VORWORT
Jedes Jahr findet gegen Ende des islamischen Fastenmonats der so genannte Al-Quds-Tag statt. Al-Quds ist die arabische Bezeichnung für Jerusalem. Dieser Tag wurde vom iranischen Regime 1979 eingeführt und wird seitdem in Großstädten auf der ganzen Welt mit antisemitischen, iraelfeindlichen Demonstrationen begangen.
In Teheran nimmt der als ‚moderat‘ geltende Präsident Hassan Rohani unter „Tod Israel“- Sprechchören am Al-Quds-Tag teil. 2014 bezeichnete er dort Israel als „eiternden Tumor“. Für ihn ist Israel eine „alte Wunde im Körper der islamischen Welt“, ein „elendes Land“, der „große zionistische Satan.“
In Wien wird der Al-Quds-Tag 2015 auf der Facebook-Seite der Organisatoren mit einer Karikatur beworben. Die Zeichnung zeigt einen orthodoxen Juden mit israelischer Fahne, der in einem mit Wasser gefüllten Erdloch steht. Oberhalb der Grube drängt sich eine wütende Menge – deutlich als Muslime erkennbar –, die Eimer voll Wasser in die Grube schütten. Über dem Bild steht der Satz „Jeder Muslim bekommt einen Kübel Wasser“. Bild und Text spielen auf ein Zitat des verstorbenen iranischen Revolutionsführers Ayatollah Khomeini an, wonach Israel ausgelöscht werden könne, wenn jeder Muslim einen Eimer Wasser auf Israel schleudere.
Der jüdische Staat kann heute noch viel effizienter ausgelöscht werden: durch iranische Atomraketen. Um diese Gefahr zu bannen verhandeln internationale Politiker und Experten unter Führung der USA mit dem Iran im Wiener Palais Coburg über das iranische Atomprogramm. Während ich diese Zeilen schreibe, stehen die letzten Verhandlungsrunden auf dem Programm. In den Tagen, in denen also in Wien um ein Atomabkommen gerungen wird, verkündet der frühere iranische Präsident Rafsanjani die baldige Auslöschung Israels. Israel sei ein vorübergehend existierender Schwindel-Staat, ein fremdes Objekt im Körper einer Nation und werde bald ausgelöscht werden, zitiert ihn die iranische Nachrichtenagentur IRNA. Zur gleichen Zeit wird Israels Regierung nicht müde vor diesem, für Israel existenzbedrohenden Atomabkommen mit Teheran zu warnen.
Längst also ist der Nahost-Konflikt auch in Europa angekommen und mit ihm ein sich radikalisierender Antisemitismus der arabisch-islamischen Welt. Die Globalisierung des Antisemitismus stellt die westlichen Demokratien vor ungeahnte moralische und politische Herausforderungen. In dieser Situation eines sich ausbreitenden ‚neuen‘ Antijudaismus in Europa sind die Christen – gerade die Christen – gefordert. Niemand anderer war in so beschämender und schuldhafter Weise in die Geschichte des Antisemitismus involviert wie das Christentum. Heute steht es erneut vor der Herausforderung, jene solidarische Grundhaltung mit dem jüdischen Volk aufzubringen, die es in der Nazi-Zeit so schmerzlich vermissen ließ. In diesem Buch versuche ich deutlich zu machen, worin eine solche Kultur christlicher Solidarität mit dem jüdischen Volk bestehen müsste.
Vor 50 Jahren stellte das Zweite Vatikanische Konzil mit dem Dokument Nostra Aetate die Weichen zu einem positiven Verhältnis der katholischen Kirche zum Judentum. Aber dieses späte Bekenntnis der Kirche erreichte die Herzen und Köpfe der Gläubigen nicht. Nostra Aetate ist weit hinter dem Anspruch und den Erwartungen, die mit dieser vatikanischen Erklärung verbunden wurden, zurückgeblieben. Worin die Ursachen dieses Scheiterns liegen, ist Gegenstand meiner Überlegungen im ersten Teil.
Als ich vor sieben Jahren mein Buch Versöhnung. Spiritualität zwischen Thora und Kreuz. Spurensuche eines Grenzgängers veröffentlichte, schien mir das Ziel einer notwendigen Versöhnung zwischen Judentum und Christentum noch in erreichbarer Weite. Heute weiß ich, dass meine damaligen Hoffnungen zu hoch gegriffen waren. Die dramatische Zunahme des Antisemitismus in Europa und weltweit haben diese Hoffnungen begraben. Als Christ mit jüdischen Wurzeln schmerzt mich natürlich diese alarmierende Entwicklung. Zugleich aber hat sie mich dazu angetrieben, mich noch intensiver mit dem Phänomen des Antisemitismus und seiner ungebrochenen Macht zu beschäftigen. So versuche ich in diesem Buch den verborgenen Mustern des Antisemitismus – insbesondere jenen des christlichen Antisemitismus – nachzugehen.
Dennoch sollte dieses Ziel wahrhafter jüdisch-christlicher Versöhnung nicht aus den Augen verloren werden. Der Weg dorthin führt, so glaube ich heute, über jene schon erwähnte neue Kultur christlicher Solidarität mit dem Judentum. Sie ist die einzig mögliche Antwort auf den wachsenden Judenhass. Zu bewähren hat sich diese Solidarität nicht in christlich-jüdischen Gesprächszirkeln, sondern ausschließlich im Widerstand gegen den Antisemitismus, in welcher Maske er auch immer in Erscheinung tritt.
Antisemitismus ist die dunkle Seite des Christentums. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass sich das Christentum ‚nach Auschwitz‘ seinen antisemitischen Schatten stellen muss – nicht nur aus theologischen, sondern auch aus psychohygienischen Gründen. Nur so kann sich das Christentum auch mit sich selbst und seiner Schuld und Mitschuld an den Verbrechen gegen das jüdische Volk versöhnen und Heilung finden. Und nur so kann das Christentum im 21. Jahrhundert auch seine, heute vielfach vermisste, spirituelle Strahlkraft entfalten…
Ich danke all jenen, die mich beim Schreiben dieses Buches begleitet haben: Meiner Lebensgefährtin und Muse Ingrid Wernhart, die in vielen intensiven Gesprächen zur Schärfung meiner Argumente beigetragen hat und dafür Sorge trug, die Last des Themas und den Druck des Schreibens nie übergroß werden zu lassen; meinem ehemaligen Assistenten Peter Weinstich für seine unermüdlichen Recherchehilfen und fundierten theologischen Kommentare; meiner Tochter Theresa Gottschlich für ihre sorgfältige Unterstützung bei der formalen Gestaltung des Manuskripts; und nicht zuletzt Hans J. Jacobs vom Verlag Ferdinand Schöningh für seine Bereitschaft, mein Plädoyer für eine neue christliche Solidarität mit dem Judentum mitzutragen.
Wien, im Juli 2015
Maximilian Gottschlich
Maximilian Gottschlich:
Unerlöste Schatten. Die Christen und der neue Antisemitismus.
Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2015
227 Seiten * € 19,90
ISBN: 978-3-506-78247-2
(pdf)