Deklaration der 10. Weltversammlung von Religions for Peace

Lindau, Deutschland, 23. August 2019

Präambel

Wir – 900 Frauen, Männer und Jugendliche – sind in Lindau in Deutschland aus 125 Ländern zur 10. Weltversammlung von Religions for Peace zusammengekommen. Mit Dankbarkeit schauen wir auf 49 Jahre Entschlossenheit, mit der wir uns für die Verwirklichung von Frieden und die Unterstützung der Bedürftigsten einsetzen. Wir sind ein Bündnis der Fürsorge, der Barmherzigkeit und der Liebe. Wir vertreten ein weit größeres, ständig wachsendes und strahlendes Bündnis gemeinsamen Handelns, dem Religions for Peace mit Freude dient. Angesichts dessen gestehen wir mit Bedauern die Weisen ein – seien sie subtil oder eklatant –, auf die wir und unsere Religionsgemeinschaften versagt haben. Unser Herz trauert um den Missbrauch unseres Glaubens, insbesondere darum, wie er verzerrt wurde, um Gewalt und Hass zu schüren. Unser Bündnis würdigt unsere religiösen Unterschiede, auch und gerade wenn es dem Frieden dient, nach dem das menschliche Herz hungert. Wir versammeln uns in Hoffnung, in der Überzeugung, dass das Heilige die ganze Menschheit dazu beruft, gemeinsam Verantwortung für unser gemeinsames Gut zu übernehmen, die Fürsorge füreinander, die Erde und ihr ganzes Geflecht des Lebens.

Uns sind die Lasten wohlbekannt, die die menschliche Familie zu tragen hat. Wir kennen den Krieg nur allzu gut, er, der das Leben der Unschuldigen vernichtet, verstümmelt und zerstört. Wir kennen das erdrückende Gewicht extremer Armut, sie, die sie verkümmern lässt, erniedrigt und raubt. Zehn Prozent unserer menschlichen Familie sind bitterarm. Wir wissen, dass mehr als 70 Millionen von uns im Heiligtum ihrer Wohnstätten keine Zuflucht mehr finden. Es sind Flüchtlinge, Binnenvertriebene und Menschen, die gezwungen sind, immer wieder weiterzuziehen. Wir wissen, dass wir uns in ein schreckliches neues Wettrüsten begeben haben, inklusive der Modernisierung von Atomwaffen, der Bewaffnung des Weltraums und künstlicher Intelligenz sowie neuen Strahlenwaffen. Diese Bedrohungen werden durch die katastrophale Erwärmung der Erde, die Dezimierung der Regenwälder, die Vergiftung der Meere und die Erstickung des Lebensgeflechts massiv verschärft.

Wir erleben auch eine „Metakrise“, wie wir sie nennen, unserer modernen Weltordnung, jener, die hinter den Vereinten Nationen und den Abkommen unserer Staaten zu Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und internationalem Handel steht. Freiheiten jeglicher Art, der Schutz von Minderheiten und das Gewebe unserer Verbundenheit sind auf der ganzen Welt unter Beschuss geraten. In wirtschaftlicher Hinsicht verfügt die kümmerliche Handvoll der reichsten Menschen über mehr Vermögen als vier Milliarden Menschen. Über die politische und wirtschaftliche Dimension dieser Metakrise der Ordnung hinaus erleben wir heute eine „Metakrise“ der Wahrheit, die das Konzept von „Wahrheit“ in Frage stellt, während „Fake News“ auf die Erzielung von politischen oder kommerziellen Vorteilen hin maßgeschneidert werden. Wir werden heutzutage hin- und hergeworfen zwischen unbequemen Wahrheiten und zweckdienlichen Lügen. Es ist höchste Zeit: Wir sind zu sofortigem Handeln aufgerufen.

Für unsere gemeinsame Zukunft sorgen: das Gemeinwohl für alle fördern

Unserer Herzen innerlichste Erfahrungen des Heiligen und unser äußerlichstes soziales Leben verlangen nach ihrer Verbindung in einem Zustand des positiven Friedens, den Religions for Peace als „Gemeinwohl für alle“ bezeichnet. Unsere unterschiedlichen Erfahrungen des Heiligen machen deutlich, dass wir im Kern beziehungsorientiert sind: radikal verbunden mit dem Heiligen und mit allem, was durch das Heilige hervorgerufen oder vom Heiligen umschlossen wird. Da es fundamental beziehungsbezogen ist, ist unser Gemeinwohl von Natur aus geteilt mit anderen. Indem wir anderen helfen, wird uns selbst geholfen, indem wir anderen schaden, verletzen wir uns selbst. Wir erkennen die unschätzbare Rolle von Frauen und Jugendlichen in unserer Mitte uneingeschränkt an und werden ihre unersetzlichen Beiträge immer wieder in den Vordergrund rücken. Unsere unterschiedlichen Traditionen betonen, dass das Heilige uns sowohl als verantwortlich für einander als auch abhängig voneinander bestimmt und ebenso als verantwortlich für die Erde, die uns trägt, und abhängig von dieser. Das Gemeinwohl für alle ruft uns dazu auf, uns für alle Formen einzusetzen, in denen die moderne Weltordnung unsere Menschenwürde stärkt. Ebenso fordert es uns dazu auf, in konstruktivem Geist all das anzubieten, was unsere Religionen beitragen und ergänzen können. Wir bejahen die Anerkennung der elementaren Wichtigkeit von Freiheit durch die moderne Weltordnung. Gleichzeitig sind wir aufgerufen, mit gutem Beispiel voranzugehen und das heilige Fundament der Freiheit zu bezeugen. Sie führt durch die Verzweiflung des Nihilismus, lehnt den Narzissmus des stumpfen Konsumdenkens ab und kommt als radikale Fürsorge für alle zum Ausdruck.

Zu unserem Bekenntnis zur Bedeutung der Menschenrechte tragen wir unser grundlegendes Anliegen der Kultivierung von Tugenden bei, jene gewohnheitsmäßige Orientierung an Werten, die unser menschliches Potenzial formt. Dazu gehört unser Potenzial für die erhabensten Zustände der Barmherzigkeit, des Mitgefühls und der Liebe. Für uns ist das Streben nach Tugendhaftigkeit keine Handlung Einzelner; es ist vielmehr ein Akt der „Solidarität“, der nur durch Großzügigkeit und gegenseitige Liebe verwirklicht werden kann. Die Kultivierung von Tugend bekämpft die Ignoranz und den Egoismus von Individuen und Gruppen, die authentische Gemeinschaft zerstören.

Gemeinwohl für alle erfordert auch einen robusten Begriff des „gemeinsamen Gutes“, das uns alle in unseren Bemühungen unterstützen kann, unsere durch Rechte geschützte Menschenwürde virtuos zu entfalten. Das höchste Gut ist für uns das Heilige, auch wenn wir es unterschiedlich verstehen. Zum gemeinsamen Gut gehört die Erde mit ihrer Luft, ihrem Wasser, ihrem Boden und ihrem Geflecht des Lebens. Das gemeinsame Gut umfasst auch gerechte Institutionen, die jeder und jedem Einzelnen helfen, ihre und seine Menschenwürde zu entfalten. Diese rufen uns alle zu einer gemeinsamen und dankerfüllten Verantwortung auf. Jeder Mensch soll aus dem gemeinsamen Gut schöpfen; jeder soll helfen, es aufzubauen.

Das Gemeinwohl für alle zu fördern ist konkret. Wir verpflichten uns, das Gemeinwohl für alle zu fördern, indem wir gewalttätige Konflikte verhindern und transformieren, gerechte und harmonische Gesellschaften fördern, die nachhaltige und ganzheitliche menschliche Entwicklung unterstützen und die Erde schützen.

Verhinderung und Transformation gewaltsamer Konflikte

Wir verpflichten uns, gewalttätige Konflikte zu verhindern, indem wir die Friedenserziehung – vom frühen Kindes- bis ins Erwachsenenalter und in allen unseren Religionsgemeinschaften – fördern und uns auf gemeinsame Werte, Religionskompetenz und Narrative des Friedens konzentrieren. Wir werden Kompetenzen auf dem Gebiet des Konfliktmanagements aufbauen, mit denen die Ursachen von Konflikten gewaltfrei beseitigt werden können. Unser Engagement für die Transformation gewalttätiger Konflikte wird in unserer Versammlung von den religiösen Oberhäuptern aus Myanmar, der Demokratischen Republik Kongo, der Zentralafrikanischen Republik, Nigeria und dem Südsudan in die Tat umgesetzt. Unser Engagement findet auch seinen Ausdruck in den religiösen Frauen, die im Plenum der Versammlung durch Vertreterinnen aus dem Nahen Osten und Nordafrika repräsentiert werden. Auch haben sich religiöse Menschen aus Nord- und Südkorea dafür eingesetzt, die Bedingungen für Frieden auf der koreanischen Halbinsel zu schaffen. Diese religiösen Oberhäupter haben sich während der Versammlung in privatem Rahmen getroffen, um sich gegenseitig als Partnerinnen und Partner, Friedensstifterinnen und Friedensstifter, Heilerinnen und Heiler zu unterstützen. Wir werden ihre Anstrengungen in ihren jeweiligen Ländern und Regionen unterstützen. Wir haben die Friedenscharta für Vergebung und Versöhnung in der Überzeugung verabschiedet, dass es zur Transformation gewalttätiger Konflikte der Heilung historischer Wunden und schmerzhafter Erinnerungen, der Vergebung und der Versöhnung bedarf. Wir verpflichten uns, Anstrengungen zur Heilung in unsere gesamte Konfliktlösungsarbeit zu integrieren.

Um unser Engagement für die atomare Abrüstung zu bekräftigen, haben wir uns verpflichtet, vollwertiger Partner der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen zu werden. Wir verurteilen die Existenz von Atomwaffen, bekunden unsere Unterstützung für den Vertrag zum Verbot von Atomwaffen und werden die religiösen Gemeinschaften für diese Ziele bilden, mobilisieren und engagieren. Wir fordern auch sofortige Schritte zur allgemeinen Abrüstung, einschließlich aller Vernichtungswaffen – konventionelle, nukleare, chemische, biologische und neu entstehende.

Förderung gerechter und harmonischer Gesellschaften

Es macht uns Mut, dass multireligiöse Akteure und Institutionen daran arbeiten, gerechte und harmonische Gesellschaften im lebendigen Geist der Fürsorge und des Engagements für Gerechtigkeit zu gestalten. Wir verpflichten uns zu weiteren gemeinsamen Maßnahmen zur Bekämpfung von Ungerechtigkeit, darunter Massenvertreibung, und den aus den Migrationskrisen resultierenden Herausforderungen – sowohl für Geflüchtete und Zuwanderer als auch für die Gesellschaften, in denen sie sich niederlassen. Wir werden die globale Krise der erzwungenen Migration zu einer Priorität unseres Handelns machen. Wir werden mit gutem Beispiel vorangehen, indem wir „den anderen willkommen heißen“. Wir verpflichten uns, den Respekt, die Gegenseitigkeit und die Solidarität zu stärken, die für die Förderung, den Aufbau und den Erhalt gerechter, harmonischer und vielfältiger Gemeinschaften wesentlich sind. Eine Querschnittsaufgabe kann die Bildung, einschließlich der religiösen Bildung, vom frühen Kindes- bis ins Erwachsenenalter sein, die einen Schwerpunkt auf geteilte bürgerschaftliche Tugenden und die Wertschätzung gesellschaftlicher Vielfalt legt. Wir werden eine Allianz der Tugend auf Grundlage einer Erklärung der Tugenden entwickeln, die von religiösen Traditionen und sonstigen Vermächtnissen der Tugenden weithin geteilt werden.

Wir verpflichten uns, Kinder, schutzbedürftige Personen und Gemeinschaften zu schützen und uns für ihre Menschenrechte und ihr Wohlergehen angesichts schweren Leids einzusetzen. Wir werden energisch Stellung beziehen und gegen Korruption und für verantwortungsvolle Regierungsführung tätig werden. Wir verpflichten uns zu fürsorglichen und entschlossenen Anstrengungen, um die Ursachen und die Realität von weit verbreitetem Missbrauch und Gewalt, insbesondere gegen Frauen und Kinder, zu bekämpfen. Wir verpflichten uns auch zu gemeinsamen Anstrengungen innerhalb unserer Gemeinschaften und mit Partnerinnen und Partnern aus Zivilgesellschaft und Regierungen, um auf der ganzen Welt uneingeschränkte Religionsfreiheit zu gewährleisten. Wir Menschen des Glaubens sehnen uns danach, heilige Stätten zu schützen und uns in ihnen sicher zu fühlen. Wir werden heilige Stätten vor Gewalt und Schändung bewahren und beschützen und arbeiten mit der Allianz der Zivilisationen der Vereinten Nationen zusammen, um diese Stätten mit lebendigen Ringen für den Frieden zu umschließen.

Nachhaltige und ganzheitliche menschliche Entwicklung und Schutz der Erde

Wir bekennen uns zur menschlichen Entwicklung, wie sie in den Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDGs) festgeschrieben ist. Wir werden die nachhaltige und ganzheitliche menschliche Entwicklung voranbringen, indem wir Werte der Gerechtigkeit, inklusiven Gesellschaft und Chancengleichheit fördern, wie sie auch in den SDGs formuliert sind. Wir werden einsetzen für die persönliche Verantwortung für nachhaltigen Konsum, die Würde der Arbeit und die gerechte Verteilung des Vermögens. Wir werden die Erkenntnisse der Wissenschaft würdigen und den Fortschritt der Digitaltechnologie zum Wohle aller unterstützen. Wir werden den allgemeinen Zugang zu Bildung fördern. Wir werden die Stellung von Frauen und Jugendlichen in der Gesellschaft und ihre Führungsrolle in Institutionen auf lokaler, nationaler, regionaler und globaler Ebene weiter stärken.

Wir verpflichten uns zu unverzüglichen Maßnahmen gegen die Klimakrise. Wir werden die Religionsgemeinschaften zum Schutz der Erde anspornen – einschließlich der Stärkung von „grünen Gemeinden“. Unsere indigenen Brüder und Schwestern, Anführer und Partner im Kampf gegen die Umweltzerstörung, rufen uns in Erinnerung: „Wenn Mutter Erde leidet, leiden die Menschen; wenn die Menschen leiden, leidet Mutter Erde.“ Wir, Beschützer und Hüter der Erde, schließen uns der Faiths for Forests Deklaration an. Wir verpflichten uns, das Bewußtsein um die Abholzung der tropischen Regenwälder zu schärfen und unsere Religionsgemeinschaften über diese verheerende spirituelle Krise und Krise der Nachhaltigkeit aufzuklären. Wir werden geeignete Maßnahmen ergreifen, um einen ökologisch ausgewogenen und nachhaltigen Lebensstil zu praktizieren, und uns für Regierungsmaßnahmen zum Schutz der Regenwälder, zur Wahrung der Rechte der indigenen Völker und zur Erfüllung der Verpflichtungen aus dem Pariser Abkommen zum Klimawandel einsetzen.

Aufruf zum gemeinsamen Handeln

Geleitet von den Prinzipien unserer eigenen religiösen Traditionen und unter Achtung religiöser Unterschiede verpflichten wir uns persönlich, positiven Frieden als Gemeinwohl für alle zu fördern. Wir werden mit engagierten Gläubigen anderer Religionen und allen Frauen und Männern, die guten Willens sind, partnerschaftlich zusammenarbeiten, um:

• mit dem Institut für Wirtschaft und Frieden Materialien zum Thema positiver Frieden und Workshops für multireligiöse Kontexte zu entwickeln;

• Instrumente und Schulungen zur positiven Rolle der Frauen bei der Konfliktverhütung und -transformation sowie zur Problematik der Gewalt gegen sie zu entwickeln;

• vergangene Verletzungen anzuerkennen – auch über religiöse Traditionen hinweg – und öffentliche Akte der Vergebung und Versöhnung zu fördern;

• uns für das Wohlergehen von Geflüchteten und Migrantinnen und Migranten einzusetzen und Begleit- und Unterstützungsprogramme zu entwickeln;

• die Religionsgemeinschaften aufzufordern, ihre Ressourcen in Übereinstimmung mit der Erreichung der SDGs zu verwenden;

• die Öffentlichkeit gemeinsam mit der Interreligiösen Regenwaldinitiative und durch die Annahme und Bekanntmachung der Faiths for Forests Deklaration über die Abholzung von Wäldern zu sensibilisieren, Maßnahmen gegen den Klimawandel im Allgemeinen zu ergreifen und uns für eine Politik zum Schutz der Erde einzusetzen;

• Versöhnung als eine unverzichtbaren Dimension des positiven Friedens innerhalb von Individuen und zwischen Gemeinschaften und Nationen gemäß der Friedenscharta für Vergebung und Versöhnung voranzubringen;

• uns zu verpflichten, als vollwertiger Partner die Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen zu unterstützen;

• eine Allianz der Tugend auf Grundlage einer Erklärung der Tugenden zu schließen, die von religiösen Traditionen und sonstigen Vermächtnissen der Tugenden weithin geteilt werden;

Wir sprechen mit Demut und bitten um Unterstützung und Segen.

Editorische Anmerkungen

Quelle: Ring for Peace / Religions for Peace.