Maximilian Gottschlichs "Unerlöste Schatten"

Weiterlesen! – dies ist allen zu empfehlen, die zunächst versucht sind, das Buch zur Seite zu legen, weil es scheinbar zu unkritisch auf die vor 50 Jahren verabschiedete Konzilserklärung „Nostra Aetate“ eingeht, indem die Behauptung erhoben wird: „Auf zwei Seiten stellt das Konzil alles auf den Kopf, was zweitausend Jahre lang herrschende Lehre und Praxis in der Kirche war und das feindliche Verhältnis von Kirche und Christen zu den Juden prägte.“

 Zu viel des Guten und Löblichen, denkt mancher seit Jahren im christlich-jüdischen Dialog Engagierte, der dieses Dokument gerade im Blick auf seine Aussagen über das Judentum für viel zu zögerlich und zurückhaltend hält. Deshalb: Weiterlesen! Denn nur so wird deutlich, wieviel Energie und Ausdauer es kostete, bis diese Erklärung zustande kam.

Im ersten Kapitel wird die „Mission des Jules Isaac“ dargestellt, eines 83jährigen französischen Historikers und Überlebenden des Holocaust, dessen Frau und zwei Kinder dabei ermordet wurden. Isaac hatte sich zum Ziel gesetzt, die „mächtige Institution der katholischen Kirche zu bewegen, mit ihrer Jahrtausende alten Tradition des Antijudaismus zu brechen.“ Ob dessen Ursache tatsächlich darin lag, dass, wie Isaac meinte, das Neue Testament von der Kirche falsch gelesen wurde, sei dahingestellt, denn erste Abgrenzungen gegenüber „den Juden“ lassen sich bereits bis ins Neue Testament verfolgen, richtig war jedoch seine Überzeugung, jetzt sei die Zeit reif für ein radikales Umdenken der Kirche. Von dem damals neuen Papst Johannes XXIII hatte sich Jules Isaac dabei viel versprochen. Es ging ihm nicht nur um eine Liturgiereform zur Tilgung judenfeindlicher Passagen in traditionellen Gebeten, „sondern um grundsätzliche Glaubenspositionen und Dogmen“.

Beide Gesprächspartner waren bereits verstorben, als das Konzil im Oktober 1965 u.a. über das „Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen“ abzustimmen hatte. Sehr differenziert schildert Gottschlich das Ringen verschiedener Strömungen innerhalb des Konzils um dieses Dokument, das schließlich unter dem Titel „Nostra Aetate“ beschlossen und veröffentlicht wurde und in dem das Kapitel über das Verhältnis zu den Juden als vierter Teil den Abschluss bildete. Auch die zur Diskussion stehenden Alternativen werden benannt und deren jeweilige kirchenrechtliche Relevanz angerissen. Deutlich wird aber, dass ein Anhang zur Konstitution über die Kirche als „mystischer Leib Christi“ zur Folge gehabt hätte, dass „sämtliche getroffenen programmatischen Aussagen zum Judentum künftighin Verbindlichkeitscharakter gehabt“ hätten. Man mag sich fragen, was daran problematisch gewesen wäre. Dennoch wurde darüber am heftigsten gerungen, nicht zuletzt auch deshalb, weil die arabischen Christen sich gegen eine zu hochrangige Erklärung der Kirche gegenüber dem Judentum zur Wehr setzten.

Dieses Ringen wird ohne diese Hintergrundinformationen bei unbefangener Lektüre des Textes kaum bewusst. So aber wird Gottschlichs Bewertung des Dokuments nachvollziehbar: „Damit gibt sich die Katholische Kirche eine neue Identität. Denn von da an definiert sie sich nicht mehr, wie zwei Jahrtausende hindurch, in Abgrenzung und Gegnerschaft zum Judentum, sondern in einem Verhältnis positiver Zuwendung und Wertschätzung.“ Allerdings lassen die Irritationen, die zwischenzeitlich eingetreten sind, zweifeln, ob er mit dieser Einschätzung richtig liegt: „Die Identität des Christentums kann sich erst im Horizont des Judentums entfalten“, und zwar indem es nicht als „negative Hintergrundfolie“ gesehen wird. Ob die von dem katholischen Priester und ehemaligen Juden Oesterreicher stammende Formulierung, Christen seien „spirituelle Hebräer“, glücklich gewählt ist, scheint zweifelhaft, weil sich Juden nicht als „Hebräer“ bezeichnen. Auch die „Unvereinbarkeit von Christentum und Antisemitismus“ wird so nicht ausdrücklich in diesem Konzilsdokument festgestellt; ihm zufolge „beklagt die Kirche … alle Haßausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus“. In einem späteren Kapitel räumt der Autor ein, die Erklärung habe „verabsäumt“, sich klar von der Ambivalenz gegenüber Juden zu distanzieren. Dennoch bleibt anzuerkennen, dass die Aussagen von Nostra Aetate für damalige Zeiten einen wesentlichen Fortschritt darstellten. Gottschlich zieht daraus weitreichende Konsequenzen, z.B. „Die Entfremdung vom Judentum bedeutete eine Entfremdung von sich selbst.“ Er übersieht jedoch nicht: „50 Jahre nach Nostra Aetate steht die Kirche, stehen die Christen erst am Anfang den Anspruch einzulösen, der sich hinter diesem knappen, innerkirchlich und politisch heiß umfehdeten Text zur Judenfrage verbirgt.“

Doch steht heute einer wirklichen Rezeption der Anstöße eher Gleichgültigkeit und mangelnde Sensibilität entgegen. Darauf geht Gottschlich im Kapitel „Fehlende Signale“ ein und stellt fest, „der Antisemitismus ist weiter verbreitet als je zuvor.“ Wenn er bemängelt, in den katholischen Erklärungen „fehlen heilsame Worte der Scham, des Bedauerns, der Reue“, so muss leider festgestellt werden, dass auch evangelische Synodalerklärungen, denen diese Momente enthalten sind, nichts an der Grundeinstellung geändert haben. Kann es also daran gelegen haben, dass Nostra Aetate keine kirchliche Konstitution mit verbindlichem Lehrcharakter ist? Denn: „Das Christentum ist tiefer in die Problematik des Antisemitismus involviert, als es die kargen Aussagen von Nostra Aetate zum Thema Antisemitismus erkennen lassen.“ Mit Recht verweist er auf die enge Verknüpfung zwischen „Ersatztheologie“ und kirchlichem „Antisemitismus“, so dass „es eines öffentlichen, mit der Autorität eines Konzils versehenen, Schuldbekenntnisses bedurft“ hätte. Die Auffassung, dass dies die „Initialzündung zu einem kollektiven Prozess“ der Selbstreinigung geführt hätte, ist nur auf dem Hintergrund eines katholischen Kirchenverständnisses verständlich. Wieso jedoch eine „halbherzige Wende“ zugleich eine „revolutionäre“ sein kann, müsste begrifflich genauer erklärt werden. Ist diese Erklärung deshalb so „folgenlos geblieben“ oder deshalb, weil der moderne Antisemitismus „vor allem in der Gestalt des Antizionismus und Anti-Israelismus weiter“ lebt? Die religiösen Motive interessieren heute nur noch die Theologen, nicht die Allgemeinheit. Es können nicht alle treffenden Beispiele für das Weiterleben „von antisemitischen Haltungen“ in der Kirche genannt werden, die Gottschlich anführt. Auch hier gilt: Weiterlesen! Ob man jedoch von einer „Dämonologie des jüdischen Staates sprechen kann, oder von „Dämonisierung“ sprechen müsste, ist eine andere Frage.

Mit Recht bemängelt er in diesem Zusammenhang, dass es Nostra Aetate vermieden habe, rechtzeitig die Grundlagen zu einem positiven Verhältnis zum gegenwärtigen Judentum und damit auch zum jüdischen Staat zu legen. Angesichts der fortschreitenden Säkularisation ist auch fraglich, ob die Kirche mit mehr Eindeutigkeit in der Gesellschaft „eine heilstiftende, therapeutische Funktion [hätte] übernehmen können.“ Eher hätte es „wesentlich größerer kommunikativer Anstrengungen bedurft“. Oder war es den Kirchenführern gar nicht so ernst damit, so „dass die Kirche über das Judentum immer noch mit gespaltener Zunge redet“?

Der zweite Teil des Buches geht auf den Gesamttitel ein und behandelt das Phänomen unter den Gesichtspunkten „Soziale Krankheit“, „Antisemitische Pandemie“ und „negative Mythen“ – Stichwörter, die zugleich eine in den Kern der Problematik führende Charakterisierung darstellen. Unter dem Stichwort „Soziale Krankheit“ geht er u.a. auf Simmel, Adorno und Horkheimer ein. Aber führen Aufklärung und instrumentelle Vernunft tatsächlich zur Entmenschlichung des Menschen, oder ist deren Pervertierung auf andere Ursachen zurückzuführen? In diesem Kapitel, das die sozialpsychologische Seite des Antisemitismus beleuchtet, wird dieser als „Schatten“ bezeichnet, „der dem Christentum auf seinem Weg durch die Geschichte folgt“, dem sich die Christenheit aber nicht stellen will; darin sieht Gottschlich dessen „tieferen, psychosozialen Wurzeln“ und prägt den Begriff „Christliche Immunschwäche“. Man kann – wie er – den Antisemitismus als „Geburtsfehler des Christentums“ bezeichnen, sollte dann aber auch den entscheidenden Schaltstellen genau nachgehen, um nicht in den umgekehrten Fehler zu verfallen. Dies würde allerdings eine genaue historische Studie erfordern, nicht nur wertende Blicke auf die nicht wegzuleugnenden Phänomen.

Auch die „Antisemitische Pandemie“ ist ein einprägsames Schlagwort. Hier kommt er sowohl auf den „islamischen Faschismus“ als auch auf die Erstarkung rechter Gruppierungen zu sprechen und sieht die Juden in einem „Dreifrontenkrieg“, und zwar mit sich radikalisierendem wiedererwachtem Antisemitismus, Antizionismus und islamistischem Judenhass. Dazu tragen u.a. historisch fragwürdige Parallelisierungen gegenwärtiger israelischer Politik mit Ereignissen des 20. Jahrhunderts bei, so dass er die antisemitische „Pandemie“, als „antisemitische Internationale“ im Judenhass vereint sieht. Stereotype wie „zuviel Einfluss in der Geschäftswelt“ tun ihr Übriges. Eigentlich könnte man auch dieses Vorurteil zu den „Negativen Mythen“ rechnen, um die es im nächsten Kapitel geht, das der zentralen Bedeutung der „Einmaligkeit des Judenhasses" gewidmet ist. Um einen „Zivilisationsbruch“ handelt es sich bei der Shoah, weil hier „Menschen der bloßen Vernichtung wegen vernichtet werden konnten“. Wichtig ist dabei der Hinweis auf den Unterschied zu allgemeiner Fremdenfeindlichkeit.

Anhand der Veränderungen der Septuaginta gegenüber dem hebräischen Urtext des Esterbuches, arbeitet er im Anschluss an den jetzigen Leiter des Jüdischen Museums in Berlin, Peter Schäfer, heraus, dass bereits in der Antike der Grund der Judenfeindschaft in ihrer „Absonderung“ liege. Vielleicht hätte, um allen Missver-ständnissen vorzubeugen, auch noch als Grund für diese Absonderung auf die jüdischen Speisegebote verwiesen werden sollen, um nicht dem Vorwurf elitärer Überheblichkeit Vorschub zu leisten. Stattdessen verweist Gottschlich (ebenfalls im Anschluss an Peter Schäfer) auf die bereits in der Antike existierende Theorie einer jüdischen Verschwörung gegen die gesamte Menschheit. Das einfache Volk dürfte aber eher am ganz alltäglichen Umgang mit Nichtjuden Anstoß genommen haben. 

In dem Kapitel „Das Melito-Syndrom“ beschreibt Gottschlich knapp und weithin zutreffend die Entwicklung des frühen Christentums und seines Verhältnisses zur Judenheit. Allerdings erwähnt er Melito von Sardis darin nur kurz, ohne sich mit dessen judenfeindlicher Hetzpredigt wirklich auseinanderzusetzen. Ihm geht es darum, dass der heidnische Mythos jüdischer Menschenfeindlichkeit vom Mythos des „Gottesmordes“ abgelöst wird. „Das Christentum übernahm die kulturelle Antipathie des heidnischen Antisemitismus“. Allerdings haben die repressiven Maßnahmen gegen Juden ab dem 4. Jh. nichts mit Melito zu tun. Er zitiert dafür auch Johannes „Chrysostomus“ (Goldmund), einen Theologen des ausgehenden 4. Jh. Richtig ist die Vorstellung von der Kirche als dem neuen Gottesvolk als Ursache dieses Hasses beschrieben. Besonders hervorzuheben ist seine grundsätzliche Feststellung: „Die Bedrohung der moralischen, kulturellen und nationalen Identität der Wir-Gruppe und die Sicht der Juden als »Fremdkörper« ist konstanter Bestandteil antisemitischer Mythologie.“ Diese Haltung steht auch hinter aller heutigen Ablehnung und Abschottung gegenüber Angehörigen anderer Kulturen und Religionen.

Gottschlich bezieht sich zur Charakterisierung der weiteren Entwicklung des Verhältnisses zu den Juden durchweg auf die amerikanische Theologin Rosemary Ruether, wobei er übersieht, dass generell mit religiös-weltanschaulichen Außenseitern so umgegangen wurde; auch sieht er wohl die Entwicklung bis hin zur „Endlösung“ zu monokausal. Richtig ist dagegen im Blick auf den modernen Antisemitismus der Hinweis, „der Preis für die Emanzipation war die kulturelle Assimilation der Juden.“ Man sah jetzt in den Juden „eine Gefahr für die nationale und sittliche Integrität.“ Dies dürfte allerdings mit der allgemeinen Entwicklung der gesellschaftlichen Säkularisation zusammenhängen. Gottschlich beschreibt dies z.T. mit sehr drastischen Begriffen. Hier rächt sich seine zu enge Bindung an R. Ruether, deren großen Verdienste um die Entstehung des religiösen Antisemitismus damit nicht geschmälert werden sollen. Ob sich allerdings der moderne rassistische Antisemitismus aus dem „Mythos des Christusmordes“ speiste, oder sich dessen nur als willkommener Unterstützung bediente, müsste gründlicher untersucht werden. Auch sollte genauer geprüft werden, ob der „antichristliche Rassenantisemitismus“ nicht mindestens ebenso in einem unkritischen Nationalismus wurzelte. Dass mit dem Negieren der Juden und ihres Schicksals „zugleich auch der Jude Jesus negiert werden musste“, lässt sich dagegen an der damaligen theologischen Strömung, die sogar den Ariernachweis für Jesus zu erbringen suchte, leicht nachprüfen. Mit Recht wendet sich Gottschlich energisch gegen das exkulpatorische Argument, der NS-Judenhass sei im Grunde aus einem Christenhass hervorgegangen. Allerdings gilt es, sich vor einer monokausalen Erklärung der Judenverfolgung zu hüten.

Gottschlichs Anliegen ist zu begrüßen, es darf aber nicht durch zu heftige und einseitige Schuldzuweisungen gefährdet werden. Dass der frühe Hitler meinen konnte, den Kampf gegen das Judentum zu vollenden, den „Christus begann, aber nicht zu Ende führte“, ist allerdings sicher zum Teil auch die Schuld einer traditionellen kirchlichen Fehlinterpretation der Botschaft Jesu. Allzu plakative Geißelung von Fehlentwicklungen könnte sich jedoch kontraproduktiv auswirken. Doch konzediert Gottschlich den judenfeindlichen Äußerungen der Kirchenväter, dass sie die Juden nicht vernichten, sondern für die christliche Kirche gewinnen wollten. Dass Hitlers Hasstiraden nicht nur pseudotheologisch, sondern sogar mit unzutreffenden biologischen Metaphern begründet wurden, wird ebenfalls deutlich herausgestellt. Fast jede Seite des Buches lässt erkennen, dass der Autor nicht nur sachlich analysiert, sondern persönlich leidenschaftlich engagiert ist. Mit Recht stellt er fest, das Christentum sei „aus dem Judentum hervorgegangen“; aber nicht trifft die Behauptung zu, „die Mission Jesu war keine andere, als die jüdische Religion zu universalisieren“. Dies war noch nicht einmal die Absicht des Paulus.

Die „Metamorphosen des Antisemitismus“ sind Gegenstand des dritten Teils dieser Abhandlung. Hier liest man erschüttert, dass noch 24% der Deutschen und 33% der Österreicher der Meinung sind, die Juden seien an ihrem Schicksal im Hitler-Deutschland selbst schuld. Dass die Demokratie nicht mühsam erstritten, sondern als „von den Siegern eingeführte“ Staatsform empfunden wurde, sieht er als einen wesentlichen Grund für die mangelnde geistige Aufarbeitung der Vergangenheit. Österreich flüchtete sich gar in einen „Opfermythos“ und damit „in eine Opferkonkurrenz zu den wahren Opfern der NS-Diktatur“. So kommt es zu perversen Einstellungen wie "Schuld haben Juden und „Israel, weil es uns schuldig macht“. Der jüdische Staat als Erinnerung daran, „dass Viele im Dritten Reich schuldig geworden sind“, wird nach Gottschlich aus verkapptem Antisemitismus  delegitimiert. Mit Recht verweist er darauf, dass dies vor allem in der europäischen Linken der Fall sei, versäumt aber darauf hinzuweisen, dass dies noch ein Erbe des Kalten Kriegs ist, in dem sich die Linke auf die arabische Seite schlug, während Israel als Brückenkopf des westlichen Imperialismus galt. Dass Israels Politik dabei mit den Nazis parallelisiert wird (nach einer Umfrage von 42% der Österreicher), ist besonders makaber und infam. Dass dies auch eine Strategie der Hamas ist, wird ebenso deutlich wie die verschiedensten Verschwörungstheorien, nicht nur der sog. „Protokolle der Weisen von Zion“. Die gegenwärtige Israelkritik misst er an Grundsätzen jeder berechtigten Kritik: „zwischen wahr und falsch, richtig und unrichtig zu unterscheiden“ und verweist auf Sharansky‘s „3 D‘s: Delegitimierung, Dämonisierung und die Verwendung moralischer Doppelstandards.“ Unter dem Stichwort „David-Goliath-Effekt“ verweist er auf die Asymmetrie zwischen militärischer Stärke einer staatlichen Armee und international organisierten Terrorgruppen. Gegenwärtige weltweite Terroraktionen zeigen, dass  dabei dem nicht staatlich organisierten Widerstand nicht nur die vom Autor beschriebenen Mittel der psychologischen Kriegführung zur Verfügung stehen, so zutreffend es ist, dass Palästinensergruppen versuchen, „Israel in der Weltöffentlichkeit als Aggressor und Feind des Friedens zu stigmatisieren.“ Es geht auch nicht nur um eine „tautologische Falle“, wenn der „Schwächere“ als im Recht befindlich eingeschätzt wird, sondern um die Frage, wer der wirklich der Schwächere ist. Seiner Wertung des gegenwärtigen Mehrheitsjournalismus müsste dieses Kriterium noch hinzugefügt werden. Auf die Parallelisierung angeblicher „Islamophobie“ mit Antisemitismus weist Gottschlich allerdings hin und geht diesem Begriff genauer nach.

Im vierten Teil geht es ihm um Solidarität und Wege aus dem Antisemitismus. Seinen Ausgangspunkt nimmt er bei der Beobachtung: „Wo immer heute radikal islamistische Terrorgruppen in den Ländern des Mittleren Ostens oder in Afrika wüten, sind Menschen anderen Glaubens, darunter viele Christen, zur Flucht gezwungen“. Er fragt im Anschluss an den Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses Ronald S. Lauder, wo dagegen in der westliche Welt Massenproteste laut würden; die Welt dürfe davon ebenso wenig wegschauen wie vor den nationalsozialistischen Judenmorden und sich „gegen das Leid unschuldiger Opfer“ immunisieren lassen, sondern eine „Kultur des Mitgefühls“ entwickeln, dessen „gesellschaftliche Praxis“ Solidarität sei. Dabei ist er geleitet von der Grundidee, „dass die Grenzen der Religionen nicht die Grenzen der moralischen Pflicht zur Solidarität sein dürfen.“ Bei einem im christlichen Glauben verwurzelten Autor wundert es allerdings, dass er die „Wurzeln des Solidaritätsprinzips“ in der Französischen Revolution sieht und nicht in dem biblischen Gebot, den Nächsten, ja sogar den Fremden zu lieben; denn „er ist wie du“, wie seit Leo Baeck die richtige Übersetzung lautet. Was er jedoch über diese Solidarität schreibt, kann ohne Abstriche unterschrieben werden.

Ob allerdings Israel von der arabischen Welt deshalb als Bedrohung empfunden werde, „weil es eine Zukunft verkörpert, auf die sich auch die arabische Welt unweigerlich hinentwickelt“, müsste anhand belastbarer Belege nachgewiesen werden. Nicht recht deutlich wird seine Bewertung der Anerkennung des palästinensischen Staates durch den Papst, auch wenn er anschließend die reale Problematik schildert, die der Begriff „Anerkennung“ in der mit Verschwörungstheorien gesättigten arabischen Propaganda darstellt. Auch scheint es zu kurz gegriffen, die Erfahrungen des Holocaust als „die eigentliche Quelle der solidarischen Beziehung zwischen Christentum und Judentum“ zu bezeichnen. Hier hatten die Anfangskapitel stärkere und überzeugendere Argumente geliefert. Das „Kairos-Palästina-Dokument“ als den „blinden Fleck der Christen“ zu bezeichnen, trifft dagegen voll ins Schwarze. Inwieweit dieser mit der verdrängten Schuld der Christen an den Juden zusammenhängt oder zumindest auch mit einer Fehleinschätzung, wer in diesem Kampf die Starken, wer die Schwachen sind, ist gründlicher Diskussionen wert. Außerdem wäre mehr Vorsicht hinsichtlich der Behauptung geboten, der militante Islamismus habe mit dem Koran zu tun. Richtiger wäre: mit einer bestimmten Interpretation des Koran. Zutreffend ist auch, dass die Autoren dieses Papiers hinsichtlich der Dauerfehde zwischen dem Staat Israel und den Palästinensern Ursache und Wirkung verwechseln. Allerdings ist auch Gottschlichs Darstellung der politisch-militärischen Entwicklung nach 1948 und 1967 deutlich abzuspüren, wo seine Sympathien liegen, auch wenn er vor „geschichtsverfälschender Schwarz-Weiß-Malerei“ warnt. Dass der Apartheids-Vorwurf gegenüber Israels Palästinenserpolitik absurd ist, weil er entweder die einstigen südafrikanischen oder derzeitigen palästinensischen Bedingungen nicht kennt oder ignoriert, muss nicht besonders betont werden, wohl aber verdient Gottschlichs Hinweis auf die Ehrung einer palästinensischen Terroristin durch Mahmoud Abbas Erwähnung; denn solche Ereignisse geraten angesichts aktueller Terroranschläge gerne in Vergessenheit. Allerdings unterlässt der Autor keine Gelegenheit, um auf den Ursprung des Antisemitismus im europäischen Christentum zu verweisen, indem die Juden jetzt nicht mehr als Gottesmörder, sondern als Palästinensermörder diffamiert werden. Allerdings fokussiert er seinen Blick zu sehr auf die palästinensischen Christen und übersieht, dass sie sich nur für eine umfassendere muslimische Judenfeindschaft instrumentalisieren lassen. Andererseits warnt er vor einer „symbiotischen Beziehung“ im christlich-jüdischen Denken und tritt für anerkennenden Respekt vor den wesentlichen Unterschieden ein.

Im letzten Kapitel greift er den Titel seines Buches auf, indem er Antisemitismus als Regression in ein „früheres, primitives, ›barbarisches‹ Stadium kollektiv-gesellschaftlicher … Charakterentwicklung“ bezeichnet. Psychoanalytisch mag diese Beurteilung zutreffen; aber es ist auch andererseits vor der Flucht in solche letztlich sterilen Bewertungen zu warnen. Es bedarf also nicht nur „einer neuen Wachheit und Sensibilität für die Vorboten sozio-pathologischer Störungen und Fehlentwicklungen", sondern auch gegenüber im Grunde richtigen, aber das Ganze letztlich in Begrifflichkeiten auflösenden Definitionen. Nur so kann die von ihm geforderte doppelte Strategie „einer Politik der Aufklärung und einer Kultur des Mitgefühls“ zum Tragen kommen. Zum Schluss kommt er (nochmals) auf die „Schatten imaginierter Bedrohung“ und des Hasses zu sprechen, jetzt aber als „Schatten“, die sich aus „vielen verborgenen Quellen“ speisen.

Alles in allem ist dem Autor zu danken, dass er sich so ausführlich und oft gegen den allgemeinen Trend dieser Problematik widmete. Sein persönliches Engagement, um nicht zu sagen, seine Kränkung durch die kirchliche Mitschuld, ist allenthalben zu spüren.

Leider gilt auch für dieses Buch, was über viele Neuerscheinungen auf dem Büchermarkt gilt: Gegen Ende häufen sich die Druckfehler – bis hin zu falschen Fußnoten.

Maximilian Gottschlich:

Unerlöste Schatten. Die Christen und der neue Antisemitismus.

Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2015

227 Seiten * € 19,90

ISBN: 978-3-506-78247-2


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Editorische Anmerkungen

Siehe auch hier jeweils im Wortlaut das Vorwort sowie die Einführung aus dem Buch.

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