Zwischen Leben und Tod

Die Idee für das vorliegende Buch wurde angeregt durch eine Trialogveranstaltung zu den Psalmen und ihrer Rezeption, bei der Jehoschua Ahrens und Mira Sievers sich bewusst wurden, wie groß die Schnittmengen von Judentum und Islam in vielerlei Hinsicht sind. Und tatsächlich wird an vielen Stellen deutlich, wie viel die beiden Religionen gerade in ethischer Hinsicht verbindet. Diese Übereinstimmungen sind, wie Mira Sievers zu Recht festhält, »Ausdruck von lange andauernden interreligiösen Verflechtungs- und Austauschprozessen «. (S. 55)

Das sehr kompakte, ohne Fußnoten gerade einmal 100 Seiten lange Buch widmet sich erst einmal den theologischen Grundlagen der Medizinethik, bevor es in drei weiteren Kapiteln anhand von einigen Beispielen andeutet, wie vormoderne religiöse Wissensbestände im Laufe der Geschichte immer wieder aktualisiert werden. Nur deshalb können diese alten Texte auch für die Lebensführung von Menschen des 21. Jahrhunderts von Relevanz bleiben.

Nach einer allgemeinen Darstellung der theologischen Grundlagen der Medizinethik (Kapitel 1; S. 10ff.) geht es in Kapitel 2 um Lebensanfang und Lebensende (S. 35ff.). Bei der Behandlung der Frage, ob und unter welchen Umständen eine Abtreibung vorgenommen werden darf, fällt auf, dass bei beiden Religionen der frühe Embryo noch nicht als kompletter Mensch wahrgenommen wird. Das heißt freilich nicht, dass er nicht schutzwürdig sei: »Abtreibungen werden im Judentum grundsätzlich abgelehnt«. (S. 37) Nur »unter strengsten Bedingungen« sind Ausnahmen möglich, nämlich dann, wenn es darum geht, »eine Seele zu retten«. Dieser Grundsatz des Pikuach Nefesch, das der Sache nach auch im Islam zur Anwendung kommt (vgl. Q 5:32), lässt sich auch in anderen Bereichen der Ethik zur Anwendung bringen. So hat der Schutz des Lebens auch am Ende oberste Priorität. Sowohl das Judentum als auch der Islam lehnen deshalb eine aktive Sterbehilfe ab. Allerdings betonen die Autor:innen, dass das Leiden von schwerkranken Menschen auf keinen Fall verlängert werden darf (S. 52/58), weshalb eine passive Euthanasie zumindest von einigen geistlichen Autoritäten zugelassen wird.

In Kapitel 3 geht es um die Körperlichkeit des Menschen, insbesondere sein Geschlecht. Vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte um sexuelle Diversität führt Jehoschua Ahrens vor Augen, dass weder Torah nochTalmud eine rein binäre Geschlechterordnung vertreten. Schon Adam, der erste Mensch, wurde »als Mann und Frau« (griech: androgynos) erschaffen. (S. 61/ 68) Auch im Koran gibt es eine Diskussion über Personen, »deren Körper nicht ohne weiteres in der Zweigeschlechtlichkeit verortet werden können«. (S. 66) Weil Gott »alles, was er erschaffen hat, gut gemacht hat« (Q32:7), sei »die Tatsächlichkeit der menschlichen Geschlechtervielfalt wahrzunehmen und zu berücksichtigen « (S. 68). An Beispielen wie diesen zeigt sich die Tatsache, dass die Autor:innen dieses Buches an vielen Punkten liberaler sind als der Mainstream der von ihnen repräsentierten Glaubensgemeinschaften. Eines der heiklen Themen dieses Kapitels ist die Frage, inwieweit Operationen zur Geschlechtsanpassung akzeptabel sind. Da der Leib eine Gabe Gottes ist, dem man keine geringere Bedeutung zuerkannt als der Seele, wird seine Unversehrtheit als ein hohes Gut angesehen. (vgl. S. 78ff.) Weil es bei Geschlechtsanpassungen von Transmenschen nicht ums Heilen geht, kommen Eingriffe höchstens dann in Frage, wenn es gilt, psychischen und physischen Schaden von einer betroffenen Person abzuwenden. Abgelehnt werden tendenziell auch kosmetische Operationen sowie das eigentlich unnötige Verletzen des Körpers durch Tattoos. Die gleichen Kriterien kommen auch zur Anwendung, wenn Rana Alsoufi die Genitalverstümmelungen von Mädchen verurteilt. (S. 83)

Im letzten Kapitel (Kapitel 4) wird diskutiert, wie weit der Mensch gehen darf bei seinen Eingriffen in die Natur. Dass die Maxime nicht einfach sein kann, die Schöpfung so zu erhalten, wie wir sie vorfinden, hebt Jehoschua Ahrens hervor durch seine These: »Das Judentum möchte, dass wir ›Gott spielen‹« (S. 87), denn das Judentum versteht den Menschen als aktiven Partner in Gottes Schöpfung. Zwei Seiten weiter schränkt er diesen provokativen Satz freilich ein: »So lange es im ethisch-moralischen Standard des jüdischen Rechts und der jüdischen Ethik verankert bleibt und zum Guten verwendet wird«. (S. 87) Mira Sievers scheint diese Einschränkung nicht auszureichen. Sie gibt zu bedenken: »Theologisch betrachtet sind die Eingriffe des Menschen in die Natur von einer grundsätzlich anderen Art als Gottes Schöpfungshandeln«. (S. 91) Diese islamische Sicht führt dann an verschiedenen Punkten auch zu einem etwas restriktiveren Umgang mit den medizinischen Möglichkeiten, die sich heute bieten. Die Präimplantationsdiagnostik (PID) ist im Judentum beispielsweise »unbestritten, […] sofern […] keine Embryos nach nichtmedizinischen Kriterien wie beispielsweise Geschlecht oder Augenfarbe ›aussortiert‹ « werden. (S. 94) Im Islam hingegen wird die PID eher »kontrovers diskutiert«. (S. 96) Etwas näher steht man zwischen Fragen der In-vitro-Fertilisation, die nach Ahrens »eine deutliche Mehrheit der rabbinischen Autoritäten befürwortet«. (S. 93) Auch unter islamischen Gelehrten »erschien die IVF doch größtenteils als akzeptables Mittel zur Behandlung der ungewollten Kinderlosigkeit «. (S. 95f.) Dass manche Muslime nicht davor zurückschrecken, diese Technologie auch einzusetzen, um bei der ausbleibenden Geburt eines Sohnes, der Natur ein wenig auf die Sprünge zu helfen, lässt den:die kritischen Leser:in ein wenig verstört zurück – zumal zuvor doch die Unantastbarkeit des Schöpferwillens betont wurde. Wie gut, dass Mira Sievers am Ende demgegenüber festhält, dass in dieser Frage »aus feministischer Perspektive weitergehende ethische Reflektionen notwendig« sind. (S. 96)

Das vorliegende Werk dürfte gerade durch seinen knappen Umfang und seinen gut lesbaren Stil, der sich nie in medizinischen oder theologischen Details verliert, dazu beitragen, »dass im deutschen Kontext künftig neben den christlichen Vertreter:innen und auch die jüdischen und muslimischen Stimmen in den gesamtgesellschaftlichen Debatten verstärkt Gehör finden«. (S. 99) Das ist die Hoffnung, die die Autor:innen in ihrem Schlusswort zum Ausdruck bringen und der ich nach der Lektüre des Buches nur zustimmen kann. Gerade für den Religionsunterricht in der Oberstufe, aber auch in der kirchlichen Erwachsenenbildung, wird es künftig eine nicht mehr wegzudenkende Orientierungshilfe sein.

Jehoschua Ahrens; Rana Alsufi; Mira Sievers (Hg.):
Zwischen Leben und Tod. Medizinethische Beiträge aus Judentum und Islam.

Matthias Grünewald Verlag. Ostfildern 2022. 122 Seiten, Euro 25,-

Editorische Anmerkungen

Quelle: Zeitschrift für christlich-jüdische Begegnung im Kontext (ZfBeg), 2/3 2022.

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