Martin Luther und die Kabbala

Nur wenn man, anders als es der Verlag aus vermutlich verkaufstaktischen Gründen getan hat, den Haupttitel „Martin Luther und die Kabbala“ zum Untertitel macht, versteht man, um was es sich bei diesem Buch handelt: nicht um eine Monografie über Martin Luthers Verhältnis zur Kabbala, sondern um eine Neuausgabe seiner dritten judenfeindlichen Schrift „Vom Schem Hamephorasch und vom Geschlecht Christi“, übertragen in heutiges Deutsch, mit einem fachkundigen Kommentar ausgestattet und von ergänzenden Texten begleitet.

Luthers Judenfeindlichkeit fand im Zusammenhang mit dem Reformationsjubiläum 2017 viel Beachtung, so viel Beachtung wie noch nie und manch einer würde sagen: zu viel Beachtung. Zumindest ging die andere Seite Luthers, seine judenfreundliche Position des Jahres 1523 mit seinen geradezu revolutionären, die Judenemanzipation des 19. Jahrhunderts vorwegnehmenden Forderungen leider beinahe unter ebenso wie die mit der Reformation verbundenen religionspolitischen, Religion pluralisierenden Folgen, die sich mittel- und langfristig sehr wohl zu Gunsten der Juden auswirken sollten. Und judenfreundliche(re) Mit-Reformatoren wie Philipp Melanchthon, Lukas Osiander und Urbanus Rhegius fanden im Kontext des Reformationsjubiläums, das leider doch vielfach auf ein Luther-Jubiläum verkürzt wurde, überhaupt keine Berücksichtigung.

Beachtung fand vor allem Luthers Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ (1543), kaum dagegen seine erste judenfeindliche Schrift „Gegen die Sabbater“ und kaum seine letzte judenfeindliche Schrift „Vom Schem Hamephorasch“. Letztere ist auch außerordentlich schwer lesbar und ebenso schwer verständlich. Matthias Morgenstern (geb. 1959), Judaist und apl. Prof. am „Seminar für Religionswissenschaft und Judaistik / Institutum Judaicum“ der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, kommt das Verdienst zu, dieses Werk nunmehr in gut lesbares heutiges Deutsch übertragen und damit jedem Interessierten leicht zugänglich gemacht zu haben. Er steuert seiner Übertragung ferner einen fundierten und umfangreichen Kommentar bei, der nicht nur beim Verstehen von Luthers Text hilft, sondern tatsächlich auch, wie der Haupttitel des Buches ankündigt, Luthers Verhältnis zur Kabbala näher beleuchtet, ein schwieriges und deshalb bislang wenig angegangenes Unterfangen. Freilich kannte Luther „die Kabbala“ nicht wirklich, er kannte weder den [nicht: „das“, S. 182] Sefer Jezira noch die „Schaarei Orah“, sondern schöpfte aus der „Victoria adversus impios Hebraeos“ des Genueser Kartäusers [nicht: „Karthäuser“, S. 3] Salvagus Purchetus de Salvaticis. Auch hier suggeriert der Haupttitel des Buches etwas Falsches. Reuchlin kannte die Kabbala und Pico de la Mirandola kannte sie, später kannten sie einige Pietisten – nicht aber Luther. Unklar ist auch, inwieweit Luther mit den Werken dieser beiden christlichen Kabbalisten vertraut war (S. 190).

Morgenstern rechtfertigt sein Unterfangen, diese Schrift Luthers einem breiten, nicht nur dem wissenschaftlich interessierten Publikum zugänglich zu machen, indem er mehrfach an den engen Zusammenhang erinnert, den Luther selbst zwischen diesem späteren Werk und seiner früheren Juden-Lügen-Schrift gesehen hat.

Luthers Werk hat zwei Hauptteile. Im ersten bietet er eine Übersetzung der „Toledot Jeschu“, der antichristlichen jüdischen Jesus-Überlieferung der Spätantike und des Mittelalters und kommentiert sie. Im zweiten widmet er sich dem „Geschlecht Christi“, das heißt der – von zeitgenössischen Juden in Frage gestellten – davidischen Herkunft Jesu und seiner Messianität. In beiden Teilen argumentiert Luther außerordentlich anspruchsvoll, um nicht zu sagen spitzfindig und die Lektüre sowie das Nachvollziehen der Gedankengänge fallen dem Leser, trotz bester Qualität der Übertragung Morgensterns, außerordentlich schwer. Hilfreich sind die vom Bearbeiter geschaffene Gliederung sowie die Zwischenüberschriften, die es ermöglichen, das eine oder andere Thema – zum Beispiel Luthers Bezugnahme auf die Wittenberger Judensau – leicht ausfindig machen und gezielt aufschlagen zu können.

Luthers Argumentation ist durchzogen von einer heftigen antijüdischen Polemik, die schon gleich zu Beginn des Werkes darin gipfelt, dass Luther in Erwägung zieht, die Juden würden noch einmal „so grausam bestraft“ werden, „dass die Gassen voller Blut rönnen“ und „dass man ihre Toten nicht in Hunderttausenden, sondern in Millionen berechnen und zählen müsste“ (S. 4f).

Bislang wurde immer von allen, die sich mit Luthers Judenfeindschaft auseinandersetzten, hervorgehoben, dass Luther in seiner Juden-Lügen-Schrift „nur“ Zwangsarbeit und Vertreibung, nicht aber die Tötung von Juden gefordert hat. Hier aber zieht er sie tatsächlich in Erwägung, was bislang wohl deshalb kaum einer beachtet hat, weil schon der sperrige Titel der Schrift viele von der Lektüre des ebenfalls sperrigen Textes abgeschreckt hatte. Auch Thomas Kaufmann, der sich des Themas zuletzt, wenn auch nicht, wie viele denken, bahnbrechend angenommen hatte, geht in „Luthers Juden“ nur ganz kurz auf den „Schem Hamephorasch“ ein und auch bei ihm findet sich die Aussage: „Systematische Tötungen von Juden schloss Luther aus“ (Thomas Kaufmann: Luthers Juden. Stuttgart: Reclam, 2014, S. 133f).

Morgenstern publiziert im Anhang seines Werkes die in Luthers Toledot-Jeschu-Version fehlenden Stücke in deutscher Übersetzung (204-206) sowie aus dem „Sefer Serubbabel“, einer jüdisch-apokalyptischen Schrift des 7. Jahrhunderts, die antichristliche Geschichte von der Geburt des „Armilos“, einer von Juden mit Jesus identifizierten antimessianischen Gestalt (207f). Ferner enthält der Anhang eine nochmalige überblicksartige Auseinandersetzung mit Luthers Verhältnis zur jüdischen Jesus-Überlieferung und zur Kabbala (177-203) sowie ein, angesichts der vielen im Buch ständig vorkommenden Fachbegriffe, sehr hilfreiches Glossar, ein thematisch ausgerichtetes Literaturverzeichnis, ein Personen- und ein Bibelstellenregister sowie ein Register zur im Werk zitierten rabbinischen Literatur (Midraschim, Mischna, Tosefta, Talmud).

In seinem Urteil über Luther bleibt Morgenstern vergleichsweise zurückhaltend. Er bezeichnet Luther nicht, wie es jüngst Mode geworden ist, als Antisemiten. Er kritisiert die „Derbheit“ und die „Obszönitäten“ der Sprache (S. 202) und die Selbstgerechtigkeit Luthers. Er bedauert, dass Luther „so wenig Verständnis“ für die esoterischen Traditionen des Judentums aufbrachte (S. 203). Er weist aber auch darauf hin, dass die „Schimpfkanonaden Luthers […] nicht ganz unmotiviert waren“ (S. 203) – auch die unter Christen heute nur wenig bekannten Toledot Jeschu sind derb und obszön.

Morgensterns Arbeit ist sehr verdienstvoll, verdient Beachtung und zählt zweifellos unter dem Vielen, was rund um das Jubiläum erschienen ist, zu dem Wenigen, das bleibenden Wert haben wird, weil wirklich Neuland erschlossen wurde. Künftige Äußerungen zum Thema „Luther und die Juden“ werden an diesem Werk nicht vorbeigehen können. Gleichwohl sind Luthers Schrift wie auch Morgensterns Buch sicherlich nur für spezieller Interessierte geeignet.

Martin Luther und die Kabbala

Vom Schem Hamephorasch und vom Geschlecht Christi.

Neu bearbeitet und kommentiert von Matthias Morgenstern

Berlin University Press, Berlin 2017

300 S., Euro 19,90

Editorische Anmerkungen

*Dr. theol. Martin H. Jung ist Professor für Historische Theologie, Kirchengeschichte und Ökumenische Theologie an der Universität Osnabrück.

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