1988-2013: 25 Jahre landeskirchliche Erklärung „Verbundenheit mit dem jüdischen Volk“

Vor 25 Jahren, am 15. September 1988, beschlossen Oberkirchenrat und Synode der Evangelischen Landeskirche in Württemberg die theologische Erklärung „Verbundenheit mit dem jüdischen Volk“. Mit diesem Meilenstein stellte die württembergische nach der rheinischen (1980) und der badischen (1984) als dritte deutsche evangelische Landeskirche ihr Verhältnis zum Judentum auf die Grundlage von Respekt, Aufgeschlossenheit und Dialog anstelle von Überheblichkeit, Verleumdung und Israelvergessenheit. Anlass war der 50. Jahrestag des Judenpogroms am 9. November 1938. Heute rufen wir die Bedeutung dieser Erklärung ins Gedächtnis.

„Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich.“ (Römer 11,18) Mit diesem Bild des Ölbaums und den eingepfropften Zweigen beschreibt der Apostel Paulus die Beziehung der Kirche zum Volk Israel. Dieses Bild durchzieht die gesamte, auch heute noch aktuelle Erklärung und regt dazu an, vor dem Hintergrund christlich motivierter Judenfeindschaft und der Last der Vergangenheit ein neues Kapitel aufzuschlagen in der Begegnung von Christen und Juden. Die Erklärung ermutigt zu dem langen Weg von Misstrauen zur Aufgeschlossenheit dem Judentum gegenüber. Dabei gibt sie der Erinnerung an den Völkermord an den Juden einen festen Platz. Gleichzeitig betont sie, wie stark Judentum und Christentum miteinander verbunden sind. Christliche Identität ist ohne Bezug auf den jüdischen Glauben nicht denkbar. Die Glaubensunterschiede werden anerkannt. Sie sollen aber nicht mehr trennend wirken. Fundamental ist das Bekenntnis zur bleibenden Erwählung Israels. Diese neue Art der Begegnung hat in der württembergischen Landeskirche verschiedene Ausdrucksformen gefunden. Sie ist Inhalt christlicher Erziehung, Verkündigung und Öffentlichkeitsarbeit. Auch in Bibelwochen oder in Thora- Lernwochen mit jüdischen Lehrern und Lehrerinnen – ihnen wird ausdrücklich für ihre Gesprächsbereitschaft gedankt – sowie in Werken der Nächstenliebe kommt sie zum Ausdruck. Darüber hinaus ruft die Erklärung jeden und jede Einzelne konkret dazu auf, dem Antisemitismus entgegen zu treten. Sodann bekennt sie sich dazu, die Freude der Juden über die Heimkehr ins Land der Väter zu teilen und die Verbundenheit der Juden in der Welt mit dem Staat Israel zu begreifen. Neben der Fürbitte für den Frieden im Nahen Osten stehen die Bitte an die Konfliktparteien, sich beharrlich um Verständigung und Versöhnung zu bemühen.

Die württembergische Landeskirche ist auf dem Weg der Verbundenheit mit dem jüdischen Volk weitere Schritte gegangen, an die wir heute ebenfalls erinnern wollen. Am 26. November 1992 erfolgte der Beschluss der Württembergischen Evangelischen Landessynode „Verhältnis zu unseren jüdischen Mitmenschen“. Er wurde in der Sorge über verstärkte antisemitische Umtriebe gefasst. Er bekennt sich zu der Verpflichtung, dem Antisemitismus zu widerstehen, und bittet ausdrücklich die Gemeinden, an der Neuorientierung im Verhältnis zum Judentum mitzuarbeiten.

Am 6. April 2000 verabschiedete die Landessynode die Erklärung „‘Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen‘ oder ‚… der Treue hält ewiglich‘ (Römer 11,29/Psalm 146,6b)“. In ihr verpflichtet sich die Synode, den eingeschlagenen Weg zu einem erneuerten Verhältnis von Christen und Juden fortzusetzen. Zum Zeichen dafür ging der Beschlussfassung ein gemeinsames Torastudium mit jüdischen Gesprächspartnern in Bad Boll voraus. Diese Erklärung ruft in Erinnerung:

  • Gott hat sein Volk Israel nicht verstoßen! (Römer 11,2)
  • Gottes Bund mit seinem Volk Israel besteht nach wie vor. Die Kirche ist nicht an die Stelle Israels getreten.
  • Wir sind als Kirche Jesu Christi hineingenommen in Gottes Geschichte mit seinem Volk Israel.
  • Wir bekennen unser Versagen als Kirche in der Zeit der Judenverfolgung.
  • Als lutherische Kirche distanzieren wir uns von den judenfeindlichen Äußerungen Martin Luthers.
  • Um unserer kirchlichen Identität willen hören wir als Kirche auf das Judentum.
  • Allen Formen des Antisemitismus stellen wir uns entgegen.
  • Wir nehmen die Existenz von Judenchristen wahr, mit denen uns der Glaube an Jesus Christus eint. Wir wissen, dass sie von jüdischer Seite aus nicht mehr zur jüdischen Gemeinschaft gehören. Die Landeskirche möchte mit jüdischen Gemeinden und Gemeinden „messianischer Juden“ im Austausch bleiben und für beide eintreten.
  • Beim Anliegen von Dialog oder Mission unter Juden kam im Jahr 2000 keine Einmütigkeit der Synode zustande. Die Mehrheit der Synode spricht sich für Dialog mit den Juden und gegen Mission unter Juden aus. Der andere Teil der Synode kann mit Römer 1,16 der grundsätzlichen Ablehnung einer Mission unter Juden nicht zustimmen.

Aus Anlass des 25. Jahrestages der Erklärung „Verbundenheit mit dem jüdischen Volk“ von 1988 würdigen wir den seither zurückgelegten Weg. Wir bekräftigen:

Diese Erklärungen sind nicht Ziel-, sondern Ausgangspunkte. Sie eröffnen notwendige Prozesse der Umkehr, des Umdenkens und veränderter Handlungsweisen. Wir ermutigen Gemeinden und einzelne Christinnen und Christen, ihre Beziehungen zum jüdischen Volk und zur jüdischen Religion zu vertiefen und zu festigen. Wir bitten haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, um unserer Identität willen falsche Bilder vom Judentum zu überwinden und die im Gespräch mit dem Judentum gewonnenen Erkenntnisse in allen Bereichen kirchlicher Arbeit zu verbreiten.

Das Volk Israel ist Volk Gottes. Christen täuschen sich selbst, wenn sie meinen, das Christentum sei dem Judentum überlegen. Gerade im Glauben sind wir mit den Juden verbunden. Wie sie glauben wir an die Gemeinschaft der Heiligen, die Vergebung der Sünden, die Auferstehung der Toten und das ewige Leben.

Antisemitismus bleibt eine Herausforderung, der wir uns entschieden zu stellen haben. Antisemitismus darf nicht übergangen, sondern muss wahrgenommen, angesprochen und bearbeitet werden.

Nach dem Ende der Sowjetunion und der Öffnung Osteuropas hat sich die Zahl der Juden in Deutschland durch Zuwanderung von dort vervierfacht. Es erscheint uns als ein Wunder, dass nach den Zerstörungen der Shoah an vielen Orten wieder jüdisches Leben aufblüht und neue Synagogen erstehen. Wir begegnen den jüdischen Gemeinden und Gruppen in unserer Nachbarschaft mit Respekt, Lernbereitschaft und dem Angebot zu helfen und zusammenzuarbeiten.

Wir lassen nicht nach in unserer Fürbitte für Frieden im Nahen Osten und fördern vielfältige Verbindungen zu Institutionen, Gruppen und Einzelpersonen in der Region. Unsere Mahnung, sich nicht zu Misstrauen, Hass und Feindschaft verführen zu lassen, richten wir nicht nur an die Konfliktparteien, sondern auch an unsere deutschen Mitbürger und Mitchristen.

Während Verständnis, Toleranz und Respekt zwischen Religionen wachsen, unterziehen manche säkulare Gruppen in öffentlichen Debatten, etwa über Beschneidung aus religiösen Gründen die gesellschaftliche und rechtliche Stellung der Religion einer grundsätzlichen Kritik. Hier ist unser entschiedenes Eintreten für ein selbstbestimmtes jüdisches Leben gefordert.

Der christlich-jüdische Dialog ist mit seiner mehr als fünfzigjährigen Erfahrung Vorbild für andere interreligiöse Kontakte und Beziehungen. Er hat uns Segen und Freude gebracht. Ihn weiter zu pflegen, steht unter Gottes Segensverheißung.(1. Mose 12,1-3).

Dr. h.c. Frank Otfried July          Dr. Christel Hausding

Landesbischof                                Präsidentin der Landessynode