Liebe Freunde!
Ich freue mich, wieder eine jüdische Delegation zu empfangen, nachdem die Pandemie viele Besuche in den letzten beiden Jahren verhindert hat. Eure Einrichtung hat dagegen eine lange Geschichte von Kontakten mit dem Heiligen Stuhl, seit der Zeit der Veröffentlichung der Erklärung Nostra aetate.
In dieser ganzen Zeit habt ihr euch für die humanitäre Arbeit eingesetzt. Notleidende Menschen haben ein Recht auf Hilfe und Solidarität von Seiten der Gemeinschaft, die sie umgibt; sie haben ein Recht vor allem auf Hoffnung. Und wenn die Pflicht, für sie Sorge zu tragen, alle betrifft, so gilt das noch mehr für uns Juden und Christen: Den Armen zu helfen bedeutet für uns auch, den Willen des Allerhöchsten in die Tat umzusetzen, von dem es im Psalm heißt: Er »beschützt die Fremden, er hilft auf den Waisen und Witwen, doch den Weg der Frevler krümmt er« (Ps 146,9). Das heißt, er trägt Sorge für die schwächeren sozialen Kategorien, für die Menschen, die am stärksten ausgegrenzt sind.
Er kommt den Letzten, den Armen, den Kranken zu Hilfe: Und das ist der konkretes-te Weg, eine größere Geschwisterlichkeit zu fördern. Denn im Hinblick auf viele Konflikte und gefährliche Extremismen, die die Sicherheit aller gefährden, ist zu beobachten, dass den größten Gefahrenfaktor oft die Armut darstellt – die materielle Armut, die Bildungsarmut, die geistliche Armut –, die zum fruchtbaren Boden wird, um Hass, Zorn, Frus-tration und Radikalismus zu nähren.
Liebe Freunde, wir leben in einer Zeit, in der der Friede in vielen Teilen der Welt bedroht ist: Partikularistische und nationalistische Perspektiven, getrieben von egoistischen Interessen und Profitgier, scheinen immer mehr die Oberhand gewinnen zu wollen. Aber dadurch wächst die Gefahr, dass am Ende nur die Würde des Menschen verliert und mit Füßen getreten wird. Um der Eskalation des Bösen vorzubeugen, ist es wichtig, sich die Vergangenheit in Erinnerung zu rufen, sich die Kriege in Erinnerung zu rufen, sich die Schoah und viele weitere Grausamkeiten in Erinnerung zu rufen.
Unsere gemeinsame geistliche Erinnerung, bezeugt in der Heiligen Schrift, bringt uns zurück zum ersten Gewaltakt: zu Kain, der seinen Bruder Abel tötet. »Da sprach der Herr zu Kain: Wo ist Abel, dein Bruder? Er entgegnete: Ich weiß es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders?« (Gen 4,9). Kain leugnet zu wissen, wo sein Bruder ist, den er gerade mit eigenen Händen getötet hat. Er ist ihm nicht wichtig: Die Gewalt hat als Begleiterinnen immer die Lüge und die Gleichgültigkeit.
Wo ist dein Bruder? Lassen wir uns herausfordern von dieser Frage, wiederholen wir sie uns oft. Wir dürfen den göttlichen Traum einer Welt von Geschwistern nicht ersetzen durch eine Welt gewalttätiger und gleichgültiger Einzelkinder. Angesichts der Gewalt, angesichts der Gleichgültigkeit führen uns die Heiligen Schriften zum Gesicht des Bruders, zur »Herausforderung des Du«. Die Treue zu dem, was wir sind, zu unserer Menschlichkeit, wird hier bemessen: Sie bemisst sich an der Geschwisterlichkeit, sie bemisst sich am Gesicht des anderen.
In diesem Zusammenhang sind in der Bibel die großen Fragen beeindruckend, die der Allmächtige von Anfang an an den Menschen richtet. Wenn er Kain fragt: »Wo ist dein Bruder?«, so hatte er Adam gefragt: »Wo bist du?« (Gen 3,9). Die »Wo« sind miteinander verbunden: Man kann nicht sich selbst finden, ohne den Bruder zu suchen, man kann nicht den Ewigen finden, ohne den Nächsten anzunehmen.
Es ist gut, dass wir uns dabei helfen, denn in einem jeden von uns, in jeder religiösen Tradition sowie in jeder menschlichen Gesellschaft gibt es immer die Gefahr, Groll zu hegen und Streit mit den anderen zu nähren, und dies im Namen absoluter, ja sogar heiliger Prinzipien zu tun. Es ist die lügnerische Versuchung der Gewalt, es ist die Sünde, die an der Tür des Herzens lauert (vgl. Gen 4,7). Es ist die Täuschung, dass sich Streit mit Gewalt und Krieg lösen lässt. Tatsächlich erzeugt Gewalt immer Gegengewalt, bringen Waffen den Tod und ist der Krieg nie die Lösung, sondern ein Problem, eine Niederlage.
Daher – so heißt es weiter im Bericht der Genesis – »machte der Herr dem Kain ein Zeichen, damit ihn keiner erschlage, der ihn finde« (V. 15). Das ist die Logik des Himmels: den Kreislauf der Gewalt, die Spirale des Hasses zu unterbrechen und zu beginnen, den anderen zu schützen, jeden anderen. Ich wünsche euch, weiterhin dieses Ziel zu verfolgen, die Schwestern und Brüder zu schützen, insbesondere die schwächeren und jene, die vergessen sind. Wir können es gemeinsam tun: Wir können uns einsetzen zugunsten der Letzten, des Friedens, der Gerechtigkeit, der Bewahrung der Schöpfung.
Es hat mir immer am Herzen gelegen, den jüdisch-katholischen Dialog zu fördern und zu vertiefen – schon als Junge, denn in der Schule hatte ich jüdische Kameraden –, einen Dialog, der aus Gesichtern besteht, die einander begegnen, aus konkreten Gesten der Geschwisterlichkeit. Gehen wir gemeinsam voran, auf der Grundlage gemeinsamer geistlicher Werte, um die Würde des Menschen gegen jede Gewalt zu verteidigen, um den Frieden zu suchen. Der Allmächtige segne uns, damit unsere Freundschaft wachse und wir uns zusammen für das Gemeinwohl einsetzen können.
Danke, Schalom!