Das gemeinsame Erbe der Christen und Juden

Hirtenbrief der polnischen Bischöfe zum 50-jährigen Jubiläum von Nostra aetate

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Heuer begehen wir das 50. Jubiläum von Nostra aetate, der Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils über das Verhältnis der katholischen Kirche zu den nichtchristlichen Religionen (28. Oktober 1965). Aufgrund der Beobachtungen bemerkten die Konzilsväter, dass der interreligiöse Dialog für die Einheit der Menschheit, für den Frieden und für die Zussammenarbeit aller Nationen notwendig ist. Bevor man das Wort Globalisierung verwendete, zeigte das Vatikanische Konzil etwas Geistliches auf, das in allen Religionen ist. Das ist das Fundament der Einheit der menschlichen Gemeinschaft auf der ganzen Welt. Die prophetische Stimme der Kirche am Anfang der Globalisierungs-Epoche wurde zu einem „Ja“ für den interreligiösen Dialog.

Die Konzliserklärung spricht besonders über den Dialog zwischen Christen und Juden. Dessen  Besonderheit ist mit der geistlichen Verbindung beider Religionen verbunden. Im Geist des Konzils nannte der Hl. Johannes Paul II. die Juden „ältere Brüder im Glauben“. Benedikt XVI. sagte dazu, dass sie für uns „Väter des Glaubens“ sind.

Der Hl. Johannes Paul II. entfaltete den Gedanken des II. Vatikanums. Er sagte, wer Jesus Christus begegnet, begegnet auch dem Judentum. Das bedeutet, dass das Judentum für Christen keine äußerliche, sondern eine innerliche Religion ist. Die Besinnung auf das Geheimnis der Kirche führt zum Treffen mit den Juden, die Teilnehmer des Bundes mit Gott sind. Diesen hat Gott mit ihnen in der Vergangenheit geschlossen und diesem sind viele Nachkommen Abrahams immer treu. So sind sie Zeugen des einzigen Gottes, des Schöpfers des Himmels und der Erde, der immer in der Geschichte des Menschen anwesend ist. Das geistliche Erbe der Juden wurde das Erbe der Christen, die, nach dem Hl. Paulus, in Mehrheit aus dem Heidentum stammen und als wilde Schösslinge eingepfropft sind (Röm 11,17-18). Dank der alten und neuen religiösen Erfahrungen der Juden, die Gott treu und untreu waren, verstehen Christen ihre eigene geistliche Identität, deren Wesen der lebendige Bund mit dem wahren Gott in Jesus Christus ist, besser.

Nostra aetate wurde ein Durchbruch in den gemeinsamen Beziehungen zwischen Christen und Juden. Es hat einen Weg zur Reinigung des Gedächtnisses vorbereitet. In der Vergangenheit wurden nämlich die christlich-jüdischen Bande nicht wahrgenommen, sowie ihnen in der Praxis nicht selten widersprochen, was zur gegenseitigen Feindschaft führte. Der Antijudaismus und der Antisemitismus sind Sünden gegen die Nächstenliebe; Sünden, die die Wahrheit über die christliche Identität zunichte machen. Deswegen kann man sie nicht durch kulturelle, politische und ideologische Modalitäten lindern. Die Reinigung des Gedächtnisses, zu der der Hl. Johannes Paul II. so stark aufrief und die die polnische Bischofskonferenz erfüllte, stammt aus der Unterscheidung der Verpflichtungen des Christentums vom Verhalten der Personen, die die Botschaft des Evangeliums entstellten. Das Bekenntnis der Sünde des Antisemitismus ist eine reife Frucht der Bekehrung und des Glaubens an das Evangelium. Sie entspringt aus den tiefsten religiösen und moralischen Quellen des Christentums.

Nach der Konzilserklärung beklagt die Kirche, die alle Verfolgungen gegen irgendwelche Menschen verwirft, nicht aus politischen Gründen, sondern auf Antrieb der religiösen Liebe des Evangeliums alle Hassausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus, die sich zu irgendeiner Zeit und von irgend jemandem gegen die Juden gerichtet haben. Diese Worte wurden durch zahlreiche jüdische Gemeinden angenommen. Nach der langen Fremdheit war es nicht so einfach, einen Dialog zwischen Christen und Juden zu beginnen. Sein Aufschwung in den letzten fünfzig Jahren ist ein Beweis für die tiefe Wandlung der Mentalität unter den Christen und Juden.

Eine Erschütterung war für Christen die von Nazis geplante Vernichtung, die vor allem in Polen durchgeführt wurde. Die Erinnerung an diese schrecklichen Ereignisse bildet gleichzeitig eine Anklage und eine Herausforderung. Diese barbarische Verurteilung der Juden traf mehrfach auf Gleichgültigkeit eines Teils der Christen. Das jüdische Los im 20. Jahrhundert wurde ein Leiden in Einsamkeit. Wenn Christen und Juden die religiöse Geschwisterlichkeit praktiziert hätten, hätten viel mehr Juden Rettung und Hilfe bei Christen gefunden. Deswegen ist es wichtig, sich an jene Christen zu erinnern, die von den Juden „Gerechte unter den Völkern“ genannt werden. Diese riskierten ihr eigenes Leben und das ihrer Verwandten, indem sie Juden versteckten.

Nostra aetate war eine Inspiration für den Sel. Paul VI., den Hl. Johannes Paul II., Benedikt XVI. und Franziskus, um den christlich-jüdischen Dialog intensiver zu entfalten. Die Päpste unserer Zeit wurden grosse Zeugen der Geistigkeit des Dialogs. Im Dialog mit Juden aber gaben sie der katholischen Kirche eine reiche Lehre und persönliche Gesten der Offenheit, der Freundschaft und des Gebets. Ein wunderbares Zeichen bleibt immer der Besuch Johannes Pauls II. in der römischen Synagoge. Er war der erste Papst nach dem Hl. Petrus, der die Synagoge in der Nähe des Vatikans besuchte. So verkleinerte er die Distanz zwischen dem Glauben beider Religionen. Bevor Kard. Bergoglio Papst Franziskus wurde, erfuhr er eine tiefe Freundschaft und Zusammenarbeit mit dem Rabbiner aus Buenos Aires. Alle nachkonziliaren Päpste, beginnend mit Paul VI., waren im Heiligen Land. Auf diese Weise zeigten sie die beiden Leitmotive der Pilgerschaft: die Anwesenheit bei der Quelle unseres Glaubens und das Treffen mit heutigen Juden.

Die katholische Kirche in Polen ist nach dem II. Vatikanum in den Weg des Dialogs mit dem Judentum eingetreten. Sie hat die Beschlüsse von Nostra aetate in Kraft gesetzt. Auf diesen Dialog in unserer Heimat hatte das Pontifikat Johannes Pauls II. großen Einfluss. Seine Lehre und sein Zeugnis waren eine Inspiration und ermutigten zu Ausdauer. Die Polnische Bischofskonferenz rief das Komitee zum Dialog mit dem Judentum ins Leben, dessen Rolle die Koordination von verschiedenen Formen des Dialogs ist. Im Jahr 1997 fand der „Tag des Judentums“ das erste Mal in Polen statt. Jedes Jahr findet die entsprechende Hauptfestveranstaltung in einer anderen Diözese statt. Viele Leute engagieren sich, u.a. aus den Pfarren, aus der lokalen Obrigkeit, aus den Schulen und aus den Kulturinstitutionen. Die darauf folgenden Tage des Judentums zeigen, wie viel schon im Bereich der Dialog-Kultur getan wurde. Auf diese Weise machen sich die beiden Gemeinschaften mit einander vertraut und finden die religiöse Geschwisterlichkeit wieder. Das Bauen dieser Geschwisterlichkeit und die Formung der richtigen Mentalität der Gläubigen verlangen viele Treffen, eine gemeinsame theologische Reflexion und ein gemeinsames Gebet, das schon an verschiedenen Orten stattfindet. Es ist notwendig, dass die Kirche immer wieder über die gemeinsamen Bande beider Religionen lehrt und so die Heilige Schrift erklärt, dass Christen sich ihrer jüdischen Wurzeln bewusst werden.

Die Grundbotschaft von Nostra aetate konzentriert sich auf das gemeinsame geistliche Erbe von Christen und Juden. Deswegen kann der christlich-jüdische Dialog nie als ein religiöses Hobby einer kleinen Gruppe von Befürwortern behandelt werden. Er soll nämlich die pastoralen Hauptströmungen wie Katechese, Verkündigung und Pilgerschaft ins Heilige Land durchdringen. Das Bewusstsein der jüdischen Wurzeln des Christentums ermöglicht es uns, Gottes Plan besser zu verstehen, an dessen Anfang das auserwählte Volk steht. In seinem Schoß bereitet Gott die Menschwerdung des Sohnes Gottes vor.

Der Dialog erscheint als eine der seligen Früchte der christlich-jüdischen Treffen. Die Kultur des Dialogs entfaltet sich, wenn sie jeden Tag gepflegt wird. Die Praxis des Dialogs zwischen Christen und Juden soll das dauerhafte Verhalten prägen, das sich in Offenheit für die Anwesenheit und Nöte anderer äußert. Die universale Tugend des Dialogs beeinflusst sozusagen die Umwandlung der ganzen Welt.

Deswegen ist auf Grund des Dialogs zwischen Christen und Juden ein Widerspruch gegen die bisweilen entstehenden Stereotype zum Thema „Juden“, ja sogar „Antijudaismus ohne Juden“ notwendig. In vielen Orten unserer Heimat leben keine Juden. Es blieben nur die Spuren ihrer Religion und Kultur. Das sind u.a. sehr oft ungepflegte Friedhöfe. Die Nächstenliebe, die geistliche Verbundenheit mit den älteren Brüdern im Glauben verpflichten uns zur Pflege vieler Orte, die ein Zeichen der sehr langen Präsenz der Juden in Polen sind, und zum Gedenken an ihren Beitrag zur Kultur unserer Heimat, die in Bezug auf Nationalität und Religion immer sehr unterschiedlich war.

Wir hoffen, der katholisch-jüdische Dialog dient der Verwandlung unserer Welt. Während der ersten und unvergesslichen Pilgerreise in unsere Heimat betete der Hl. Johannes Paul II. um den Geist, der das Gesicht der Erde erneuert, mit Worten aus den Psalmen. Seither hat sich viel in unserer Heimat geändert. Doch bleibt der Durst nach der Verwandlung des Geistes dieser Erde bestehen, und sie ist die Erfahrung unserer Generationen. Der lebendige christlich-jüdische Dialog, den die Konzilserklärung Nostra aetate verkündete, begründet die Erneuerung unserer Erde, an der Christen und Juden gemeinsam die Herrlichkeit Gottes, die Schöpfung Gottes, die Menschenwürde und die Bestimmung des Menschen zum ewigen Leben bezeugen wollen. Wir sind den jüdischen religiösen Gemeinden, die in den letzten Jahrzehnten in Polen entstanden sind, dafür dankbar, dass sie offen für die Dialoginitiativen sind. Wir freuen uns über die gegenwärtigen geschwisterlichen Bande, die uns erlauben das gemeinsame geistliche Erbe zu erneuern und zu vertiefen.

Editorische Anmerkungen

Übersetzung aus dem Polnischen von Pjotr Halczuk.