Die Frage, ob die drei Religionen so geworden wären, wenn es die beiden jeweils anderen nicht gäbe, behandelt der Tübinger Religionswissenschaftler Stefan Schreiner in einem Interview. Er stellt einen Kulturtransfer in unterschiedliche Richtungen fest. Heutzutage werde eine christlich-jüdische Tradition des Abendlands postuliert, die es nie gegeben habe, sondern die erst nach dem 2. Weltkrieg aus dem Erschrecken der Schoa entstanden sei. Für die christliche Selbstwahrnehmung habe man Jahrhunderte lang das negative Gegenüber, das «Feindbild Juden» gebraucht. Eine gemeinsame «christlich-jüdische Tradition» sei da nicht erkennbar. Das jüdisch-islamische Verhältnis war hingegen enger. Über viele Jahrhunderte lagen wichtige Zentren des Judentums in der islamischen Welt.
Im Mittelmeerraum leben die Angehörigen der drei grossen monotheistischen Religionen seit rund 1400 Jahren zusammen. Je nach Region und Epoche ist der Charakter der Begegnung, die dort stattfindet, unterschiedlich: Es gibt Zeiten von Konflikten und Abgrenzung und ebenso Zeiten von Koexistenz und Kulturaustausch. Auf diese Epochen des Miteinanders und der kreativen und fruchtbaren Symbiosen geht das Themenheft in Beiträgen von zehn renommierten Wissenschaftlern ein. Gleichzeitig schärft es das Bewusstsein für die Vielgestaltigkeit von Judentum, Christentum und Islam: Die Religionen wie auch ihre heiligen Schriften und die Kulturen, die ihre Anhängerinnen und Anhänger hervorbringen, sind plural und vielfältig – und untrennbar miteinander verbunden. Diese Pluralität und Diversität sind Reichtum und Herausforderung bis heute. WUB 4/2017 untersucht zudem die heiligen Schriften von Juden, Christen und Muslimen auf ihre Aussagen zu Andersgläubigen und stellt gemeinsame Heiligtümer der Religionen im Mittelmeerraum vor.
Inhalt:
Zur Einführung: Interview
„Man kann fragen, ob die drei Religionen so geworden wären, wenn es die beiden jeweils anderen nicht gäbe“
Ein Gespräch mit dem Tübinger Religionswissenschaftler Stefan Schreiner
Anja Middelbeck-Varwick / Rainer Kampling
Anders – aber gläubig
Blicke auf die Andersgläubigen in den heiligen Schriften von Judentum, Christentum und Islam
Mathieu Tillier
Kein Grund, Feinde zu werden
Juden und Christen unter den Umaijaden
Andreas Müller
Vom Gewinn, gemeinsam zu studieren
Syrische Christen unter abbasidischer Herrschaft
Annette Böckler
Die Akademien von Sura und Pumbedita
Blühende jüdische Gelehrsamkeit unter
islamischer Herrschaft
John Tolan
Priester, Muftis und Rabbiner
Das mittelalterliche Spanien
Arie Schippers
Leidenschaft auf Hebräisch
Das goldene Zeitalter der jüdischen Poesie in Spanien
Thomas M. Schimmel
Franziskus und der Sultan
Kreuzzüge: Gespräch am Rande des Schlachtfelds
Michel Balard
Ein Augenblick der Vielfalt
Sizilien unter den Normannen
Jakob Eisler
Miteinander statt gegeneinander
Jerusalem im 19. Jahrhundert
Dionigi Albera
Spirituelle Kraft über religiöse Grenzen hinweg
Gemeinsame Heiligtümer im Mittelmeerraum
«Welt und Umwelt der Bibel» ist hier erhältlich:
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