60 Jahre nach Nostra aetate: Selbstverpflichtung, die bleibt

Erklärung der Jüdisch/Röm.-kath. Gesprächskommission der Schweizerischen Bischofskonferenz, des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes, Zürich, 23. November 2025.

Gesellschaftlicher Kontext
Sechzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils hat sich der historische und politische Kontext für den jüdisch-katholischen Dialog verändert: Der Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und der darauffolgende Krieg stellen eine Zäsur dar, die gewachsenes Vertrauen auf die Probe stellt. Neue Formen eines aggressiven Antisemitismus nehmen weltweit zu und verbreiten sich unter israelkritischem Vorzeichen in weiten Kreisen. Die Erinnerungskultur an die Schoa und das „Nie wieder!“ wird durch eine Auffassung des Zionismus als Kolonialismus verdrängt. Die Kirche in Europa und Nordamerika, wo sich der jüdisch-christliche Dialog entwickelt hat, verliert zudem an gesellschaftlichem Gewicht. Das Christentum erstarkt in Afrika und Asien, wo kaum lebendige Beziehungen mit Juden und Jüdinnen möglich sind und die Sensibilität für die jüdisch-christliche Beziehung fehlt.

Belastbare Dialoggrundlage
Demgegenüber haben bedeutende Erklärungen der jüngeren Vergangenheit dem Dialog eine belastbare Grundlage gegeben. Dazu zählen „Dabru emet – Redet Wahrheit“ (2000) sowie aus dem orthodoxen Judentum „Den Willen unseres Vaters im Himmel tun“ (2015) und „Zwischen Jerusalem und Rom“ (2017). Das Dokument der Päpstlichen Kommission für die religiösen Beziehungen mit dem Judentum „Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt. (Röm 11,29)“ (2015) hat das Verhältnis von Judentum und Christentum theologisch reflektiert. Alle Erklärungen sind getragen von einem Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit wie auch für eine wertbasierte Gesellschaft, die Minderheiten und die Bewahrung der Schöpfung im Blick hat. Der gemeinsame Bezug auf den einen Gott trägt auch den unaufhebbaren Unterschieden zwischen Judentum und Christentum Rechnung.

Bleibende Selbstverpflichtung der Kirche

  • Keine christliche Identität ohne Judentum: Das Volk Gottes besteht aus jüdischen und christlichen Menschen, ein Gottesvolk in zwei Gemeinschaften. Denn „Gott wirkt weiterhin im Volk des alten Bundes“. (Papst Franziskus) Die biblische Bundesgeschichte setzt sich bis heute fort und will für alle Menschen Segen sein, denn alle Menschen sind im Abbild Gottes geschaffen.
  • Keine Israelvergessenheit beim Blick in die Bibel: Nicht nur die Schriften des Alten Testaments teilt die Kirche mit dem Judentum. Auch die neutestamentlichen Schriften sind jüdisch geprägt. Das Deutemuster von Verheißung-Erfüllung kann keine Ersetzung Israels bedeuten. Vielmehr gilt es, die jüdische Identität Jesu und seine Bedeutung für die Kirche tiefer zu verstehen.
  • Keine christliche Praxis ohne Bezug zum Judentum: Christen und Christinnen sind auf das Judentum nicht nur in der Auslegung der Heiligen Schrift verwiesen, sondern auch im Glauben an den einen Gott, im liturgischen Feiern, im Ringen um eine zeitgemäße Ethik und Rechtsprechung sowie im Engagement für die gegenwärtige Gesellschaft. In allen Bereichen der Ausbildung muss das Judentum ein Querschnittsthema sein.
  • Kein christlicher Antijudaismus: Wird die konstitutive Bindung der Kirche an das Judentum verdrängt, entsteht eine Verachtung von Juden und Jüdinnen. Daher muss die Kirche handeln und den christlichen Antijudaismus auch in seinen subtilen Formen, wie das Judentum einfach zu verschweigen, bekämpfen.

Aktuelle Herausforderungen für beide Glaubensgemeinschaften

  • Land und Staat Israel sind in ihrem Verhältnis zum Judentum in der Diaspora vertieft zu reflektieren. Es ist darauf zu achten, dass der jüdisch-christliche Dialog dabei nicht politisch instrumentalisiert wird.
  • Das Phänomen Antisemitismus tritt in einer globalisierten Welt in neuen Formen auf. Zusammen mit anderen religiösen und zivilen Akteuren ist Antisemitismus multiperspektivisch zu erforschen und zu bekämpfen.
  • Mit Blick auf den Islam und auf den jüdisch-islamischen Dialog ist nach der gemeinsamen wie auch der je eigenen Berufung von Judentum, Christentum und Islam im Dienst an der Menschheit zu fragen.

Worauf wir hoffen
„Unwiderruflich sind die Gnadengaben und die Berufung Gottes“. (Röm 11,29) Als Geschwister sind wir einander anvertraut. Vertrauen hat denn auch den Dialog durch die Irritationen und Krisen der letzten sechzig Jahre getragen. Freundschaften sind gewachsen. Partner sind wir geworden. An uns ist es nicht, Dinge zu vollenden, doch wir sind gehalten, sie zu beginnen und beharrlich weiterzuverfolgen. (Avot 5)

Zürich, 23. November 2025
Bischof Joseph Maria Bonnemain, SBK

Präsident Ralph Friedländer, SIG
Prof. Dr. Christian M. Rutishauser SJ, Co-Präsident der JRGK
Rabbiner Dr. habil. Jehoshua Ahrens, Co-Präsident der JRGK
Prof. em. Dr. Verena Lenzen
Prof. em. Dr. Mariano Delgado
Dr. Jonathan Kreutner
Dr. Simon Erlanger
Dr. Richard Breslauer
Dr. Martin Steiner
Pfr. René Alain Arbez
Herr Michel Bollag

Editorische Anmerkungen

Quelle: Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund.