Joel Berger: Der Mann mit dem Hut

Auf dem Umschlagbild liegt der Hut auf dem Tisch neben dem freundlich blickenden älteren Herrn, den Kopf bedeckt die Kippa. Joel Berger hat häufig jüdische Radioandachten gehalten, einige davon samt Interviews mit ihm und seiner Ehefrau und einem Lebensbild, das Jörg Vins gestaltete sind auf der Hör-CD zu einem eindrucksvollen Dokument vereinigt. Dennoch lohnt sich die Lektüre der gedruckten Autobiografie.

Der orthodoxe frühere württembergische Landesrabbiner erzählt aus seinem Leben; denn erzählen kann er, und es ist eine Lust ihm dabei zuzuhören. Zunächst stellt er seine Familie vor, dabei auch die Tätigkeit seiner Mutter bei der Budapester Mercedes-Filiale. Einzelne frühe Kindheitserlebnisse bilden ein buntes Mosaik; später gewinnt man authentische Einblicke in Einzelschicksale ungarischer Juden; denn er „als Kind war voller Ohren“. Außerdem erfährt man, dass bereits ab 1920 (!) die Zahl der jüdischen Studenten an Universitäten nicht über 5% liegen durfte – vergleichsweise harmlos gegenüber der aktiven Beteiligung der ungarischen Bevölkerung an Judenmorden in den letzten Kriegsjahren. Persönliche Erlebnisse und Erinnerungen unterfüttert Berger mit allgemeinen Sachverhalten: Die Haltung der Leitung der jüdischen Gemeinden Ungarns beim Einmarsch der Deutschen wird kritisiert, andererseits das abwechslungsreiche jüdische Leben in Budapest vorgestellt. Auch wer viel darüber weiß, wird emotional hineingenommen und angesprochen. Sich in den Terror der „Pfeilkreuzler“ hineinzudenken, fällt allerdings schwer, wenn man selbst so etwas noch nicht erlebt hat.

Mit „Fünf Minuten Freiheit“ überschreibt er das Kapitel, in dem den Einmarsch der russischen Truppen und die Machtübernahme durch die kommunistische Partei beschreibt. Das Kapitel über seine Tante Blanka liefert ein amüsantes Gesellschaftsbild der Nachkriegszeit. Die Atmosphäre in der wieder eröffneten jüdischen Schule war für ihn angenehmer als in der öffentlichen; denn in der Gesellschaft verdrängte man sowohl die Ereignisse als auch die antijüdische Einstellung während der jüngsten Vergangenheit. Das Schulwesen wurde ähnlich dem der DDR organisiert; Berger wurde dabei einem früheren katholischen Gymnasium zugewiesen. Die Atmosphäre sozialistischer Staatspädagogik schildert er anschaulich. An der Abiturfeier konnte er sich wegen der Kaschrut nur bedingt beteiligen. Er selbst beschreibt sich als Leseratte und schon im Grundschulalter als eifrigen Fußballer; dieser Liebe ist ein ganzes Kapitel gewidmet, denn hier „konnte man ungehemmt Emotionen ausleben“; sein Lieblingsverein war allerdings von antisemitischen Mittelstandsbürgern geprägt. In der kommunistischen Zeit bot die Anonymität der Zuschauer so manches Ventil für politisch verfängliche Bemerkungen. Sehr anschaulich kommen auch die Schwierigkeiten zur Sprache, die Juden aus der Feindschaft des Ostblocks gegen den Staat Israel erwuchsen. Auch sein Rabbinerstudium und die dabei prägenden Persönlichkeiten beschreibt er ausführlich und erklärt, welche Bedeutung eine Rabbiner-Ordination besitzt. Auch wenn er dafür den Begriff „Weihe“ verwendet, ist diese ihrem Wesen nach etwas anderes als eine katholische Priesterweihe. Die Atmosphäre war allerdings eisig. Dies hatte politische Gründe. Daneben absolvierte er ein Studium für das Lehramt an Gymnasien. Unter der Überschrift „Emmerich Kálmán klaut“ stellt er neben anderem zum Kantorenwesen humorvoll dar, wie manche Kantoren sogar Melodien aus Operetten in ihren synagogalen Vortrag übernahmen. Innere und äußere Schwierigkeiten unter dem nationalsozialistischen und kommunistischen Antisemitismus kommen ebenso zur Sprache wie das Verlangen nach einem Pass als „Tor“ zur Freiheit sowie die Arbeit in einem Verlag nach Verlust der Rabbinerstelle. Dieses Kapitel verdient besondere Aufmerksamkeit, da es umfassende Einblicke in die jüdische Situation im kommunistischen Ungarn, aber auch zum Deutschlandbild bietet. Ein Wiener Freund schmuggelte seine Diplome und sonstigen Unterlagen nach Österreich, ehe er selbst am 3. Juli 1968 nach Stuttgart ausreiste, wo Hermann Wollach sich seiner annahm – im Unterschied zu dem damaligen Stuttgarter Rabbiner. Die Schilderung der ersten 31 Jahre seines Lebens nimmt über die Hälfte des Buches ein.

Weil die Gemeinde in Regensburg einen „Alleskönner“ suchte, nahm er dort auf Vermittlung Wollachs die Rabbinerstelle an. Aus seiner Regensburger Zeit bietet er eine Reihe amüsanter Erlebnisse dar, die für einen aus dem sozialistischen Ungarn Kommenden ungewohnt waren, bemängelt aber auch den Mangel an „mitmenschlicher Solidarität“. Abenteuerlich liest sich die Schilderung des Erwerbs einer dauerhaften Aufenthaltsgenehmigung als Voraussetzung für die Ausreisegenehmigung seiner Eltern. In Dortmund, wo er als Religionslehrer tätig war, gelang dies schließlich. In dieser Zeit lernte er auch seine Frau kennen – dank eines Tscholent. Im Zusammenhang mit der Erzählung der Familiengeschichte seiner Frau treten auch die unterschiedlichen Bedingungen für Juden in den jugoslawischen Regionen Serbien und Kroatien in den Blick, aber auch das Schicksal Auschwitz-Überlebender in Polen.

Von Dortmund kam er nach Düsseldorf, wo er hauptsächlich für den Religionsunterricht in den kleineren Gemeinden in Nordrhein-Westfalen zuständig war. Seine Erinnerungen zeichnen ein lebendiges Bild damaliger jüdischer Gemeinden, aber auch Bemühungen politischer Parteien um Juden. Hier wurde er auch in einen Hungerstreik für die Juden in Russland hineingezogen, was ihm die Gemeindeleitung übel nahm. Was er in Göteborg erlebte, gibt er nicht ohne Humor (er nennt ihn oft „Budapester Pflasterhumor“) unter der Überschrift „Kein Talent zum schwedischen Schweden“ zum besten – bis hin zu Missverständnissen anlässlich des Attentats auf die israelische Olympiamannschaft 1972. Dies und anderes war schließlich der Grund für die Übersiedlung nach Bremen 1973. Hier konnte auch seine Frau ihre Gaben voll entfalten. Er selbst durfte religiöse Sendungen bei Radio Bremen gestalten und die jüdische Gemeinde bei einem Staatsbesuch von Königin Elizabeth II. repräsentieren. Was er bei einer „Promihochzeit“ erlebte, kann der Rezensent aus eigenem Erleben als Pfarrer nachempfinden. Doch kommt auch die findige Hilfsbereitschaft Bremer Bürger gegenüber Häftlingen eines Außenlagers von Bergen-Belsen zu Ehren. Zum Abschluss dieser Epoche hebt er besondere Bremer Persönlichkeiten hervor, allen voran Hans Koschnick. Es ist wichtig, dass auch die Verdienste solcher Leute gewürdigt werden. Dass er auch vom Papstbesuch in Mainz 1980 Humorvolles zu berichten weiß, versteht sich von selbst.

Überrascht liest man die Überschrift des Kapitels, in dem er von seinem Wechsel nach Stuttgart erzählt: „Vom warmen Norden in den kühlen Süden“. Es ist kein Druckfehler, sondern bezieht sich auf den Empfang in Stuttgart und die patriarchale Leitungsstruktur der damaligen Gemeinde. Dabei zeigt sich, dass Bergers Humor auch spitz und entlarvend sein konnte. Die etwa 600 Mitglieder seiner Gemeinde waren aber über ganz Württemberg verstreut! Hinzu kam, was man sich oft nicht bewusst macht, der Unterschied zwischen polnisch-chassidischen Juden und askenasischen aus Ländern wie Ungarn. Aber der gegenseitige Respekt verschaffte ihm den Zugang zu seiner meist aus  polnischen Juden bestehenden Gemeinde mit einer besonderen soziologischen Struktur. Kopfschüttelnd und beschämt liest man, dass man sich damals in Deutschland noch nicht daran gewöhnt hatte, dass es wieder jüdische Gemeinden gab. Ebenso schwierig war es, Rabbiner für die Arbeit in Deutschland zu gewinnen. Über die Integration russischer Einwanderer am Ende der Achtzigerjahre informiert er ebenso wie über die Einladung ehemaliger Stuttgarter Juden. Fruchtbare Beziehungen pflegte sowohl er als auch seine Frau zu vielen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens – bis hin zum Herzog von Württemberg. Dabei spielte die WIZO eine bedeutende Rolle. Sogar in die Machtverhältnisse des Rundfunkrats (er spricht von „Gremienkungeleien“) gewinnt man Einblick. Dass er dabei auch Gedanken zu Begegnungen von Christen, Juden und Muslimen äußert, ist besonders erhellend. Ein Kapitel ist der Rabbinerkonferenz und dem Zentralrat gewidmet. Wie er zu einem Lehrauftrag am kulturwissenschaftlichen Ludwig-Uhland-Institut kam, und was er dort lehrte, füllt ein weiteres Kapitel. Erinnerungen, die bei einem Besuch in Budapest anlässlich eines Klassentreffens hochkamen, münden in ein Bekenntnis zu zwei Staaten, die aus „der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs als freie, demokratische Länder hervorgegangen“ sind: Deutschland und Israel.

Eine Seite Dankadressen und ein Glossar beschließen dieses aufschlussreiche Buch.

Joel Berger:

Der Mann mit dem Hut. Geschichten meines Lebens.

Aufgezeichnet von Heidi-Barbara Kloos.

gebunden, mit CD, Verlag Klöpfer & Meyer, Tübingen 2013,

384 S., Euro 25,-

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