Heinz Kremers – Vom Judentum lernen

Im Vorwort, eingeleitet durch eine Fotografie von Heinz Kremers im Gespräch mit den jüdischen Gelehrten Schmuel Safrai und David Flusser, heben die Herausgeber die Verdienste Heinz Kremers in der Begegnung von Christen und Juden hervor.

So etwa in der Religionspädagogik, vor allem aber des für die gesamte evangelische Theologie wegweisenden Synodalbeschlusses der Evangelischen Kirche im Rheinland von 1980. Sie führen sodann kurz in ihre eigenen Beiträge dieses Sammelbandes ein, vor allem aber in den zweiten Hauptteil mit bisher meist unveröffentlichten Aufsätzen aus der Feder von Heinz Kremers. Ein Register der verwendeten Bibelstellen sowie aus dem nachbiblischen und rabbinischen Judentum und ein umfang¬reiches Namensregister beschließen das Werk.

Im einleitenden Aufsatz zeichnet der Sohn die wichtigsten Daten, Stationen und Wendepunkte im Leben von Heinz Kremers nach. Wer ihn als engagierten Pionier des christlich-jüdischen Gesprächs kennengelernt hat, ist erstaunt, darin einen Untertitel zu finden: „Eine Jugend zwischen EC und Hakenkreuz.“ Bedenkt man jedoch seinen Geburtsjahrgang 1926, wird damit die Tragik dieser Generation deutlich. Das niederrheinisch-pietistisch geprägte Elternhaus hielt an der Erwählung Israels ebenso wie an der Judenmission fest, in der Schule wehte der antisemitische Geist des Nationalsozialismus. Das Elternhaus war jedoch stärker und bewahrte ihn schließlich sogar davor, sich „von der SS anwerben zu lassen“. Die Spannung löste sich erst mit dem Ende des Krieges. Im Theologiestudium legte er unter dem Eindruck der Professoren Gerhard von Rad und Hans-Joachim Kraus seinen Schwerpunkt auf das Studium des Alten Testaments, worüber er auch promovierte. An vielen Beispielen aus autobiografischen Passagen seiner Aufsätze sowie einem WDR-Interview wird sowohl sein Weg zu seinem Engagement auch für den Staat Israel deutlich, als auch seine Einsicht, es sei „völlig unsachlich dem lebendigen Judentum gegenüber, dass die Kirche immer noch … den Anspruch erhebt, wir müssen das jüdische Volk durch Mission zum christlichen Heil führen, weil das jüdische Volk von Gott verworfen sei“. Mit dieser Einsicht wurde er zu einem Bahnbrecher der Neubesinnung des Verhältnisses der Kirche zu Juden und Judentum. Dass ihn der Deutsche Koordinierungsrat zum eigenen Erstaunen für dieses Engagement später mit der Buber-Rosenzweig-Medaille auszeichnete, war nur folgerichtig. Nicht unerwähnt bleiben darf bei seiner konsequenten Neuorientierung Rabbiner Robert Raphael Geis.

Dass in von ihm herausgegebenen Büchern für den Religionsunterricht ein neues, „realistisches Bild von der Geschichte und Religion des Judentums“ gezeichnet wurde, versteht sich von selbst. Naheliegend war auch seine Affinität zum religiösen Sozialismus und zur israelischen Kibbuzbewegung, aus der schließlich auch sein Engagement für Nes Ammim, der christlichen Siedlung in Nordisrael als „Zeichen der Völker“ hervorging. Sein theologischer Eifer galt der Überwindung der traditionellen antijüdischen Theologie, der schließlich in die Synodalerklärung der Rheinischen Kirche mündete und im Lernen „von und mit Juden“ seinen Ausdruck fand. Diesen Impulsen verdankt auch der Rezensent entscheidende Anstöße seines theologischen Wirkens.

Ein jüngerer Weggenosse, Bertold Klappert, unternimmt es, seinen Beitrag zu einer nicht antijüdischen Christologie darzustellen, es geht „um verschiedene Wege der Annäherung an das Geheimnis des Werkes und der Person Jesu.“ Denn das Neue Testament erweist sich gerade dadurch als „typisch jüdisches Buch […], dass es Gottes Offenbarung […] durch Jesus Christus nicht in ein System preßt“, eine wichtige Einsicht, die sich in der Theologie leider nur sehr schwer durchsetzen kann. Klappert spricht von einer „Christologie im Lernprozess“: „im Lernen von Juden“. Ob dies jedoch nur möglich ist, indem man mit Flusser den Kreuzestod Jesu als „Krönung seiner Lehre“ versteht, ist eine andere Frage.

Von besonderer Bedeutung ist die Sicht Jesu als „messianischer Prophet“, der keine Gemeinde gegründet, sondern Schüler ausgesandt hat, damit sie die „Botschaft von der Gottesherrschaft weitersagen […]. Er sendet sie aus zu seinem Volk Israel; das Volk [Israel] ist die Gemeinde Jesu.“ Vieles, was Kremers in Aufsätzen formulierte, ist heute im christlich-jüdischen Gespräch allgemein rezipiert. Dass Kremers dabei viele Anstöße jüdischer Freunde und Gesprächspartner aufnimmt, wird an zahlreichen Bei¬spielen deutlich. Dazu gehört auch die Charakterisierung Jesu als „chassidischer Liebespharisäer“. Dass die Antithesen der Bergpredigt keine Abgrenzung gegenüber der Mose-Tora, sondern gegenüber anderen pharisäischen Auslegungen darstellen, kann man auch etwas anders sehen, nämlich als typisch rabbinische Art, ständig neue Bedeutungsvarianten zu entdecken und bisherigen hinzuzufügen; aber dazu bedurfte es zu¬nächst der Anstöße von Heinz Kremers und anderen. Ob eine antijüdische Interpretation des Todes Jesu bereits überwunden ist, wenn statt der Pharisäer die Hohenpriester und Sadduzäer verantwortlich gemacht werden, muss durch genauere Textanalysen geklärt werden. Wichtig ist allerdings der Hinweis, dass nach jüdischen Vorstellungen die Zeit des Messias begrenzt ist, der eine Zeit folgt, in der Gott „alles in allem“ ist, wie es auch Paulus in 1.Kor 15 formuliert.

In diesem Band ist u.a. ein Vortrag von Heinz Kremers abgedruckt, „Was hat der Talmud uns Christen zu sagen?“, auf dessen „Kontext“ G.K. Hasselhoff verweist. Daraus ist besonders der Abschnitt „Christliche Wahrnehmung des Talmud“ hervorzuheben. Er wurde in der Christenheit erst im 13. Jh. durch einen konvertierten Juden bekannt. Sog. „Religionsgespräche“ sollten seinen „blasphemischen und antichristlichen Charakter“ erweisen und führten zu Talmudverbrennungen. Beachtung fand der Talmud vor allem bei christlichen Kabbalisten. Reuchlin setzte sich für seine Erhaltung ein. Im Zuge der philosophischen Aufklärung innerhalb des Judentums kam es dann zu ersten Übersetzungen ins Deutsche und schließlich wachsendem Interesse seitens christlicher Theologen. In diesem Kontext ist der Vortrag von Heinz Kremers zu sehen.

Er leitet ihn mit zwei ausführlichen, abfälligen Zitaten mittelalterlicher Päpste über den Talmud ein, wobei das zweite sogar ein ausdrückliches Verbot enthält und die Konfiszierung anordnet. Doch hatte schon Kaiser Justinian den Talmud verboten; während der Kreuzzüge wurde er als gefährliches Schrifttum verbrannt. Luthers gehässige Äußerungen werden ebensowenig verschwiegen wie Billerbecks Absicht, in seinem großen Sammelwerk, die jüdische Tradition „als dunkle Folie“ des Evangeliums erscheinen zu lassen. Demgegenüber betont Kremers – für die damalige Zeit neu: „Er ist nicht Dokument einer erstarrten Gesetzesreligion […] Er will vielmehr das jüdische Volk herausfordern, stets neu zu fragen: Was ist Gottes Wille heute?“ Diese Sicht des Talmud verrät Kremers‘ Herkunft aus dem Pietismus. Diskussionen der Siebzigerjahre finden ihren Niederschlag, wenn er formuliert: „Der Talmud will uns helfen zu einer Situations¬ethik im Horizont der Geschichte […] herauszukommen aus dem falschen Entweder-Oder von Traditionalismus und geschichtsloser revolutionärer religiöser Ethik“. Dieser neue Blick auf die jüdische Tradition war trotz mancher begeisterter Fehlinterpretation, auf die G. Hasselhoff in Fußnoten hinweist, bahnbrechend. Seine Begeisterung ist seinen Worten auf Schritt und Tritt zu entnehmen, fast könnte man sagen: er predigt. Wer ihn kannte, sieht ihn beim Lesen lebendig vor sich. Auf diesem Hintergrund und in diesem Sinn geht er gegen traditionelle Missverständnisse des Talmud an, beispielsweise bei der pharisäischen Erklärung des altbiblischen Talionsrechtes – und überträgt dies auf die heutige israelische Rechtspraxis. Als Religionspädagoge verweist er selbstver¬ständlich auch darauf, „dass im ersten Jahrhundert vor Christus Schimon ben Schetach im jüdischen Volk die allgemeine Schulpflicht einführt. In Preußen im 19. Jahrhundert.“ Diese Hinweise müssen zur Charakterisierung dieses erstmals veröffentlichten Vortrags genügen. Wer ihn zu Ende liest, wird noch viele weitere wertvolle Anregungen entdecken.

In dem Aufsatz „Jesus als Messias“ verweist er nicht nur auf die unterschiedlichen jüdischen Messiasvorstellungen zur Zeit Jesu (bis hin zu zelotischen Hoffnungen), sondern auch darauf, dass das neutestamentliche Messiasbekenntnis mit der Auferstehungsbotschaft zusammenhängt. In einer Predigt über Mk 8,27-34, die man allerdings eher als Lehrvortrag bezeichnen müsste, sagt er jedoch: „Als Verkündiger und Bringer der Heilszeit ist Jesus der Messias“. Kremers warnt auch vor einem Messianismus, der zur Ideologie wird: vor „Messianitis“. Zu einem Vortrag über Röm 9,1-5 bemerkt der Herausgeber, „der Sprachduktus lässt vermuten, dass es sich um eine Predigt oder eine Bibelarbeit handelt.“ Dies kennzeichnet auch andere Beiträge. Hier gibt Kremers allerdings auch einen Einblick in seine eigene Entwicklung. In einer Predigtmeditation über 2.Kön 25,8 ff., den klassischen Text zum 10. S. n. Trin., klingen einerseits Erkenntnisse aus seiner Dissertation an, andererseits die traditionelle kirchliche Unterscheidung zwischen dem alttestamentlichen Israel und dem heutigen Judentum, ein nachden¬kenswerter Appell zur Selbstprüfung! Dass der Aufsatz „Juden und Christen sind Zeugen Gottes voreinander“, traditionellem christlichen Selbstverständnis widerspricht und daher heftigen Widerspruch hervorgerufen hat, ist leicht verständlich. Allerdings ist nur so eine neue Begegnung von Christen und Juden echt und ehrlich, auch wenn man heute damalige Formulierungen teilweise anders fassen würde.

Eine sehr grundsätzliche Frage spricht er in dem kurz vor seinem Tod gehaltenen Vortrag an, „Die Bedeutung von Land und Staat Israel für die Christenheit“. Er geht darin auf Formulierungen der Rheinischen Synode von 1980 und auf die Bonner Stellungnahme von 13 Theologieprofessoren ein, und zwar bezüglich der ökumenischen Dis¬kussion, vor allem einer niederländischen Studie. Seine eigene Position stellt er in der Rahmen kirchlicher Äußerungen seit dem 4. Jh., die feststellen, die Rück¬kehr Israels in das von Gott verheißene Land sei unerfüllbar. Seine eigene Position geht von der Voraussetzung aus, zum Judesein gehöre „wesenhaft die Beziehung zum verheißenen Land“. Insofern führen all seine theologisch richtigen Aussagen, etwa dass die Kirche mit dem jüdischen Volk zwar verbunden, aber nicht integriert sei, auf diesen Punkt als eine der drei von ihm benannten Säulen zu. Diese Frage muss in den Kirchen frei von allen politischen Konstellationen theologisch reflektiert werden. Die Reihe seiner eigenen Beiträge endet mit einem Nes-Ammim-Vortrag über eine „Christologie, die das Tischtuch nicht zerschneidet“, wie eine Zwischenüberschrift lautet. An diese Frage will er mit „heißem Herzen und kühlem Kopf“ herangehen. Er ruft dabei ins Bewusstsein, was eigentlich selbstverständlich sein müsste. Das Neues Testament ist ein Geschichtsbuch, kein Lehrbuch, es ist lediglich der zweite Teil unserer Bibel und es enthält eine Vielfalt von Christologien. Diese seien „auf Zukunft hin offen“, klingt etwas apologetisch und poetisch. Vielleicht würde genügen: sie sind Versuche, die Bedeutung Jesu begrifflich zu fassen. Mit David Flusser sieht Kremers als eine der verhängnisvollsten Entwicklungen der Christenheit, „dass die Christen sich nicht mehr – wie am Anfang – als Mitakteure des Messias Jesus“ verstehen; sie „haben die Bühne verlassen, lassen Jesus ein Ein-Mann-Stück spielen, setzen sich ins Parkett, glauben an ihn, beten ihn an, aber schauen ihm nur noch zu.“  Ob Flusser damit alle Facetten des Christentums richtig erfasst, sei dahingestellt.

Fünf Aufsätze von Klaus Müller, Simon Schoon, Katja Kriener, Volker Haarmann und Rainer Stuhlmann zur „Weiterführung des Werkes von Heinz Kremers“ beenden den Band und führen die Diskussion im Blick auf gegenwärtige Fragestellungen weiter.

Nicht nur Freunden des christlich-jüdischen Dialogs, sondern allen an ehrlicher theologischer Arbeit Interessierten kann dieses Buch nur wärmstens empfohlen werden.

Thomas Kremers/Görge K. Hasselhoff/ Bertold Klappert (Hg.):

Heinz Kremers – Vom Judentum lernen.

Impulse für eine Christologie im jüdischen Kontext.

Neukirchener Verlagsgesellschaft

Neukirchen-Vlyn 2015

208 S., brosch.

Euro 30,-

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