Verständigung und Versöhnung

Es impliziert eine dezidierte Deutung der neuesten Geschichte und Gegenwart, wenn ein Band zum 70. Jahrestag des Endes des 2. Weltkriegs unter dem Titel „Verständigung und Versöhnung“ erscheint. Nach 1945 hat, wie durch die Vielfalt der Beiträge des Bandes deutlich wird, eine neue Zeit begonnen, in der nach und nach auf der ganzen Welt Feindschaften und Gewalt überwunden wurden und Versöhnung Raum finden konnte. Die Beispiele des Bandes sind beeindruckend und betreffen nicht weniger als drei Kontinente.

Dabei ist, das muss man sagen, Vollständigkeit nicht intendiert, und Versöhnungsprozesse in Australien, Canada, Chile, Georgien, Kolumbien,  Nordirland, Ruanda oder anderen Ländern könnten leicht ergänzt werden. Trotz gegenwärtiger Irritationen liegt dem Band eine wichtige und zutreffende Sicht auf die Welt nach 1945 zugrunde. War Versöhnung von der Antike bis zum 2. Weltkrieg nur punktuell Thema, so wird sowohl innerstaatliche als auch zwischenstaatliche Versöhnung zu einem Langzeitprojekt zahlreicher Staaten, Organisationen und Individuen (vgl. dazu etwa Lily Gardner-Feldman, Germany’s Foreign Policy of Reconciliation, Lanham/London 2012).

Die beiden Herausgeber sprechen in ihrer Einleitung kurz die Versöhnung in Südafrika und in Deutschland nach dem Ende der SED-Diktatur an. Über beide Versöhnungsprozesse hat Ralf Wüstenberg mit „Die politische Dimension der Versöhnung“ (Gütersloh 2004) die bis heute bedeutsame Monographie in deutscher Sprache verfasst. Gegenüber der vielstimmigen Infragestellung der Rede von „Versöhnung“, hält Wüstenberg in seinem einleitenden Artikel „Vom ‚Vernarben‘ der Schuld und Perspektiven der Versöhnung - Drei Impulse ausgehend von Dietrich Bonhoeffer“ fest, dass Versöhnung sowohl in Hearings der Truth and Reconciliation Commission in Südafrika als auch bei der Anhörungen der Enquêtekommissionen des deutschen Bundestages  geschehen ist (17f). Wüstenberg hebt in kritischem Anschluss an Bonhoeffer drei Gesichtspunkte heraus: 1. Die „Kostbarkeit des christlichen Vergebungsbegriffs“( 13), der Vergebung als radikalen Bruch und Neuanfang, nicht als allmählichen Heilungsprozess ansieht. 2. „Die Wertschätzung des politisch Möglichen“(16) und in kritischer Überbietung Bonhoeffers das Vorliegen von Versöhnung auch außerhalb der christlichen Kirche. Die Rede des späten Bonhoeffer von der einen Christuswirklichkeit fordert geradezu eine Revision der allzu kirchenbezogenen Aussagen des jungen Bonhoeffer.

Der Straßburger Systematiker Karsten Lehmkühler stellt historische Zusammenhänge der deutsch-französischen Versöhnung heraus und verbindet sie mit einer theologischen Interpretation. Innerhalb der unterschiedlichen historischen Situationen macht Lehmkühler einen äußerst wichtigen und oft übersehenen Faktor der gelungenen Versöhnungspolitik namhaft: „das Moment der gegenseitigen Anerkennung oder Achtung. Anerkennung zwischen Tätern und Opfern, Anerkennung zwischen Siegern und Besiegten“ (21). Lehmkühler kommt zu dem für die Versöhnungsforschung äußerst wichtigen Ergebnis, dass ohne Anerkennung, die deutsch-französische Versöhnung nicht möglich gewesen wäre. „Möglich wurde dies nur auf dem Boden einer gegenseitigen Achtung und Anerkennung, im Rahmen einer Begegnung auf Augenhöhe, eines Miteinanders, das die Versöhnung suchte und sie suchend antizipierte.“ (27). Die starke Betonung der gegenseitigen Anerkennung als Voraussetzung gelingender Versöhnung wird theologisch vertieft durch eine an Klaus Kodalle und Robert Spaemann anknüpfende Betrachtung der Verzeihung. Theologisch setzt Verzeihung die Unterscheidung von Person und Werk voraus. In der Erwartung eines Schuldeingeständnisses durch den Täter setzt das Opfer schuldhaften Handelns diese Unterscheidung bereits voraus. Lehmkühler kann diesen Vertrauensvorschuss in die Differenz zwischen Täter und Tat sogar als „antizipierende Verzeihung“ (29) bezeichnen.

Der Kieler Professor für Neuere Kirchengeschichte Tim Lorenzen zeichnet in seinem Beitrag das deutsch-polnische Versöhnungsgeschehen nach 1945 und die Rolle christlicher Erinnerungskultur nach.  Lorentzen geht aus von der These des Althistorikers Christian Meier (Das Gebot zu vergessen … München 2010), dass im 20. Jahrhundert Erinnerung und Versöhnung in ein neues Verhältnis gesetzt werden. Dachte man vorher, dass das Vergessen Voraussetzung von Versöhnung sei, wird im 20. Jahrhundert Erinnerung an vergangenes Unrecht als Versöhnungsressource erkannt. Damit Erinnern diese Wirkung entfalten kann, ist eine Transformation der Erinnerungskultur und der Geschichtspolitik nötig. Mit vielen interessanten Details zeigt Lorentzen den Beitrag der katholischen wie evangelischen Erinnerungskultur in Polen und in Deutschland zu diesem Transformationsprozess auf. 

Victoria Barnett, Mitarbeiterin des US Holocaust Museum/Memorial in Washington stellt in ihrem Beitrag die vor allem von christlichen Organisationen getragene amerikanisch-deutsche Versöhnung unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg da. Besonders wichtig sind in diesem Beitrag die Verbindungslinien von interkonfessioneller und politischer Versöhnung sowie die Erinnerung daran, dass Versöhnung schon in Kriegszeiten durch Theologen grundlegt wurde (66-73). Man muss im Krieg Versöhnung und Frieden vorbereiten, sonst werden Kriege leicht von einer langen Folge nicht endender Gewalt und Ressentiments abgelöst.

Spielte der Ökumenische Rat der Kirchen bereits in den Ausführungen von Victoria Barnett eine wichtige Rolle, so ist Konrad Raisers Beitrag über die Gründung des ÖRK als Teil der Suche nach der internationalen Friedensordnung nach 1945 direkt dem Friedensengagement dieser Institution und ihrer Vorläufer gewidmet. Besonders interessant sind die vier Richtlinien, die Raiser am Ende seines Artikels aufstellt: 1. Delegitimierung des Kriegs, 2. Zusammengehörigkeit von Frieden, Recht und Gerechtigkeit, 3. Umfassender, nicht Militär-fixierter Sicherheitsbegriff und 4. Bedeutung der Botschaft der Friedenskirchen und Notwenigkeit einer neuen politischen Vernunft (99-100).

Die drei abschließenden Beiträge verweisen auf Probleme und Chancen der interreligiösen Verständigung, wie sie insbesondere zwischen Christentum und Islam aktuell sind. Der Paderborner katholische Systematiker Klaus von Stosch und die Zürcher evangelische Systematikerin Christiane Tietz ergänzen sich glücklich in ihren Beiträgen, insofern sie beide vom Ansatz der komparativen Theologie ausgehen. Von Stoschs Zugang ist bestimmt von dem Prinzip: „Ich versuche, den Islam so stark wie möglich zu machen, und merke, dass er bei diesem Versuch eine Gestalt gewinnt, die sich merklich von dem unterscheidet, was mich am Christentum fasziniert und gerade in dieser Verschiedenheit meine christliche Theologie bereichert und herausfordert.“ (103/4) Am Beispiel des Bekenntnisses zur Einzigkeit Gottes und der Scharia zeigt von Stosch, dass diese für Christen oft anstößigen Charakteristika des Islam genau diese Funktion der Bereicherung und Herausforderung haben können. Christiane Tietz zeigt durch Rückgang auf die lebensweltliche Wirklichkeit des interreligiösen Dialogs, dass weder die an Schleiermachers Dialektik orientierte Vorstellung, Dialog müsse zu Konsens führen, noch die religionstheologischen Positionen Exklusivismus, Pluralismus oder Inklusivismus hilfreich sind. Exklusivismus macht Dialog unmöglich, Pluralismus und Inklusivismus machen ihn überflüssig. In allen Fällen wissen die Dialogführenden die Wahrheit schon im Voraus. Sehr schön plädiert Tietz dafür, statt der anderen Religion einen Platz in meinem Denksystem einzuräumen, „dem anderen Menschen einen Platz im eigenen Leben einzuräumen“ (134). Dies schließt Respekt und die Anerkennung mit ein, der andere habe etwas Bedenkenswertes zu sagen. Es schließt auch die Bereitschaft mit ein, dass der andere durch die gemeinsame Dialoggeschichte mit mir verbunden ist.

Als Nachschlag wird ein Essay Wolfgang Hubers aus dem Tagesspiegel vom Januar 2015 abgedruckt: „Flüchtlinge zwischen Terror und Integration“. Der Text sucht eine Synthese aus Anerkennung des Fremden und Realismus in Bezug auf die Schwierigkeiten, die im Umgang mit Flüchtlingen entstehen.

Der Band ist eine Publikation der 18. Dietrich-Bonhoeffer-Vorlesung, die an der Europa-Universität Flensburg stattfand. Alle Beiträge enthalten interessante Hinweise auf Bonhoeffer. Insgesamt zeigt der Band sehr anschaulich, dass in dem Thema „Verständigung und Versöhnung“ großes Potential steckt, sowohl für die Forschung als auch für die Gestaltung christlichen Lebens heute. 

 

Ralf Karolus Wüstenberg/Jelena Beljin (Hg.):

Verständigung und Versöhnung.

Beiträge von Kirche, Religion und Politik 70 Jahre nach Kriegsende,

Leipzig 2017 (Beiheft Berliner Theologische Zeitschrift),

148 S., 20 EUR

 

 

Editorische Anmerkungen

Dr. Martin Leiner, geb. 1960, ist Professor für Systematische Theologie und Ethik an der Theologischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Quelle: theologie.geschichte, Bd. 13 (2018), veröffentlicht unter einer Creative Commons Namensnennung Lizenz.

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