Streit um das Heilige Land

Gleich im ersten Satz macht der Verfasser, Leitender Direktor des „Deutschen Evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes“ anhand der unterschiedlichen Bezeichnung für Land und Leute deutlich, welchen Problemen sich eine sachgerechte Auseinandersetzung mit der gestellten Aufgabe ausgesetzt sieht.

Die Verwendung des Namens für dieses Land wird oft als Parteinahme für eine der streitenden Parteien verstanden. Als einziger neutraler Begriff bleibt »südliche Levante« übrig. In einem kurzen geschichtlichen Abriss stellt Vieweger die unterschiedlichen Herrscher von 1200 v. Chr. bis zum Ende des Osmanischen Reichs dar und referiert kurz die Argumente von Juden und Arabern für ihre Besitzansprüche. Nach einem Überblick über die »natürlichen Gegebenheiten« des Landes wird (auch anhand eines Schaubildes) auf dessen sozio- politische Situation eingegangen: die unterschiedliche Sicht der Lage, die Wasserproblematik, das Bevölkerungswachstum, die Rolle der Hamas usw. – und dies alles ohne für die eine oder andere Sicht Partei zu ergreifen. Besonders aufschlussreich ist eine Karte, die deutlich macht, wo derzeit der israelische Zaun jenseits der Waffenstillstandslinie von 1949 verläuft und wo jüdische Siedlungen bestehen, die nicht in dieses umzäunte Gebiet einbezogen sind. Je nach Annahme des künftigen Grenzverlaufs, entsteht entweder ein zusammenhängendes Gebiet oder ein »Flickenteppich«. Solche Schaubilder können zur Versachlichung der Diskussion beitragen. Dass sich nicht nur Juden, sondern auch Muslime für ihre Landansprüche auf ihre heiligen Schriften berufen, ist nicht ganz zutreffend, richtiger die Ergänzung »auf davon abgeleitete Traditionen«. Mit Recht verweist der Verfasser darauf, dass eigentlich keine religiösen Motive hinter dem Konflikt stehen, aber als Legitimation herangezogen werden. Deutlich wird die durch Scheikh Yasin gegründete Hamas gekennzeichnet. Wichtig ist Viewegers Feststellung, die »Asymmetrie zwischen religiösen Argumenten und politischen Absichten ist ein grundlegendes Problem der Spannungen im Nahen Osten.«

Nach einer kurzen Schilderung des jüdischen Selbstverständnisses als Volk wird die entwicklungsbedingte unterschiedliche Stellung des Islam zu den Juden dargestellt, um dann zur Frage nach der »Herkunft der Palästinenser« überzugehen. Wichtig ist die Feststellung, dass Arafat, als »einendes Band« der Bevölkerung, »vom Namen Palästina auf deren ethnische Abstammung von den […] Philistern schließen« ließ – sei ein moderner Mythos. Mit Recht verweist Vieweger auf die historisch unzutreffende Namensgebung des römischen Kaisers Hadrian. Ein Hinweis, seit wann erst in diesem Raum arabische Bevölkerung lebt, würde dies noch ergänzen. Bezüglich des Territoriums stellt er die jüdische und arabische Lesart nebeneinander und macht deutlich, dass das biblische Land und das bei der Teilung 1947 dem jüdischen Staat zugewiesene Gebiet sich »reziprok« verhalten, während der arabische Anspruch auf das Land aus der Kreuzzugszeit stammt. Traditionen, die um Tempelplatz und Klagemauer kreisen, werden sachlich referiert, ebenso die Problematik der »Davidstadt« sowie der Bedeutung der Archäologie für jüdischen Landanspruch. Allerdings kann in der gebotenen Kürze auf die Probleme nur hingewiesen werden; aber schon dies ist wichtig! Ebenso kurz aber sachlich sind auch die Ausführungen zu den weiteren jüdischen Heiligtümern und ihrer heutigen Bedeutung im Streit zwischen Juden und Muslimen. Dass Rahels Grab neuerdings als Moschee bezeichnet wird, konnte Vieweger allerdings noch nicht berücksichtigen, es zeigt jedoch, wie sehr Geschichte und Gegenwart ineinander verzahnt sind. Auch die Tradition der muslimischen Heiligtümer wird zutreffend beschrieben, die heutigen (auch archäologisch bedingten) Differenzen nicht verschwiegen. Die muslimische Legende über das in der Nähe Jerichos liegende Mosegrab wird wohl nur wenigen bekannt sein. Aber auch moderne (politische) Mythen und ihre Entgegnung werden referiert.

Ein Kapitel ist der Frage gewidmet: »Was geschah seit 1882?« Hier geht es um das Interesse an der südlichen Levante seit Napoleon, vor allem aber seit der Besetzung Ägyptens durch die Briten. Die rechtliche Lage der Juden in Osteuropa, besonders im Zarenreich, wird als Grund für die jüdische Einwanderung im 19. Jh. genannt. So kam es 1862 zur ersten Einwanderungswelle. Dass allerdings die Juden in Westeuropa erst ab 1848 Bürgerrechte erhielten, ist unzutreffend. In Baden erfolgte die Gleichstellung bereits 1809, in Preußen 1812. Die wirtschaftlichen Probleme der Einwanderer werden skizziert; eine Karte zeigt die jüdischen Siedlungen bis 1914. Wie sich durch den Landkauf die traditionelle Erbfolge und damit die wirtschaftliche Lage der arabischen Bevölkerung veränderte, wird an einem Zitat aus dem Jahr 1907 veranschaulicht. Für die Darstellung der unterschiedlichen Strömungen im frühen Zionismus steht leider nur wenig Platz zur Verfügung. So kann das Buch hier wie an anderen Stellen nur wichtige Hinweise auf Problemstellungen geben und zur Beschaffung weiterer Informationen anregen. Auch die muslimische Einwanderung aus dem Balkan infolge russischer Expansionsbestrebungen findet Erwähnung. Wie eng die heutigen territorialen Probleme mit unklaren Geheimabsprachen über die Teilung des Osmanischen Reiches nach dem 1. Weltkrieg zusammenhängen, wird ebenso deutlich wie die Probleme während des britischen Mandats. Die Rolle des britischen Außenministers Balfour wird dabei differenzierter als üblich gezeichnet, ebenso die Abweichung britischer Versprechungen an die Araber von den offiziellen Abkommen. Dies dient dem Verständnis der arabischen Aufstände. Alles wird reichlich an Kartenmaterial veranschaulicht. Wenn aber der Großmufti von Jerusalem Amin al-Husaini als »palästinensisch-muslimischer Führer« bezeichnet wird, ist dies ein Vorgriff auf eine erst nach dem Sechstage-Krieg aufgekommene Begrifflichkeit; denn zu jener Zeit umfasste „Palästina“ auch die jüdische Bevölkerung . Die Entwicklung bis zur Teilung des britischen Mandatsgebiets wird in groben Zügen skizziert, ebenso die Unruhen, die von beiden Seiten danach ausbrachen. Wichtig ist die Beurteilung: »Die Frage nach Flucht oder Vertreibung wird wohl aus politischen Gründen immer umstritten bleiben.« Dabei wird auch ein israelisches Geheimpapier zitiert, das prozentual einschätzt, warum die arabische Bevölkerung geflohen ist.

Die Kriege nach der Staatsgründung zwischen 1948 und 1973 werden in einem Kapitel zusammengefasst. Interessant ist dabei der Aspekt, dass im Unabhängigkeitskrieg 1948/49 die arabischen Truppen in sich uneins waren und einander misstrauten. Verschiedene, jeweils nur kurzfristig eingehaltene Waffenstillstände sowie Werdegang und Rolle des Mufti von Jerusalem kommen gleichermaßen zur Sprache bis hin zu dem Gerücht einer Beteiligung an der Ermordung des jordanischen Königs Abdullah. In die Schilderung der Folgezeit sind interessante Zitate von Moshe Dayan und Ariel Sharon eingestreut. Unklar bleibt die genaue Verwicklung Israels in die Suezkrise von 1956. Der Rezensent kann sich noch erinnern, dass offensichtlich der Ungarnaufstand und seine Auswirkungen auf die Ost-Westkonfrontation für das Abstoppen der israelischen Sinaibesetzung eine Rolle spielten.

Die syrische Bedrohung Nordisraels vom Golan aus wird ebenso deutlich wie die durch ein Zitat von Moshe Dayan belegte israelische Strategie und die zwielichtige Rolle und Persönlichkeit Arafats – bis hin zur Erklärung der Bezeichnung »Fatah«! Gamel Abdel Nasser wird im Zusammenhang mit den Krisen charakterisiert, die dem Sechstagekrieg 1967 vorausgingen. Ob man ihn als »Charismatiker « bezeichnen kann, sei dahingestellt. Dass bereits damals die später von Ahmadinejad verwendete Formulierung, »Israel von der Landkarte verschwinden zu lassen« aufkam, wird an einem Zitat von Radio Kairo belegt. Die »neue Rolle Israels« nach dem Sechstagekrieg wird mit einem kritischen Zitat von Tom Segev beleuchtet. Moshe Dayans Persönlichkeitsbild wird als Mischung aus Erfolg und Tragik skizziert – bis hin zu versäumten Verhandlungen und der Siedlungspolitik nach 1967. Arafats steigendes Ansehen in den jordanischen Palästinenserlagern führte zum »schwarzen September 1970« und palästinensischen Terrorakten wie dem Anschlag auf die israelische Olympiamannschaft 1972.

Diese Zusammenhänge werden allzu oft ebenso vergessen wie der Schock des Yom Kippur Kriegs 1973. Wenn er als Teil der damaligen Ost-West-Auseinandersetzungen gesehen wird, könnte man ihn auch als Stellvertreterkrieg missverstehen; es ging jedoch auch um elementare Ansprüche der örtlichen Bevölkerung.

Golda Meir und Anwar as-Sadat werden in diesem Zusammenhang und den anschließenden Friedensbemühungen vorgestellt. Das Abkommen von Camp David wird als Einschnitt für die Strategie der Palästinenser deutlich, aber auch seine Schwachstelle, dass sie in diese Verhandlungen nicht einbezogen waren. Dass unter Begin, der im Persönlichkeitsbild recht höflich als, er »schreckte vor keiner Auseinandersetzung zurück« gekennzeichnet wird, eine offensive Siedlungspolitik betrieben wurde, versteht sich von selbst. Die Charakterisierung Rabins an späterer Stelle lässt die positiven wie problematischen Seiten dieses Politikers deutlich werden. Ähnliches gilt für den jordanischen König Hussein. Netanjahu wird als Hardliner geschildert, Shimon Peres »spiegelt die Geschichte des Staates Israel wider«. Von ihm gibt Vieweger ein bemerkenswertes Zitat über den Frieden wieder. Die schillernde Politik des als moderat geltenden Mahmud Abbas tritt ebenso in den Blick wie der allmähliche Wandel Ariel Sharons, als »eine der facettenreichsten Figuren der israelischen Politik«. Der Hisbolla- Führer Hassan Nasrallah wird als »der lange Arm des Iran« bezeichnet, aber dennoch als Garant einer gewissen Stabilität, der Hamasführer Ismail Haniyeh als »Radikaler, der nicht brüllt«. – Alle jeweils an passender historischer Stelle.

Zur Entstehung der Libanonkriege verweist Vieweger darauf, wie durch die Ausweisung der PLO aus Jordanien der Libanon von einem mehrheitlich christlichen Land zu einem »Aufmarschgebiet gegen Israel« wurde. Ein ständiges Hin und Her von »PLO-Anschlägen auf israelische Ziele« und »Attacken auf Stellungen der PLO im libanesischen Gebiet« folgte, bis im März 1948 Fatah-Boote Überfälle auf die Küstenstraße zwischen Haifa und Tel Aviv verübten. Begin ließ daraufhin einen 10 km breiten Streifen im Südlibanon besetzen, der dem Kommando des christlichen Libanesen Hadad übergeben wurde. Die Vorgänge in den Folgejahren, die Ausweisung der PLO nach Tunis, das Massaker christlicher Milizen in den Palästineserlagern Sabra und Schatila bis hin zum Rückzug Israels aus dem Libanon 2000 werden korrekt referiert und ein Überblick über israelische Friedens- und Menschenrechtsgruppen gegeben.

Die Schilderung der Ereignisse und Hintergründe von der ersten Intifada bis zum Oslo-Abkommen weckt beim Rezensenten viele persönliche Erinnerungen. Eine Karte der Gebiete, die allmählich unterschiedliche Autonomie erhielten, zeigt zugleich die noch zu lösenden Probleme. Die Ermordung Rabins brachte den sich anbahnenden Friedensprozess zum Stillstand, da auch auf palästinensischer Seite die radikale Hamas mehr und mehr Anhänger gewann. Dass vor den fälli- gen Wahlen die Umfragewerte für Shimon Peres »erdrutschartig« sanken, kann der Rezensent, der zu dieser Zeit in Israel war, nicht bestätigen. Noch am Abend vor der Wahl wurde dessen Sieg vorausgesagt. Der Erdrutsch muss sich im Laufe des Wahltages ereignet haben. Die Depression bei der linksliberalen Intelligenz war groß. Auch lässt sich fragen, ob die verschiedenen Versuche des US- Präsidenten Clinton, den Friedensprozess wieder in Gang zu bringen, an Netanjahu oder der Parlamentssituation unter seinem Nachfolger Barak scheiterten oder daran, dass die palästinensische Seite eine Lösung von außen ablehnte. Im Blick auf die »Road Map« von 2002/3 wird man dasselbe fragen müssen.

Mit Recht wird festgestellt, dass die Enttäuschung über das Scheitern dieser Verhandlungen zu den Hauptursachen der zweiten Intifada gehöre, bei der es sich »von Anfang an um einen organisierten bewaffneten Konflikt« handelte. wobei offen bleibt, welche Rolle dabei das Betreten des Tempelbergs durch Ariel Sharon spielte (anders im Persönlichkeitsbild auf S. 236). Die beiden Lesarten werden sachlich referiert. Ein Diagramm macht die Rückwirkungen auf die palästinensische Bevölkerung deutlich. Israel spürte einen Rückgang des Tourismus und einen Anstieg der Arbeitslosigkeit. Die spektakulärsten Terroranschläge und die israelischen Gegenmaßnahmen werden referiert, falsche Behauptungen über Israels Verhalten richtiggestellt.

Sharons völliger Rückzug aus dem Gazastreifen verfehlte die beabsichtigte Wirkung durch die Machtübernahme der Hamas. Die Bewertung der »Sperranlage« wird nur mit dem Hinweis auf die »Herkunft der Selbstmordattentäter« begründet; dass diese seither nicht mehr erfolgreich sind, wird (außer in einem Zitat des israelischen Außenministeriums) nicht genügend hervorgehoben. Die Problematik der Christen im palästinensischen Autonomiegebiet wird sehr knapp angesprochen. Was dagegen in politischen Diskussionen oft vernachlässigt wird, kommt deutlich zur Sprache: Entführungen und Raketenbeschüsse mit vielen israelischen Toten als Auslöser für den zweiten Libanonkrieg und die Gazaoffensive. Die Ratlosigkeit in der Beurteilung der gegenwärtigen Lage kommt in einem Interview mit einem israelischen Popmusiker und Neffe Moshe Dayans und in der Überschrift über die zweite Amtszeit Netanjahus zum Ausdruck: »ein offenes Ende«, als Beispiel wird die Erklärung historischer Stätten als »nationale Kulturdenkmäler « genannt, die teilweise auf palästinensischem Autonomiegebiet liegen.

Im Schlusskapitel vergleicht Vieweger die Problemlage mit dem »Gordischen Knoten«, weil die unterschiedlichen Ansprüche und ihre Denkvoraussetzungen nicht »vollständig miteinander vereinbar« seien. Einsichtig ist auch seine Einschätzung: »Niemand kann den Konflikt rein rational lösen.« Eine Liste zu lösender Probleme zeigt dies. Auf den Punkt bringt es eine Karikatur aus der israelischen Zeitung Haaretz: Man sieht einen Palästinenser und einen Israeli, die ge- meinsam auf einer Bombe schaukeln und einander zurufen, »You stop!«. Die neuesten Entwicklungen in Ägypten machen die Dringlichkeit baldiger tragfähiger Regelungen erst recht deutlich, konnten aber von Vieweger noch nicht berücksichtigt werden.

Insgesamt ist für das Buch charakteristisch: Äußerst knappe und dennoch präzise, unparteiische Darstellung, Exkurse mit lexikonartigen Persönlichkeitsbildern, viele authentische Zitate. Zu begrüßen wäre gewesen, wenn die jeweils in die laufende Darstellung eingefügten Persönlichkeitsbilder der Politiker im Inhaltsverzeichnis separat ausgewiesen worden wären.

Dieter Vieweger: Streit um das Heilige Land. Was jeder vom israelisch-palästinensischen Konflikt wissen sollte.

288 S., kart., zahlreiche teilweise farbige Abbildungen, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2010, ISBN 978-3-579-06757-5

 

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