Jesus Christus und sein Judesein

Die Luzerner Dissertation zielt darauf ab, einer „antisemitismusfreie[n]“ (S. 18), respektive „antsemitismussensible[ n] Christologie“ (S. 296 und öfter) zuzuarbeiten, näherhin darauf, „innerhalb jeder Christologie […] keinen Raum für antijüdische Leerstellen zu lassen“ (S. 311).

Dazu soll entscheidend beitragen, die jüdische Jesusforschung, insbesondere die des 20. Jahrhunderts, christlich-theologisch zu rezipieren und als „Lernort“ (S. 308) zu erschließen.

„Das Judesein Jesu vom historischen Standpunkt aus und im Dialog mit dem Judentum theologisch aufzunehmen sowie es bleibend für den auferstandenen Christus geltend zu machen“ (S. 18), versteht der Autor in diesem Zusammenhang als „dialogische Christologie“.

Damit steht das Postulat im Raum, Jesu Judesein eben nicht auf den historischen Jesus zu beschränken. Diese Wahrnehmung war – aus heutiger Sicht – groteskerweise zwar oft nicht selbstverständlich; sie war und ist auch zugleich theologisch wohlfeil, sofern das Judesein als irrelevantes kontingentes Moment abgetan wurde und potenziell immer noch abgetan werden kann. Dagegen zielt Steiner darauf ab, die jüdische Identität auch für den Christus, den Auferweckten und zur Rechten Gottes Erhöhten, als bedeutsam zu reklamieren und in die Zweinaturenlehre des Konzils von Chalkedon einzutragen – also auch und nicht zuletzt für die „göttliche Natur“ als bedeutsam zu reklamieren.

Um es vorweg zu nehmen: Dieses Postulat, das gewiss nur ansatzweise erfüllt wird, scheint mir das Spannende und in dieser Explizitheit der Artikulierung Neue dieser Studie zu sein.

Nach einigen Vorbemerkungen skizziert Steiner in einer „Hinführung“ (S. 27-61)

  • „[a]ntijüdische Denkfiguren“ wie die paulinische Geist- Fleisch-Dichotomie, die Substitutionstheologie und judenmissionarische Tendenzen in Luthers „Judenschriften“ inklusive ihres – nach Wengst „exklusiv christologischen Verständnis[ses] des Alten Testaments“ (S. 37)[1]; Luthers rabiate Gewaltaufrufe gegen Juden werden nicht übersehen. (Dabei dürfte es eine eigene Studie verdienen, die Theologie-Praxis-Interdependenzen auszuleuchten.)
  • die Methoden traditionaler Allegorie und Typologie wie der ihnen methodisch entgegenstehende Literalsinn in seiner fundamentalistischen Wörtlichkeitsfixierung: Beide empfehlen sich, geradezu methodisch Antijudaismus zu befördern;
  • diverse Versuche, Jesus zu ‚entjudaisieren‘ bis hin zu seiner ‚Arisierung‘;
  • die bis heute währende Wirkungsgeschichte des Gottesmordvorwurfs: ein christliches Unwort, das immer noch für Antisemiten der Gegenwart abrufbar bereitliegt und auch aktualisiert wird.

Unklar bleiben in diesem Zusammenhang allerdings die Kriterien dieser Auswahl. Angesichts der Weiträumigkeit der angesprochenen Traditionen versteht es sich, dass ihre Darstellung skizzenhaft bleiben muss. Ergänzen möchte ich aber, dass Missions- respektive Substitutionstheologien keineswegs (nur) ein lutherisches Spezifikum darstellen, sondern die gesamte christliche Welt durchziehen, zum Teil bis heute. Dezidierte Missionsabsagen stellen auch heute noch – leider! – die Ausnahme dar.

In einem folgenden ersten von drei (recht ungleich umfangreichen) Teilen wird die Seelisberger Konferenz von 1947 vorgestellt und in ihrer Bedeutung als erste von dem jüdischen Überlebenden der Shoah, Jules Isaac, wesentlich inspirierte Neuorientierung christlicher Theologie gewürdigt. Ihre wirkungsmächtigen 10 Thesen dienen dem Autor gleichsam als mitziehender Horizont, als roter Faden durch die eigene Studie.

Diesem Teil schließt sich der zweite und bei weitem umfangreichste an (147 S.), in dem die jüdische Jesusforschung in Folge von jüdischer Aufklärung und Emanzipation, insbesondere aber die des 20. Jahrhunderts dargestellt wird. Dies geschieht, indem zentrale einschlägige Werke – „Klassiker jüdischer Jesusforschung“ (S. 128) – von Joseph Klausner (Jesus von Nazareth, 1922), Schalom Ben Chorin (Bruder Jesus, 1967) und David Flusser (Jesus, 1968) hinsichtlich der Methode, Hermeneutik, Motive und Erträge analysiert werden.

Ein wesentlicher Ertrag dieser Jesusforschung ist, dass Jesus „als Teil der eigenen jüdischen Religionsgeschichte“ (S. 243) erkannt, ja reklamiert wurde und wird; christlicherseits interessierte man sich allerdings erst nach der Shoah – in Ausschnitten der Theologie und Kirche – dafür. Dabei hält diese Forschung Spannendes und Inspirierendes bereit, etwa wenn David Flusser Kategorien und Topoi einer durchaus ‚Hohen Christologie‘ wie Gottesssohnschaft, Sühnetod und Erhöhung im Judentum schon vorchristlich vorliegen sieht.

Im dritten, im engeren Sinn systematischen Teil der Studie fragt Steiner, wie sich Erträge der jüdischen Jesusforschung mit der klassischen Christologie, maßgeblich formuliert von Nicäa bis Chalkedon, verbinden lassen. Er lotet Chancen und Grenzen aus, skizziert solche Versuche etwa bei Marquardt, Dirscherl, Wohlmuth und am ausführlichsten bei Schwöbel wie in katholischen Lehrdokumenten. Argumentativ hilfreich ist ihm dabei der orthodox-jüdische Gelehrte Daniel Boyarin, der Flusser insofern fortsetzt, als er selbst ein Gott-Sein Jesu als jüdische Denkmöglichkeit aufweist, von christlicher Seite Joseph Wohlmuth, der in der Aussage eines wesenhaften Menschseins Jesu, getrennt und unvermischt mit seiner göttlichen Natur, Ansätze dafür sieht, das vere homo als vere iudaeus auszuformulieren – eine Möglichkeit, die Boyarin allerdings klar verneint, da mit Nicäa jüdische Denkformen von einem paganen Christentum verabschiedet worden seien.

Eine dialogische Christologie sieht in der offenen Wahrnehmung jüdischer Jesusforschung, die sie reklamiert, „eine Hermeneutik für diese zusätzliche Lesart des Juden Jesus Christus im Neuen Testament“; eine Unterstützung, die „gewinnbringende[n] Austausch“ (S. 311) verheißt. Strikter formuliert sieht Steiner in einer solchen auf Jüdisches rekurrierenden Christologie allerdings

„ein kritisches Prinzip, das innerhalb jeder Christologie angewendet werden muss, um keinen Raum für antijüdische Leerstellen zu lassen“ (S. 311; Hervorhebung PP).

Denn eine Würdigung von Jesu Judesein müsse „zu einer bleibenden Anerkennung des Judentums führen“ wie die „seiner bleibenden Dignität“. Der Grund dafür wird in der kirchlichen Aussage vom „ungekündigten Bund Gottes“ ausgemacht (S. 312) – angesichts der Tragweite der Aussage einer allgemeintheologisch notwendigen Anerkennung der dignitas iudaea etwas unvermittelt-thesenhaft formuliert.

Diese Studie beeindruckt nicht nur durch ihre breite Literaturbasis; auch die Schächte, die sie vorantreibt, das Judesein Jesu im dogmatischen Zentrum zur Wirkung zu bringen, verweist auf das, was ansteht. Eine etwas andere Proportionierung der Teile wie vielleicht eine Begrenzung von Autoren hätte womöglich erlaubt, diese Schächte noch weiter voran zu treiben. Dann wäre womöglich auch eine im syrischen Raum neben und nach Chalkedon etwa von Aphrahat artikulierte Christologie in den Blick getreten, die bereits realisiert hat, was Flusser wie Boyarin vorstellen lassen: eine hohe Christologie aus rein biblisch-jüdischen Denkformen zu formulieren. Dass die soteriologische Dimension der Inkarnation nicht eigens ausgearbeitet wurde, ist im Rahmen einer Dissertation, die jüdische Jesusforschung ins Zentrum setzt, nur verständlich. Gleichwohl ist gerade die Frage nach der Erlösung vom Unheil von einer dialogischen Christologie aus umso deutlicher als Herausforderung erkennbar: Wie kann angesichts der heilbringenden Menschwerdung im Juden Jesus von Erlösung in einer offensichtlich unerlösten Welt gesprochen werden – eine jüdische Frage, die seit frühester Zeit auf ihre christliche Antwort wartet.

Das Dialogpostulat, das Steiner formuliert, kann christlichtheologisch, wie er annimmt, „Unbehagen“ (S. 280) hervorrufen, und doch ist seine Realisierung – darin ist ihm m.E. vorbehaltlos zuzustimmen – notwendig, wenn Theologie und Kirche eine Zukunft haben sollen. (S. 313)

Martin Steiner:
Jesus Christus und sein Judesein. Antijudaismus, jüdische Jesusforschung und eine dialogische Christologie.

Stuttgart: Kohlhammer 2025
(Judentum und Christentum 31)
347 S.; 29,- €

[1] Klaus Wengst, Christsein mit Tora und Evangelium. Beiträge zum Umbau christlicher Theologie im Angesicht Israels, Stuttgart 2014, S. 46.

Editorische Anmerkungen

Dr. Paul Petzel arbeitet als freiberuflicher Theologe und engagiert sich seit vielen Jahren als Mitglied des Gesprächskreises Juden und Christen‘ beim ZdK.

Quelle: theologie.geschichte, Bd. 20, Nr. 1, (2025). Creative Commons Namensnennung Lizenz 3.0.

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