Pius XII. und die Deportation der Juden Roms

Auf Geheiß von Papst Franziskus öffneten die Vatikanischen Archive am 2. März 2020 alle Akten des Weltkriegspapstes Pius' XII. (1939–1958) für die Forschung. Seit Jahren war dieser überfällige Schritt mit Hochspannung erwartet worden. Wissenschaftler:innen aus aller Welt begannen, Millionen „neuer“ Dokumente auszuwerten – aufgrund der sich ausbreitenden Coronapandemie mussten die Archive nach fünf Tagen ihre Pforten erneut schließen.

Die päpstliche Ankündigung dieser Apertura nahm der Freiburger Theologe Klaus Kühlwein noch in die Einleitung seiner Studie auf (17, 20), Einsicht in den neuen Aktenbestand hatte er freilich nicht mehr. Die grundlegende Überarbeitung seiner beiden bereits 2008 und 2013 veröffentlichten Werke zur selben Thematik[1] erschien jedoch „just in time“ als „Vademecum“ für die nun beginnende Auswertung der vatikanischen Akten.[2]

„Unter den Fenstern des Papstes“ (240) – diese Worte, die der deutsche Botschafter beim Heiligen Stuhl Ernst von Weizsäcker über die deutsche Judenrazzia in Rom vom 16. Oktober 1943 telegrafierte, gelangten zu einer traurigen Berühmtheit. Sie stehen als Chiffre für die von der SS auf Befehl Hitlers durchgeführte Deportation 1020 römischer Jüdinnen und Juden – in unmittelbarer Nachbarschaft zum Vatikan – in das Konzentrationslager Auschwitz. „Zu keinem Zeitpunkt sonst während des Krieges war der Holocaust Papst Pius so nah und so dringlich an ihn herangekommen wie am 16. Oktober 1943 und den Tagen danach.“(292)

Dies führt mitten hinein in die Leitfrage der Studie: Wie verhielt sich der Stellvertreter Jesu Christi auf Erden zur Razzia in Rom? K. setzt sich entschlossen mit der seit Jahrzehnten immer wieder propagierten These „Pius XII. hat während der Razzia mit Umsicht und mutiger Entschlossenheit den allergrößten Teil der Juden Roms vor dem Zugriff der SS gerettet“ (10) auseinander. Dies versteht er als „Brennglas“ (19) für die spätestens seit Rolf Hochhuths Drama „Der Stellvertreter“ (1963) hochbrisanten Frage nach dem Schweigen Pius' XII. zum Holocaust.

Nach einer Einleitung samt Darlegung des Forschungsstandes und seiner konsultierten Akten, gliedert K. seine Studie inhaltlich in sieben Kap. Zunächst gibt er einen gestrafften Überblick „Was wusste Pius XII. vom Holocaust?“ (23–67), in dem er die gängigen und bereits bekannten Quellen in einer übersichtlichen Gesamtschau bündelt. Würdigend hervorzuheben ist die Arbeit des Vf.s mit der seit den 1970er Jahren vom Vatikan hg. elfbändigen Aktenedition Actes et documents du Saint Siège relatifs à la Seconde Guerre Mondiale, wobei er zu Recht wiederholt auf deren Mängel verweist (19, 158). Auch die päpstliche Radioansprache zu Weihnachten von 1942, die vielerorten gebetsmühlenartig als die Stellungnahme schlechthin Pius' XII. zum Holocaust ange?ührt wird, unterzog K. einer Interpretation, wenngleich er hier zu einer nicht quellenbasierten Spekulation neigt: „Die Formulierung der Ansprache kostete Papst Pius mehr Zeit und Schweiß als sonst bei schwierigen Verlautbarungen.“ (39) Dies ist nichts weiter als eine durchaus plausible Hypothese, denn bis heute konnte der Entwurf der Weihnachtsansprache in den vatikanischen Archiven nicht ausfindig gemacht werden. Für K. ist klar: „Ende 1942 war Pius XII. einer der bestinformiertesten Zeitgenossen über den lodernden Judengenozid in Polen und den Ostgebieten.“ (56)

Dann richtet K. den Fokus darauf, wie „der Holocaust zu den römischen Juden kam“ (69–101), wobei er an dieser Stelle das schier unüberschaubare Tableau der beteiligten Akteur:inn:en eröffnet. Die Vorgeschichte zur Razzia skizziert er im dritten Kap. „Deportation für die Juden Roms“ (103–166). Detailliert schildert er die Umstände und die undurchsichtige Rolle des Vatikans um die Erpressung der jüdischen Gemeinde um fünfzig Kilogramm Gold durch Herbert Kappler, den Chef der Sicherheitspolizei in Rom, um die sich bis heute viele Spekulationen ranken. Im Kap. „Die Razzia“ (167–219) rekonstruiert K. minutiös die Ereignisse des 16. Oktobers. Dabei spart er nicht mit Zeitzeug:inn:enaussagen, wörtlichen Zitaten und der detailreichen Schilderung vieler emotional dichter und ergreifender Einzelschicksale. Dann der Kameraschwenk samt Perspektivwechsel in den Vatikan: In den beiden Kap.n „Hektische Diplomatie“ (221–256) und „Zurückhaltend und schweigsam“ (257–311) stellt K. – entgegen widersprechender Forschungsmeinungen – den Mythos „Pius XII. als Retter der Juden Roms“ auf den Prüfstand. Im letzten Kap. „Resümee. Anmerkungen zum Schweige-Protest-Konflikt Pius XII.“ (313–346) geht K. auf die höchste päpstliche Maxime „Ad maiora mala vitanda“ (314, 334) ein, wägt schließlich alle Argumente ab und scheut dabei nicht, die diffizile moraltheologische Reflexion in den Blick zu nehmen. Gerade auch die Tatsache des Schweigens des Papstes nach Ende des Zweiten Weltkrieges klammert er zu Recht nicht aus (341–345).

Sprachlich überzeugt die Studie durch einprägsame Metaphern („pfeifende Kugeln“, 80), kurze, knappe, teils sogar im Sekundenstil gehaltene Sätze. Hier und da lässt eine emotionalisierte Sprache jedoch die gebotene historische Nüchternheit vermissen, v. a. wenn an exakt jenen Stellen keine Quellenbelege existieren („Ihm [Pius XII.] schwante Böses.“, 223). Den Lesefluss fördert K. durch immer wieder neu aufgeworfene Fragen oder durch die Cliffhanger am Ende eines Kap.s. Leider sind kleinere Druckfehler zu bemängeln, wie etwa „verängstig“ (209), „Diplomatenschlicht“ (236), „War der Vorgang ist zu peinlich?“ (258), „Lebensmittelpakt“ (262), „Pius XII. (1976–1958)“ (300). Die Auflistung der Zeug:inn:enliste (367–370) ist zwar hilfreich, ein Personenregister wäre für die wissenschaftliche Rezeption jedoch nützlich gewesen. Es liegt ganz klar ein populärwissenschaftliches Werk, jedoch mit hohen wissenschaftlichen Ansprüchen, vor.

Wenige kirchenhistorische Persönlichkeiten sind derzeit von einer solch öffentlichen Kontroverse geprägt wie Pius XII. Jenseits von Polemik und beißender Kritik sowie beatologischer Apologie und Hagiografie – eine Seltenheit bei dieser Thematik – schafft es K. auf Basis eines breit ausgewählten Quellenmaterials „sine ira et studio“ eine entscheidende Episode in der Frage nach dem Verhalten des Papstes zum Holocaust unter die Lupe zu nehmen. Wohlüberlegt und überzeugend dekonstruiert K. den Mythos Pius XII. als der Retter der Jüdinnen und Juden Roms am 16. Oktober 1943 und entlarvt den päpstlichen Stopp der Razzia als Mär. K., der wahrlich kein Hofgeschichtsschreiber ist, macht durch solide Quellenarbeit deutlich: Ein ständiges Wiederholen vermeintlich unumstößlicher Forschungsthesen mache diese nicht wahrer oder vertrauenswürdiger. Mit Spannung darf nun erwartet werden, welche neuen Erkenntnisse K. – wie er in seiner Einleitung ankündigt (20) – in Bezug auf die Judenrazzia aus den neu zugänglichen vatikanischen Akten zutage fördern und der Weltöffentlichkeit präsentieren wird.  

Klaus Kühlwein:
Pius XII. und die Deportation der Juden Roms.

Berlin: Peter Lang Verlag 2019.
385 S., geb.  € 64,95

Editorische Anmerkungen

Matthias Daufratshofer, Dr., ist Akademischer Rat a. Z. am Seminar für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte der Universität Münster.

Quelle: Theologische Revue 118, Feb. 2022; DOI: https://doi.org/10.17879/thrv-2022-3771.

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