Wann, wenn nicht jetzt? Versuch über die Gegenwart des Judentums

Unabhängig von gegenwärtigen Konstellationen im Nahostkonflikt, der im Vorwort kurz angesprochen wird, geht es Micha Brumlik um eine grundsätzliche Besinnung auf das, was heutiges Judentum weltweit ausmacht – vor allem auch in seinem Verhältnis zum Staat Israel.

Folgerichtig lautet das 1. Kapitel: „Israel und die Diaspora“. Brumlik weist darauf hin, dass Israel, vor allem wenn die Regierung Netanyahus eine Zwei-Staaten-Lösung nicht wirklich anstrebe, ein binationaler Staat und kein jüdischer sei. Brumlik spricht im Zusammenhang mit national-religiösen Zielsetzungen von „mythischer“ Politik und wirft Netanyahu vor, mit sein Plänen, „Israel per Gesetz Israel zum Staat der jüdischen Nation zu erklären", der „universalistischen, moralischen Werte des Judentums aufgekündigt“ habe.

Auf diesem Hintergrund diskutiert er anhand prominenter jüdischer Stimmen die Frage: „Was sind überhaupt Juden, was ist das Judentum?“ Nachdem er zunächst Im Unterabschnitt „Jüdische Identität in der Diaspora“ diese von der jüdischen Identität in Israel unterscheidet, kommt er am Beispiel der USA u.a. auf die hohe Zahl nichtreligiöser Juden und interkonfessioneller Ehen zu sprechen. Nachfolgend erklärt er im Anschluss an eine Analyse Peter Beinarts, warum der Nahost-Friedensprozess ins Stocken geriet. Als Folgerung zitiert er aus einer Veröffentlichung von Beinart: „Die progressiven engagierten Juden in den Vereinigten Staaten dürfen Israel nicht seinem Niedergang überlassen und sich damit begnügen, ihre religiösen und ethischen Ideale zu verwirklichen.“ Wenn Brumlik Beinart zitiert, die Juden seien „als Volk entstanden, um eine bestimmte Mission in der Welt zu erfüllen“, fühlt man sich unwillkürlich an Martin Bubers Zionismusverständnis erinnert.

Er verweist dabei auch auf den weithin vergessenen jüdischen Anteil an den 1968er Pariser Unruhen und an den in Deutschland weithin nicht beachteten französischen Philosophen Daniel Bensaïd. Dabei wird auch Brumliks eigene Haltung erkennbar. Entgegen einem bei uns oft gepflegten monolithischen Verständnis des Judentums, definiert er als Ergebnis der Debatten über das Verhältnis zum Staat Israel, das Judentum sei „eine in eine Vielzahl von Denominationen aufgespaltene Religion […] eine wie auch immer zerstreut lebende Ethnie, ein Volk, das im jüdischen Staat tatsächlich zur Nation geworden ist, sowie Judentum als Kultur“. So kommt er zu der Folgerung, „dass das Judentum auch heute eine widersprüchliche Einheit darstellt.“

Den Begriff einer jüdischen „Diaspora“ greift er auf, indem er ihn im Rahmen einer neueren Theorieentwicklung als „Schlüssel zum Verständnis der modernen Weltgesellschaft“ versteht, weil er den „modernen Nomaden“ kennzeichnet – ein wichtiger Gedanke angesichts gegenläufiger Abschottungstendenzen in der gegenwärtigen Flüchtlingsdebatte, die von Gruppierungen geführt wird, die dem Ideal einer religiös-weltanschaulichen Einheitsgesellschaft anhängen. Dabei versäumt er nicht den Hinweis, dass Diasporen immer „gemeindlich organisiert sind“, da Einzelpersonen keine Diaspora bilden. Dies gilt auch für die jüdische Diaspora, einem Begriff, der schon immer hauptsächlich außerhalb Israels für diese Gemeinschaft verwendet wurde, so u.a. bereits Philo von Alexandrien in seiner „Legatio ad Gajum“. Dies macht man sich meist nicht bewusst. Eine Aufstellung über die geografische Verteilung der Juden zu Beginn des 21. Jh. belegt diese These deutlich; entsprechend setzt sich mehr und mehr generell eine „transnationale Geschichtsschreibung“ durch.

Im Kapitel „Land Israel und Zionismus“ geht Brumlik zunächst auf die Landtheologie in rabbinischer Zeit ein und macht diese auch an einer Reihe von Zitaten aus dem Talmud deutlich, wobei besonders auffällig ist, dass im Land Israel zu wohnen selbst dann anzustreben war, wenn die Mehrheit einer Stadt aus Nichtjuden bestand. Allerdings gab es auch Stimmen, die die Übersiedelung von Babylonien ins Stammland als Übertretung eines (prophetischen) Gebotes verstanden. Brumlik sieht in beiden Positionen eine „Theologie der Selbstbehauptung“, um in beiden Lebensräumen eine lebensfähige Gemeinschaft zu erhalten. Beachtenswert ist sein Hinweis, dass die Theologie der Heiligkeit des Landes zur Zeit des christlich gewordenen Römischen Reiches entstanden ist, so dass die Wiederherstellung eines jüdischen Staates der messianischen Zeit zugewiesen wurde. Ob hier ein ursächlicher Zusammenhang besteht, müsste gesondert geprüft werden.

Im Kapitel „Zionismus und Messianismus“ geht Brumlik zunächst auf Rabbiner Rav Kook ein, dem er einen „romantischen Volksbegriff“ unterstellt, der zur Idee eines „ethnisch begriffenen Nationalstaats“ führe. Ob damit aber zwangsläufig eine undemokratische fundamentalistische Struktur unter Leitung selbstermächtigter Kleriker einhergehen muss? Dass diese Gruppen die Shoa als Strafe Gottes für den angeblichen „Abfall vom Glauben“ ansehen ist leider ebenso zutreffend wie zynisch. Diese Strömung beschreibt Brumlik an drei Repräsentanten, R. Levinger in Hebron, Baruch Goldstein, der das Massaker in Hebron anrichtete, und der Rabin-Mörder Yigal Amir. Sind diese jedoch tatsächlich Repräsentanten der „inzwischen mehr als 250.000 Siedler im Westjordanland“? Die Ideologie der Siedler charakterisiert Brumlik zutreffend, wobei seine eigene wissenschaftliche Fachkompetenz deutlich erkennbar wird. Lesenswert ist auch seine kurze Charakterisierung unterschiedlicher jüdischer Einstellungen zum Zionismus.

In diesem Zusammenhang geht er sehr ausführlich auf Rav Kook ein und belegt seine Vorstellungen nicht nur anhand interessanter Zitate, sondern ordnet ihn auch in die jüdische Geistesgeschichte ein und sieht eine „Entpersonalisierung und damit Prozessualisierung des Messiasgedankens“ am Werk. So wird dieses Kapitel zu einer beachtlichen Analyse der Vorstellung des legendären Rav Kook, so widersprüchlich und unhaltbar er dessen Argumentation auch findet. Ausführlich geht er dabei auch auf den Widerspruch zwischen Landeroberung durch Geld oder Gewalt ein und kommt dabei immer wieder auf Überlegungen in Traktat Ketubot 111a über das Leben im Israelland zurück. Die verfassungsrechtlichen Fragen erörtert er im Rahmen der tatsächlichen parteipolitischen Konstellationen nach 1949.

An einem weniger bekannten Zitat aus der Gusch-Emunim-Bewegung zeigt Brumlik die allmähliche Entwicklung der Siedler-Ideologie, vergisst dabei aber nicht, auch auf rechtsextreme Gruppen hinzuweisen, die den Tempel an historischer Stätte anstelle der Moscheen auf dem Tempelberg aufbauen wollen. Er schließt das Kapitel mit einem Versuch, die künftige Entwicklung der widerstrebenden Kräfte zu skizzieren. Wladimir Jabotinsky, dem der Aufbau einer „Jüdischen Legion“ am Herzen lag, bescheinigt er einen „aufrichtigen Realismus“. Tragisch war, dass dieser zionistische Vorkämpfer bei einer Reise in die USA einem Herzinfarkt erlag und Ben Gurion sich gegen eine Überführung nach dem damaligen Palästina widersetzte, weil das Land lebendige, keine toten Juden brauche, so dass erst 1964 eine Umbettung auf den Herzlberg möglich wurde.

Die Haltung der deutschen Intellektuellen nach der Schoah reflektiert er auch unter Bezugnahme auf den Philosophen Omri Boehm. Am Beispiel des Begriffs „Israelkritik“ zeigt er, „dass der Staat Israel im politischen Bewusstsein vieler Deutscher […] anderes ist als irgendein Staat mit all seinen Licht- und Schattenseiten“. Er benennt das Dilemma deutscher Politiker und Intellektueller gegenüber einem Staat der Schoah-Überlebenden, der seit Jahrzehnten Gebiete besetzt und besiedelt, die nach internationalem Recht nicht zu seinem Staatsgebiet gehören. Dabei verweist er auf die dem Judentum seit biblischen Zeiten inhärente „dialektische Spannung zweier Pole: einem Impetus ethnischer Selbstbehauptung […] stand immer der universalistische Schrei nach allseitiger Gerechtigkeit entgegen“. In dieses Spannungsfeld zeichnet er die gegenwärtigen weltweiten politischen Ein¬stellungen zu Israel, auch die innerisraelischen Diskussionen ein. Vor allem aber geht er ausführlich auf die philosophische Auseinandersetzung Omri Boehms mit Jürgen Habermas angesichts Kants Aufklärungsbegriff ein. Nur erwähnt wird die "unschärfste Gestalt des gegenwärtigen Judentums“, die mit dem Begriff „Kultur“ zu bezeichnen ist, und resümiert, welche der drei Formen „des gegenwärtigen Judentums, die religiöse, die ethnizistische und die kulturelle“ das „eigentliche“ Judentum repräsentiere, lasse sich nicht „rein wissenschaftlich“ klären. Er weist deshalb darauf hin, dass Jüdinnen und Juden, die sich universitären jüdischen Studien widmen, „zugleich Subjekt und Objekt ihrer Wissenschaft sind“.

In einem Kapitel über „Resignation und Einsicht“ fordert Brumlik, „sich vom besinnungslos daher geplapperten Mantra der ›Zweistaatenlösung‹ zu verabschieden […] und den Mut zu einem radikalen Neuanfang zu fassen.“ Was aber ist sein „Plan B“? Ist es eine Lösung, „das Westjordanland zu annektieren, aber dabei den Palästinensern volle Rechte einräumen zu wollen“? Oder hat sich Israel irreversibel von einer Demokratie in eine Ethnogratie verwandelt? Er beruft sich dafür auf Gershom Gorenberg, der eine „Neugründung Israels“ mit Rückzug aus den besetzten Gebieten, sogar „gewaltsame Maßnahmen gegen renitente Siedler“ fordert. Allerdings bleibe Gorenberg „jeden Hinweis schuldig, auf Basis welcher gesellschaftlichen und politischen Mehrheiten eine israelische Regierung die Siedlungen rückbauen und die Siedler rückführen könnte.“ Stattdessen verweist Brumlik auf Michael Wolffsohns Konzeption einer Föderalisierung. Bevölkerungspolitisch weist dieser Ähnlichkeiten mit dem UN-Teilungsplan von 1947 auf. Brumlik weist sogar auf Modelle vor dem Ersten Weltkrieg oder Pläne für Pakistan nach dem Zweiten Weltkrieg hin.

Bei seiner Unterscheidung eines „ethnisch, nicht demokratisch verstandenen“ Selbstbestimmungsrechts der Völker könnte auch auf den Balkan verwiesen werden. Brumlik sieht Wolffsohns Vorschlag zwei Schwierigkeiten gegenüber: Verteilung der Güter in einem kleinteilig zersplitterten Territorium und Bildungshoheit der palästinensischen Bevölkerung, zumal man israelischen Arabern nicht zwangsweise die israelisch Staatsbürgerschaft ab- und die palästinensische zuerkennen kann. Müsste man sich allerdings nicht noch viel mehr fragen, wer das friedliche Zusammenleben der beiden Volksgruppen garantieren soll? Brumlik kommt daher nochmals auf Martin Bubers Vorschläge von 1947 zurück, die er in einem ausführlichen Zitat dokumentiert, aber von denen er auch weiß: „Mehr als 60 Jahre später, mehr als fünf oder sechs Kriege später, mehr als 40 Jahre der Besatzung und einer religiösen Fundamentalisierung auf beiden Seiten später lässt sich an dieses Modell nicht mehr bruchlos anschließen.“ Man muss sich sogar fragen, ob nicht bereits 1947 die Zeit dafür vorüber war und wer daran die Schuld trug, die britische Politik gegenüber den Arabern oder eine nationalstaatliche Entwicklung des Zionismus. Brumlik fragt nach einer „zeitgemäßen Reformulierung“ des Buberschen Ansatzes. Dass auch Hannah Arendt Ähnliches vorschwebte, macht diesen idealen Gedanken nicht weniger realitätsfern. Andererseits hatte auch der UN-Teilungsplan die arabische Reaktion völlig falsch eingeschätzt. So überschreibt Brumlik sein nächstes Unterkapitel folgerichtig mit „Eine konstitutionelle Utopie“. Er will damit keine konkreten Schritte vorzeichnen, sondern im Anschluss an eine Formulierung Joschka Fischers eine „Finalität“ beschreiben. Seine Vorschläge klingen plausibel, setzen aber auf beiden Seiten den Willen zur Erreichung dieses Zieles voraus. Und: Ist sie vielleicht zu europäisch logisch gedacht?

Das letzte Kapitel über die „Diaspora Deutschland“ ist sehr persönlich gehalten, auch wenn er darin Netanyahus Aufruf an die europäischen Juden zur Einwanderung nach Israel in dessen innerer Logik „zerpflückt“ und eine Analogie zu der Verklärung der Massada-Kämpfer bei Flavius Josephus unter dem Stichwort „Kitsch und Tod“ zieht. In einem Überblick seines eigenen politischen Werdegangs bekennt er sich als „Verfassungspatriot“ und definiert „deutsch“ als Staatsangehörigkeit unabhängig von Sprache und Abstammung auf der Grundlage der ersten drei Grundsätze des Grundgesetzes – obwohl er weiß, dass viele Bürger, sogar „Mitglieder der politischen Klasse dieses Landes, immer wieder versuchen, diesen Prinzipien nicht zu entsprechen". In diesem Zusammenhang unterzieht er auch den Begriff „Mitbürger“ einer kritischen Überprüfung, weil dieses „Mit-“ ausdrücke, dass die Betreffenden „irgendwie doch nicht ganz dazu“ gehören. Schon allein um dieses feuilletonistisch gehaltenen Schlusskapitels willen sollte man sich dieses ansonsten anspruchsvolle Büchlein gönnen.

Micha Brumlik:

Wann, wenn nicht jetzt? Versuch über die Gegenwart des Judentums.

Neofelis Verlag

Berlin 2015

brosch., 131 S., Euro 10,-


Blick ins Inhaltsverzeichnis

Editorische Anmerkungen

Siehe auch den Auszug aus Brumliks Buch "Israel und die Diaspora: Die aktuelle Krise", hier auf JCR.

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