Die Beiträge, die in diesem Bd. zu einem größeren Ganzen zusammengefasst sind, sind zu großen Teilen andernorts bereits erschienen und wurden für diesen Bd. überarbeitet: „Der Einleitungsaufsatz ist die überarbeitete Fassung meines Hauptbeitrags in der Fakultätsfestschrift ‚Zeitenwechsel und Beständigkeit’. Flankiert wird dieser Beitrag durch einzelne Vorträge, die ich an verschiedenen Orten, zumeist im Rahmen der von mir geleiteten ‚Arbeitsgemeinschaft zur Fakultätsgeschichte’ gehalten habe.“ (9) Bei der Überarbeitung hat der Vf. darauf Wert gelegt, den eigenständigen Charakter der einzelnen Beiträge zu erhalten, so dass manches inhaltlich wiederholt wird, dabei wurde auch neuere und neueste Literatur zur Thematik rezipiert.
Der Bd. ist in insgesamt sieben Kap. unterteilt. Ein Quellenverzeichnis (223–224) und ein Register (225–228) runden ihn ab. Man wird es als kleines Manko empfinden dürfen, dass auf ein Literaturverzeichnis verzichtet wurde, sodass alle, die zu dieser Thematik weiterforschen möchten und den vorliegenden Bd. als Ausgangspunkt wählen, auf die Verweise in den Anmerkungen angewiesen sind.
Das erste Kap., das den Titel „Haus der Zeit“ trägt, führt in die Geschichte der Fak., ihre Gründung als Lehranstalt außerhalb der Univ. und ihre spätere Eingliederung in die Univ. ein (13–95). In diesem ersten Kap., das einen weiten Bogen von den Anfängen der Fakultät bis zur Entnazifizierung spannt, begegnen auch bereits Personen, die in den weiteren Kap.n detaillierter behandelt werden, es sei nur auf den Abschnitt zu „Beths Emigration“ (58–60) oder zu „Gerhard Kittel als Lehrstuhlvertreter in Wien“ (82–83) verwiesen.
Die folgenden Kap. widmen sich dann einzelnen Persönlichkeiten. Das zweite Kap. ist folgendermaßen überschrieben: „Karl Beths Weg ins Exil. Zur Geschichte der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien im März 1938“ (97–115). Es zeichnet den Weg des Systematikers Beth, der im Jahr 1938 seine Professur verlor – seine Frau entstammte einer Familie mosaischen Glaubens. Er konnte in die USA emigrieren, wo er sich mit 66 Jahren eine neue Existenz aufbauen musste.
Das dritte Kap. behandelt „Gerhard Kittel und seine Lehrtätigkeit an der Universität Wien“ (118–143). Gleich in den ersten Zeilen wird die Widersprüchlichkeit dieser Forscherpersönlichkeit deutlich. Einerseits bezeichnet der Vf. Gerhard Kittel als „eine unumstrittene Koryphäe in seinem Fach“, verweist aber andererseits auch auf die nach dem Untergang des „Dritten Reiches“ und der Entfernung Kittels aus dem Professorenamt verfasste Verteidigungsschrift Kittels, in der dieser eingeräumt habe, „er sei als Neutestamentler antijudaistisch eingestellt, weil das Neue Testament nur als die krasseste Antithese zum Judentum zu verstehen sei, aber diese Haltung müsse vom Rassenantisemitismus der NS-Zeit unterschieden werden.“ (118) Der Vf. bindet dann eben diese Verteidigungsschrift Kittels und die entlastenden Stellungnahmen von Fachkollegen und Zeitzeugen ein, von denen auch einige aus Wien stammten, und verwendet dies als Rahmen, um Kittels Wirken in Wien zu beleuchten. Spannend ist die Bewertung von Kittel gerade auch in Relation zum Eisenacher „Entjudungsinstitut“, von dem sich Kittel distanzierte. Im Gegensatz zu diesem habe Kittel am Alten Testament festgehalten und sich „als Exponent einer antijudaistischen Interpretation des Neuen Testaments, das er als das ‚antijüdischste Buch der Weltgeschichte’ bezeichnete“ (130), verstanden. Im Kontext des geschichtlichen Aufrisses zeigt der Vf., wie Kittel in das grundsätzliche Bestreben eingebunden war, die Bedeutung der Wiener Fak. durch das Projekt einer „Grenzlandfakultät“ zu erhöhen und „die Alma Mater Rudolfina Viennensis zu einem kulturellen Zentrum für die volksdeutsche Diaspora im Südosten Europas auszubauen“ (122). Es war das Scheitern dieses Vorhabens, das auch das Ende der Tätigkeit Kittels in Wien bedeutete. Die höchst feine Art der Darstellung wird gerade bei dieser äußerst heiklen Thematik deutlich. Der Vf. zitiert einen Artikel eines kath. Geistlichen, des Erzbischöflichen Ordinariatsrates Josef Casper, der im September 1945 erschienen ist. Dort heißt es: „In Österreich standen in der evangelischen Kirche […] mehr als 90% aller Geistlichen auf der Grundlage der ‚Bekennenden Kirche’, ohne freilich deren Namen zu übernehmen.“ (138) Dass diese lobende Stellungnahme nicht von ev. Seite im Rahmen von Entnazifizierungsvorgängen und Leumundszeugnissen verwendet wurde, könnte laut dem Vf. ihre Ursache darin haben, „daß [sic!] der Verfasser ein prominentes Mitglied der ‚Arbeitsgemeinschaft für den religiösen Frieden’ war und sich nachdrücklich um die Aufnahme in die NSDAP bemüht hatte.“ (139). Man muss genau lesen, um zu verstehen, dass der Vf. hier die Erstellung eines Persilscheins durch einen erklärten Nationalsozialisten höflich, aber klar kritisiert.
Die Ehrenpromotion von Nichifor Crainic wird im folgenden Beitrag diskutiert („Eine politisch motivierte Ehrenpromotion an der Universität Wien im Jahre 1940“: 145–161). Hier beleuchtet der Vf. die Forschungskompetenz im Bereich der Ökumene, die in der Nachkriegszeit nicht weiter bestehen konnte.
Ein weiterer Beitrag behandelt den späteren Bischof der Ev. Kirche in Österreich („Gerhard May und der Wiener Lehrstuhl für Diasporawissenschaft“: 163–187). Auch Hans Koch wird in einem eigenen Beitrag diskutiert („Ein Osteuropäer aus ‚Profession’: Hans Koch. Anmerkungen zu Biographie und Wirken“: 189–206).
Allen, die vorschnell und aus der Sicht der Nachgeborenen über diese Zeit urteilen, sei die differenzierte Darstellung des Wirkens von Gustav Entz empfohlen („Der Fall ‚Gustav Entz’: Die Evangelisch-theologische Fakultät in der NS-Zeit und im ersten Nachkriegsjahrzehnt“: 208–222). Sicherlich richtig ist die folgende Feststellung: „Sein Fakultätskollege Hans von Campenhausen […] nannte ihn treffend einen ‚lieben, ganz österreichischen Menschen (…), ein wenig filou, so dass er die schwierigen Verhandlungen mit Regierung und Partei zur Abschirmung seiner Fakultät erfolgreich führen konnte’. ‚Filou’ (frz. für ‚Spitzbube’) entspricht nicht meinem Sprachgebrauch, aber ich stimme der damit verknüpften Schlussfolgerung vollkommen zu: Er hat das Schiff seiner Fakultät geschickt durch die Zeit zwischen der Scylla politischer Fremdbestimmung und der Charybdis einer völligen Liquidierung hindurchlaviert.“ (208–209)
Zusammenfassend wird man festhalten dürfen, dass dieses Werk aufgrund der Ausführungen zu Kittel in keiner Bibliothek fehlen darf, in der auch das ThWNT zu finden ist. Der Geist dieses Forschers prägt das ThWNT in allen seinen Bd.en und zu diesem Forscher hält der Vf. – für seine zurückhaltende und vorsichtige Art – fast schon überdeutlich fest: „Die jüngsten Publikationen rufen einen Wissenschaftler von Weltruf in Erinnerung; sie zeigen, wie er sich vom Zeitgeist getrieben für die antisemitische Politik der nationalsozialistischen Machthaber instrumentalisieren ließ – und wie in der Tat aus dem proklamierten Antijudaismus ein christlicher Antisemitismus geworden war. Dazu sind auch in den Jahren seines Wirkens in Wien deutliche Signale zu registrieren, über die auch die Leumundszeugnisse der Kirche nicht hinwegtäuschen können.“ (142)
Schwarz, Karl W.:
„Wie verzerrt ist nun alles!“ Die Evangelisch-Theologische Fakultät in Wien in der NS-Ära.
Wien: new academic press 2021.
228 S., brosch. € 28,00