II. Deutsche Ökumenische Versammlung (Erfurt)
Bericht der Arbeitsgruppe 1.3 „Verhältnis der Kirchen zum Judentum“
12.-16.Juni 1996
Überwindung des Antijudaismus
- Die Verwobenheit des Christentums mit dem Judentum ist bislang im Konziliaren Prozeß zu wenig bewußt gewesen und nicht thematisiert worden.
- Gerade weil es um den Aspekt der Versöhnung geht, muß die Bewußtmachung und Thematisierung erfolgen - ausgehend vom Konziliaren Prozeß - in Verkündigung, Unterricht und kirchlicher Bildungsarbeit.
- Das Verhältnis der Kirchen und ihrer Mitglieder (in Deutschland) zum Judentum wird noch immer verharmlost und beschönigt: Die verschiedenen Wurzeln der Judenfeindschaft - theologische, ökonomische, soziale, biologische, politische - sind zu wenig offengelegt worden und wirken deshalb weiter.
- Die weiterbestehende geheime Sympathie mit antijüdischen Einstellungen muß aufgeklärt und überwunden werden. Dabei haben die Kirchen eine unverzichtbare Aufgabe. Doch ist einem zu leichtfertigen Reden von Versöhnung im kirchlichen und politischen Bereich zu begegnen mit dem Verweis auf das jüdische Verständnis, das vom konkreten Gegenüber zweier Personen ausgeht, zwischen denen es um Schulderkenntnis, Schuldbekenntnis und Vergebung geht.
- Wir bitten die Mitgliedskirchen der AcK [Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen], am 27. Januar, dem Tag der Befreiung des KZ Auschwitz, oder am Sonntag danach, der Opfer der Schoa zu gedenken und konkrete Schritte im Geist der Versöhnung zu gehen.
- Die Bibelwissenschaft ist in unseren Kirchen aufgeteilt in zwei getrennte Disziplinen: die Exegese des "Alten"- und des "Neuen Testamentes". Zu leicht wird dadurch das Zweite Testament als Erfüllung des Ersten Testamentes verstanden; die genuine jüdische Kanonbildung sowie die jüdische Bewertung und Exegese der einzelnen Schriften ("Tora", "Propheten" und "Schriften") werden übersehen. (Beispiel: 2 Chronik 36,23 als Abschluß der jüdischen Bibel fordert dazu auf, hinaufzuziehen nach Jerusalem; Maleachi 3,23 f. als Abschluß des christlichen "Alten Testamentes" findet seine direkte Fortsetzung in Lukas 1,17).
- Die Exegese in der christlichen Theologie und die Bibelarbeit in der Gemeinde haben die jüdische Schriftauslegung aufzunehmen. Die Kooperation zwischen christlicher Exegese und Judaistik ist von daher zu intensivieren. Lehrende und Studierende sollten verpflichtet sein, auch durch Jüdinnen und Juden selbst die jüdische Interpretation der Bibel und ihrer Wirkungsgeschichte im Judentum zu hören. Ebenso sollten sie verpflichtet sein, kritisch die judenfeindliche Wirkungsgeschichte in der christlichen Rezeption der Bibel zu bedenken.
- Viele Texte und Darstellungen in der langen Tradition kirchlicher Lehre, Verkündigung, Liturgie und Kunst beinhalten noch immer antijudaistische Einstellungen und vereinnahmen in einer Israel enterbenden Weise jüdische Tradition für die Kirche (z. B. "das wahre Israel", das Volk Gottes, die christologische Interpretation der Psalmen).
- Gebetstexte und Lieder sollten von Antijudaismen befreit werden. Wo christologische oder trinitarische Formulierungen antijüdische Engführungen enthalten, müssen diese erkannt und benannt werden. Das gilt ebenso für antijüdische Formulierungen in neutestamentlichen Schriften. Die vorgegebenen Perikopenreihen und die Kommentare dazu bedürfen einer Revision. Hier liegt eine Aufgabe derer, die für die Gestaltung der Gottesdienste und des Unterrichts verantwortlich sind.
- Neue offizielle kirchliche Texte über das Verhältnis der Kirchen zum Judentum und zum Verständnis der Heiligen Schrift finden - auch bei Kirchenleitungen - zu wenig Beachtung.
- Ein (selbst)kritisches Wahrnehmen von christlichen Aussagen zum Judentum und zur Heiligen Schrift ist (weiter)zuentwickeln und in den Kirchen auszuhalten. Die Einsichten, die in neuen offiziellen kirchlichen Texten formuliert wurden, müssen konsequent in der kirchlichen Lehre, Verkündigung und Liturgie wirksam werden. Die Verkündigung des Evangeliums setzt die Anerkennung des lebendigen Erbes des Judentums voraus.
- In der Einheitsübersetzung wird der Name Gottes (das Tetragramm JHVH) in die deutsche Sprache übernommen. Damit wird zugleich in der christlichen Liturgie entgegen der am 1. Gebot orientierten jüdischen Tradition und auch entgegen der bisherigen christlichen Tradition dieser Gottesname in einer die Jüdinnen und Juden brüskierenden Weise ausgesprochen.
- Das 1. Gebot und die ihm folgende jüdische Praxis bedürfen ausdrücklicher Erklärung. Mit den Juden sollten die Christen den einen Gott als den HERRN benennen (bzw. DU, ER, IHN usw.).
- Durch das Nichtbedenken der jüdischen Tradition und die unkritische Übernahme hellenistischer Denkweisen wird die ursprüngliche Spannung biblischer Bilder und Worte eindimensional oder sogar dualistisch aufgelöst, was entweder zur Verarmung und Mißdeutung führt (z. B. Frieden, Gerechtigkeit) oder sogar zur Verteufelung (vgl. das Bild der Saraph-Schlangen, die in Numeri 21,6 mit "Giftschlangen" und in Jesaja 6,2 mit Seraphim übersetzt werden; siehe dazu die Verteufelung der Schlange in Offenbarung 12,9).
- Es sind Übersetzungen zu empfehlen, welche die Fülle der hebräischen Wortbedeutungen zu wahren versuchen (z. B. die Verdeutschung von Buber-Rosenzweig).
- Die Offenheit der messianischen Vorstellungen des lebendigen Judentums wird im Christentum oft nicht ausgehalten, sondern führt zu unversöhnter Gegnerschaft. Seine Hoffnungssymbole (z. B. das Neue Jerusalem) werden vereinnahmt und nicht als genuin jüdisch wahrgenommen.
- Die christliche Verkündigung muß lernen, das Judentum als eine dem Christentum bereits vorauslaufende und mit ihm gleichzeitig existierende lebendige und vielfältige Größe zu erkennen. Das verbietet jede triumphalistische Überheblichkeit (vgl. Römer 11,20). Es bedarf der Einübung, Unterschiede - z. B. im Messiasverständnis - in gegenseitiger Achtung auszuhalten. Die biblischen Hoffnungssymbole sind ein Anstoß zum gemeinsamen Bemühen um die Gestaltung einer Welt in Gerechtigkeit und Frieden.
- Der noch weiter wirksame Absolutheitsanspruch der christlichen Kirchen schließt das Judentum aus der Heilsgemeinschaft des Volkes Gottes aus - entgegen Römer 9-11.
- In der Praxis der christlichen Kirchen bedarf es der Erkenntnis, daß Wahrheit in geschichtlichem und sozialem Kontext ausgedrückt wird. Jüdinnen und Juden suchen ebenso wie Christinnen und Christen nach tieferer Wahrheit. Sie halten unterschiedliche Ausdrucksweisen der Wahrheit aus und versuchen, die Wahrheit im (gemeinsamen) Handeln zu bewähren.
- In der hebräischen Bibel und im Judentum sind Religion und Ethik in einer Weise verknüpft, daß z. B. der Schöpfungsglaube, die Gottebenbildlichkeit des Menschen und die Befreiung aus Versklavung und Unterdrückung konkrete ökonomische Folgen haben (z. B. Schabbat, Jubeljahr). Im Christentum werden z. B. die Worte Sünde, Gerechtigkeit und Frieden nicht mehr in ihrer materiellen Konkretheit verstanden. Sie werden vergeistigt und individuallsiert. Das Christentum ignoriert weitgehend, daß das Recht auf Beheimatung und das Gebot der Fremdenliebe Kernpunkte der jüdischen Ethik sind. "Bewahrung der Schöpfung" ist ebenso ein Gebot der hebräischen Bibel wie der Friedensauftrag und die Forderung, gerecht zu handeln.
- An der gemeinsamen Schrift orientierte (möglichst gemeinsame) Reflexion des Handelns sollte für die Gestaltung gesellschaftlicher Wirklichkeit und des Rechts fruchtbar gemacht werden.
- Wir sind mitverantwortlich für das Lebensrecht des jüdischen Volkes in der Diaspora und im Staat Israel. Wir haben alles zu vermeiden, was zu einer Polarisierung zwischen dem israelischen und palästinensischen Volk führt. Wir haben vielmehr dazu beizutragen, daß ein Zusammenleben in Frieden und Gerechtigkeit möglich ist.