Von Golgatha nach Auschwitz

Mit einem Zitat Simon Wiesenthals eröffnet Schlotz seine „Vorbemerkungen“: „Es kann keine Zukunft geben mit einer verdrängten Vergangenheit.“ Danach nimmt er den Anspruch der Kirchen, Hüter positiver ethischer Werte zu sein, sowie in den Zehn Geboten Vorläufer der Menschenrechte zu sehen, aufs Korn.

Dass das christlich-jüdische Verhältnis „seit dem Bestehen des Christentums durch Ausgrenzung, Verfolgung, Vertreibung, Pogrome und Massenhinrichtungen jüdischer Menschen geprägt“ sei, lässt fragen, wann Schlotz das „Bestehen des Christentums“ ansetzt: für die ersten drei Jahrhunderte lässt sich dies sicher nicht behaupten. Damals waren die Christen selbst häufig die Verfolgten. Hier hätte sicher eine weniger propagandistisch gefärbte Sprache zu mehr Ernstnahme berechtigter Kritik verholfen; dies gilt auch für manche weitere verallgemeinernde Aussagen.

Für kirchliche Stellungnahmen zum NS-Genozid an Juden führt er leider nur katholische Stimmen an; dadurch werden die Sachverhalte etwas verzerrt. Belege zitiert er fast ausschließlich nach Sekundärliteratur, darunter auch Deschners Kriminalgeschichte des Christentums. Dass christliche Judenfeindschaft bis ins Neue Testament zurückreicht, ist leider nicht zu bestreiten; allerdings wäre es gut, dabei auch Erkenntnisse neuerer Exegese zu berücksichtigen, um ein weniger plakatives und vor allem im Blick auf Paulus differenzierteres Bild zu gewinnen. Dass die „Kirchenväter“ ab dem 2. Jh. eindeutig judenfeindlich waren, ist bekannt – einschließlich des „Gottesmord“-Vorwurfs durch Melito von Sardes.

Seine katholische Provenienz verrät der Autor auch dadurch, dass er diese frühen Christen und Konzilien meist mit dem Attribut „heilig“ ziert. Dabei ist nicht zu bestreiten, dass die jeweils zitierten Konzilsbeschlüsse zutreffend sind. Dass allerdings das „Verbot der Ehe zwischen Juden und Christen … als Vorbild für die Nürnberger Rassegesetze gesehen werden kann“, verkennt die völlig unterschiedliche Begründung. Dass die Kreuzzüge „auch zum Martyrium für die europäischen Juden“ wurden (vor allem in den sog. „Schum-Städten“), beruhte jedoch wohl weniger auf Theologie als auf Massenpsychose. Wie wenig sachkundig oft die Begrifflichkeit ist, zeigt z.B. eine Feststellung über die Eroberung Jerusalems in den Kreuzzügen: „Um den in Flammen stehenden Tempel standen die Vertreter der »christlichen Religion der Liebe« und sangen: »Christus, wir preisen dich«.“ Dass dieses Zitat auf Karlheinz Deschner zurückgeht, entschuldigt nicht die Tatsache, dass zu diesem Zeitpunkt der Tempel seit über 1000 Jahren nicht mehr bestand. Damit sollen die Verbrechen, die Christen jahrhundertelang an Juden begingen, weder entschuldigt noch verharmlost werden; eine sachgemäßere Terminologie wäre der Wahrheit jedoch dienlicher. Dagegen kann man die Beschlüsse des Laterankonzils von 1215 mit der Kennzeichnungspflicht für Juden und dem Verbot öffentlicher Ämter sowie die späteren Bücherverbrennungen und judenfeindlichen Maßnahmen der Inquisition durchaus als Vorläufer der Nazi-Gesetze und Aktionen bezeichnen.

Leider muss man auch der Überschrift zu dem Lutherkapitel zustimmen: „Leitfaden zum Holocaust“. Luthers Ratschlag, wie mit den Juden umzugehen sei, sind in einem grau hinterlegten Kästchen abgedruckt. Insgesamt liefern auch die Hinweise auf einschlägige Äußerungen von Päpsten des 19. Jh., aber auch des evangelischen Hofpredigers Adolf Stöcker und des Historikers Heinrich von Treitschke einen guten Überblick, wie sich die jahrhundertealte Judenfeindlichkeit jeweiligen Zeitströmungen anpasste. Auch Hitlers „Weg in den Antisemitismus“ wird in dieses Bild eingezeichnet, wenn ausdrücklich darauf verwiesen wird, dass er katholisch getauft und nie exkommuniziert wurde. Dass er als Messdiener in einem „Chorherrenstift in seiner Freizeit Gesangsunterricht“ erhielt, scheint dagegen weniger zum Thema beizutragen, es sei denn als Beleg für die kirchliche Verflochtenheit des Nazi-Antisemitismus. So ist wohl auch der Hinweis gemeint, der Wiener Bürgermeister Dr. Karl Lueger sei „während seiner Studienzeit Mitglied einer katholischen Studentenverbindung“ gewesen. Überhaupt kann Schlotz der „Unterscheidung eines rassisch begründeten Antisemitismus von einem religiös motivierten Antijudaismus“ nichts abgewinnen; denn diese werde „von kirchlicher Seite gerne verwendet, um die Verantwortlichkeit der Kirchen am Holocaust zu verleugnen“. Hier wäre ihm die Lektüre der vielen evangelischen Erklärungen zu empfehlen, die zum großen Teil sogar Eingang in die Grundordnungen gefunden haben und unumwunden die Mitverantwortung der Kirchen als Schuld bekennen.

Überhaupt ist in diesem Kapitel die Trennschärfe zwischen Nazi-Gesetzgebung und kirchlicher Anpassung bzw. Unterwerfung zu vermissen, ganz davon abgesehen, dass er auf den kirchlichen Widerstand in der Bekennenden Kirche erst dreißig Seiten später eingeht, so dass ein zumindest verzerrter Eindruck der theologischen Relevanz der judenfeindlichen Theologie der „Deutschen Christen“ entsteht. Auf dem „Weg in Richtung NS-Staat“ bringt Schlotz ebenfalls nur kuriale Beispiele, um daran ein Kapitel über „Katholische Judenhasser: Adolf Hitler, Joseph Goebbels, Heinrich Himmler“ anzuschließen, u.a. unterstützt durch ein kitschiges Ölgemälde Hitlers. Was Hitler an Jesus imponierte, wird an einem Zitat einer NSDAP-Versammlung von 1922 veranschaulicht, wie Jesus als sein „Herr und Heiland als Kämpfer … sich endlich aufraffte und zur Peitsche griff, um die Wucherer, das Nattern- und Otterngezücht hinauszutreiben aus dem Tempel.“ Daraus leitet Hitler die Verpflichtung ab, „ein Streiter zu sein für die Wahrheit und das Recht“. Ähnliche Zitate folgen. Goebbels wurde wenigstens exkommuniziert, jedoch nicht wegen seiner Judenhetze, sondern wegen der Ehe mit einer Protestantin. Sehr ausführlich wird sein Werdegang samt seiner Vergötterung Hitlers und seinem Antisemitismus dargestellt, obwohl er mit einer „Halbjüdin“ liiert war. Seine religiösen Bekenntnisse wirken schwülstig. Auch Himmler wird als Katholik geschildert, der sich aber auf „der Suche nach einer Weltanschauung … langsam vom Katholizismus“ absetzte. Seine innerparteiliche Karriere wird in großen Zügen umrissen. Dabei stützt sich Schlotz fast nur auf Peter Longerichs Himmler-Biografie. Seine Art der Religiosität wird an dem Begriff der „Gottgläubigen“ veranschaulicht, da für die Mitgliedschaft in der SS zwar keine Kirchenmitgliedschaft, aber ein (wie auch immer gearteter) Glaube an Gott verbindlich war. Dazu gehört auch, dass die SS als „Orden“ aufgebaut wurde.

Im Kapitel über die Unterstützung des Nationalsozialismus durch die Kirchen wird hervorgehoben, dass Hitler für sein Ermächtigungsgesetz im Reichstag eine Zweidrittelmehrheit benötigte. Diese „wurde bei der Abstimmung am 24. März 1933 mit den Stimmen der katholischen Zentrumspartei erreicht.“ Die Rolle des Kaplans des Collegio Teutonico di Santa Maria dell‘ Anima in Rom, Ludwig Kaas, beim späteren Papst Pius XII. und dem Zustandekommen des Reichskokordats (einschließlich des Treueeides neu ernannter Bischöfe) aber auch einer Reihe von Rechtsgarantien für die katholische Kirche wird ebenso deutlich wie die Grußadresse von Kardinal Faulhaber an Hitler. Dass Faulhaber dennoch nicht spannungslos mit dem Naziregime lebte, wird später erwähnt. Man müsste ihn wohl als Opfer eines deutschnationalen Antibolschewismus bezeichnen, der ihn gegen das Nazi-Unrecht blind machte. Auch andere in diesem Kapitel beschriebene Bischöfe lassen deutlich eine zwiespältige Haltung erkennen, sei es aus Furcht oder Opportunismus. Rosenbergs Mythos des 20. Jahrhunderts dient als Beispiel dafür, wie kirchlicher Widerstand dagegen sogar die Auflage steigern konnte, die Enzyklika „Mit brennender Sorge“ als Beispiel, dass man sich zwar gegen Verletzungen des Konkordats wandte, aber „das Wort Jude nicht ein einziges Mal“ darin vorkam, statt dessen jedoch wieder den Gottesmord-Vorwurf erhob. Dass Pius XII. als „Papst, der zum Holocaust schwieg“, apostrophiert wird, verwundert nicht. Der Antibolschewismus hatte wohl den Blick getrübt. Auch Edith Steins Appell an den damaligen Nuntius und späteren Papst blieb unbeantwortet.

Der Protestantismus kommt nicht wesentlich besser weg. Viele Pfarrer waren deutschnational gesinnt und sogar Mitglieder in verschiedenen Freikorps. Die Entwicklung der „Deutschen Christen“ (DC) und ihrer Nähe zu den NS-Organisationen wird umrissen, der Gedanke einer zweiten Reformation, die „die völkische Sendung Martin Luthers “ ans Ziel bringen müsse, herausgestellt. Die Forderung nach „Streichung des Alten Testaments aus der heiligen Schrift der Christen“ erinnert – wenn auch aus völlig anderen Gründen – an jüngste Diskussionen der letzten Jahre. Dass der Thüringische Landesbischof für solche Parolen besonders aufgeschlossen war, fand auch seinen Ausdruck in der Gründung des Eisenacher „Entjudungsinstituts“. Ein entsprechender Text über „evangelische Juden“ wird grau unterlegt im Wortlaut wiedergegeben. Nur kopfschüttelnd kann man diese Behauptungen lesen. Martin Niemöllers zwiespältige Haltung wird leider viel zu stichwortartig und daher etwas missverständlich skizziert, Theophil Wurms Antijudaismus ist mittlerweile bekannt, nachdem er jahrelang durch die Alliierten hofiert worden war. Sein Einsatz „für verurteilte NS-Verbrecher“ muss jedoch nichts mit Sympathie zu tun haben, sondern mit einem missverstandenen Barmherzigkeitsethos. Dass Walther Künneth als Mitglied der Bekennenden Kirche (BK) dem Staat das Recht zugestand, „die Judenfrage zu einem Problem staatspolitischer Neuordnung zu machen“, mag sowohl auf sein strenges Luthertum als auf staatliche Einschüchterung zurückzuführen sein. Dass Geistliche der BK zur Verfolgung der nichtgetauften Juden schwiegen, ist leider eine beschämende Tatsache. Einem sehr kurzen Kapitel über den Holocaust folgen zwei Kapitel über kirchliche Versuche, sich nach dem Zusammenruch der Naziherrschaft rein zu waschen und Nazigrößen Hilfe beim Untertauchen zu leisten. Über den weitergehenden Judenhass in konservativ-fundamentalistischen Kreisen der katholischen Kirche und entsprechenden Formationen wird im Kapitel „Verdrängen statt Verarbeiten“ informiert. Schließlich wird der irreführende Begriff einer „christlich-abendländischen Leitkultur“ in Frage gestellt.

Reinhold Schlotz:

Von Golgatha nach Auschwitz. Die Mitverantwortung des Christentums für den Holocaust.

Alibri Verlag, Aschaffenburg 2016

125 S., kart., einige Abbildungen

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