Auseinandersetzungen aufkommen, beharren wir Christen auf dem Vorschlag, den anderen anzuerkennen, die Wunden zu heilen, Brücken zu bauen, Beziehungen zu knüpfen und einander zu helfen, so dass „einer des anderen Last trage“ (Gal 6,2)« (Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 67).

Hier in Litauen gibt es einen Hügel, wo im Laufe der Jahrhunderte Tausende von Menschen Kreuze errichtet haben. Ich lade euch ein, beim Gebet des Angelus Maria zu bitten, sie möge uns helfen, das Kreuz unseres Dienstes und unserer Hingabe dort aufzustellen, wo wir gebraucht werden, auf dem Hügel, wo die Geringsten leben, wo feinfühlige Aufmerksamkeit für die Ausgeschlossenen und die Minderheiten nötig ist. So können wir in unserem Umfeld und in unseren Kulturen verhindern, dass der andere vernichtet, an den Rand gedrängt und weiterhin ausgesondert wird, weil er uns lästig ist oder unser Wohlbefinden stört.

Jesus stellt ein kleines Kind in die Mitte, er stellt es in die gleiche Entfernung zu allen, damit wir uns alle herausgefordert fühlen, eine Antwort zu geben. Wenn wir uns jetzt an das Ja Marias erinnern, bitten wir sie, sie möge unser Ja so großzügig und fruchtbar sein lassen wie das ihre.

Editorische Anmerkungen

Quelle: Vatikan.