Halle ist überall - Stimme jüdischer Frauen

Ein Jahr nach dem Anschlag von Halle ist im Berliner Lichtig Verlag ein Buch erschienen, das an diese brutale antisemitische Entgleisung erinnert.

Ein Jahr nach dem Anschlag von Halle ist im Berliner Lichtig Verlag ein Buch erschienen, das an diese brutale antisemitische Entgleisung erinnert. Der Titel des Buches „Halle ist überall“ suggeriert, dass in jeder deutschen Stadt oder vielleicht sogar weltweit Anschläge, wie am 9.Oktober 2019 in Halle, geschehen können. Und es ist in der Tat leider so, dass überall, in Deutschland oder anderswo, zu Fremden erklärte Juden oder Migranten zu Opfern von Attentaten werden können. Seit vielen Jahren grassiert eine Welle der white supremacy, deren Blutspur sich über die westliche Welt zieht. Die Attentäter sind weiße, meist junge Männer, die darauf bedacht sind, „ihr Volk“ rein und weiß zu halten, es deshalb von „Fremdvölkischen“ zu reinigen. Und das geht am besten, indem man möglichst viele der als „Invasoren“ betrachteten Migranten terrorisiert, einschüchtert, ermordet, sie in Panikversetzt und schließlich aus dem Land jagd. Und als Fremde gelten den Hütern der „rassischen Reinheit“ „ihres Volkes“ immer auch die Juden.

Nach einer kenntnisreichen Darlegung der Situation und Geschichte der Juden in West-, Ost-und Gesamtdeutschland durch die Herausgeberin des Buches und Verlegerin Nea Weissberg, äußern in dem Buch zwanzig jüdische Frauen ihre Gefühle und Gedanken, die das Attentat von Halle bei ihnen ausgelöst hat. Dazu passend ist der Untertitel des Buches gewählt: „Stimmen jüdischer Frauen“. Das Attentat ist missglückt. Der Attentäter beabsichtigte, alle in der Synagoge am Jom Kippur Betenden, Gemeindemitglieder sowie Gäste aus Berlin und aus den USA, 51 Menschen, zu töten. Sie haben überlebt, aber nur deshalb, weil die massive hölzerne Eingangstür der Synagoge den Schüssen des Attentäters standgehalten hat. Das war ein Wunder, vergleichbar mit dem Wunder von Chanukka, als das Lampen-Öl im Tempel von Jerusalem bei seiner Wiedereinweihung im Jahr 164 vor Christus statt für einen Tag für ganze acht Tage gereicht hatte. Frustriert suchte sich der Attentäter zwei Zufallsopfer, die er kaltblütig erschoss.

Die an diesem Abend in der Synagoge von Halle anwesende, aus Russland stammende Luba Meyer berichtet von der Todesangst der betenden Menschen sowie von deren Dank für ihre wundersame Rettung, den sie an den Schöpfer richteten. Mit „Am Israel Chai“ - „Das Volk Israel lebt“ beendeten sie das Jom-Kippur Gebet. Der Versuch, die am Jom Kippur betenden Juden zu ermorden, hat die jüdische Gemeinschaft in Deutschland tief erschüttert. Diese Erschütterung ist aus Beiträgen allerzwanzig Frauen herauszulesen. Es sind jüdische Frauen aus zwei Nachkriegsgenerationen, aus alten und neuen Bundesländern, gebildete Frauen, darunter Künstlerinnen, Musikerinnen, Wissenschaftlerinnen, einige im Beruf täglich mit der Problematik des Antisemitismus und der historischen Erinnerung konfrontiert. Zwanzig Frauen sind keine statistisch relevante Gruppe. Und doch kann man die Haltung der Frauen, die sich in dem Buch jeweils mit einem kurzen Lebenslauf vorstellen, bevor sie sich zum Attentat in Halle äußern, als durchaus repräsentativ betrachten, um die Stimmung unter den Juden in Deutschland einzufangen. Die Stimmen jüdischer Männer würden vermutlich nicht vielanders ausfallen.

Nur wenige der Frauen wurden in Deutschland geboren und haben eine durchweg deutsche Biografie. Manche von ihnen stammen aus einem Land, in dem ihre Eltern Schutz vor der Nazi-Verfolgung gefunden hatten, aus Israel, Südamerika oder Kanada, manche sind Kinder oder Enkel von polnischen Juden, die vor Pogromen in Nachkriegspolen in amerikanische DP-Lager auf dem Territorium Deutschlands geflohen waren, manche kamen aus Polen und andere sind in den neunziger Jahren aus der Sowjetunion nach Deutschland gekommen. Die zwanzig Frauen entstammen deutsch-jüdischen, polnisch-jüdischen, russisch-jüdischen oderukrainisch-jüdischen Familien, doch fast alle betrachten Deutschland als ihre Heimat und keine von ihnen denkt ernsthaft daran, das Land zu verlassen, obwohl manche von ihnen unschlüssig sind, ob sie sich als deutsche Juden oder als Juden in Deutschland betrachten sollen. Denn nicht so sehr deren religiöser Hintergrund, vielmehr deren durch das Leid ihrer Familien in der Schoah geprägte Erinnerung an in die Zeit des Nationalsozialismusunterscheidet ihr Denken und Fühlen wesentlich von dem der deutschen Mehrheitsgesellschaft.

Zudem sind die außerhalb Deutschlands geborenen Jüdinnen meist zusätzlich durch das Land ihrer Geburt geprägt worden. Die beiden in München geborenen Nichten der Herausgeberin des Buches Nelly Idith Alfandari und Julia Yael Alfandari sind aoßerdem durch die türkische Abstammung ihres sephardisch-jüdischen Vaters stark beeinflusst worden.

Durch den Anschlag von Halle, aber auch durch die anderen Anschläge der Rechtsradikalen, durch die Pegida-Aufmärsche, den Aufstieg der AfD und die antisemitische, israelfeindliche Hetze seitens muslimischer Einwanderer und mancher Linken sind die Frauen starkverunsichert. Manche, besonders diejenigen aus der ehemaligen Sowjetunion, fragen sich, ob ihr Leben in Deutschland eine Zukunft hat. So äußert die in der Ukraine geborene Mira Bondar-Roseblatt: „in der Ukraine hatte ich Angst um meine Kinder, in Deutschland habe ich Angst um meine Enkel.“ Dagegen lässt sich die in Kanada geborene Annie Karolinski-Dong durch das Attentat von Halle, so furchterregend es auch gewesen ist, nicht verunsichern. „Ich habe keine Angst, soll ich?“, fragt sie trotzig. Und sie empfiehlt den Juden, sich nicht zu verstellen, sondern selbstbewusst aufzutreten. Ebenso reagiert die in Berlin geborene Maya Zehden. „Wir sollen uns nicht sicher fühlen“, sagt sie, „weil wir immer ausgewählt werden aus der Masse möglicher Opfer. (...) Aber ich werde mir mein Leben nicht von Ängsten zerstören lassen“. Und die in Dresden geborene Claudia Münz fordert die Juden auf: „Mutig sein, stark bleiben. Nicht klein und unsichtbar machen, um unserer selbst willen.“ Ähnlich äußert sich die in München geborene Eva Diamantstein: „Ich gebe Rassisten, Antisemiten, Pegidas, AfD-Brandstiftern, usw. keine Macht über mich. Sie können mich zornig machen. Doch dass sie mir Angst machen, lasse ich nicht zu.“ Und die in Costa Rica geborene Alexandra Jacobson äußert trotzig: „Ich bin Deutsch, wenn nicht, hat Hitler gesiegt“. Dagegen fragt die in Israel geborene Daphna Rosenthal: „Sollte ich ernsthaft an Auswanderung denken?“ Das geht ihr durch den Kopf, denn sie weiß aus Erzählungen in der Familie, dass ihr Großvater in Auschwitz ermordet wurde, weil er es nicht geschafft hatte, beizeiten Deutschland zu verlassen.

Es scheint, als hätte ein intensiver Kontakt mit Israel die Frauen meist innerlich gestärkt und couragiert, in der nichtjüdischen Umgebung selbstbewusst als Jüdinnen aufzutreten. Das entspricht ganz den Ideen des Vaters des modernen Zionismus Theodor Herzl, der in seinem Hauptwerk „Der Judenstaat“ als einen Nebeneffekt der Entstehung der jüdischen Heimat Israel ein Erstarken des Selbstbewusstseins der Juden in der Diaspora prognostizierte. Doch über das langfristige Schicksal der Juden in Diaspora äußerte sich Herzl pessimistisch: Die Judenfrage besteht überall, wo Juden in merklicher Anzahl leben. Wo sie nicht ist, da wird sie durch hinwandernde Juden ein geschleppt. Herzls prophetische Worte haben sich einige Jahrzehnte später in Nazi-Deutschlandbewahrheitet. Und so muss man, nicht nur als Jude, die Frage stellen, ob dieser Teufelskreisheute endlich durchbrochen ist. Denn den Antisemitismus zu beseitigen scheint in der Gegenwart kaum möglich zu sein. Er entsteht in stets neuen Ausprägungen, heute als israelbezogener Antisemitismus der Linken und Islamisten oder als Schuldzuweisung an die Juden und Israel wegen der Corona-Pandemie.


Auch dazu äußern sich einige der Frauen, besonders Rebekka Nieten und Alexandra Jacobson. Die aus Dresden stammende Renate Aris beklagt, dass der verbal geäußerte Antisemitismus in der Bundesrepublik zwar formalgeächtet, aber durch die Meinungsfreiheit geschützt werde. Und von einigen der Frauen, so auch von der Ostberlinerin Eva Nickel, deren jüdische Mutter in einem Versteck in Deutschland die Nazizeit überlebt hat, und von der Westberlinerin Rebekka Nieten, wird ein Unverständnis dafür geäußert, dass die vom Iran organisierte Al-Quds Demonstration in Berlin jährlich stattfinden darf, obwohl bei ihr Losungen wie „Kindermörder Israel“ oder „Hamas, Juden ins Gas“ gerufen werden. Und Rachel Alfandari, die in West-Berlin geborene Zwillingsschwester der Herausgeberin des Buches Nea Weissberg, bescheinigt der Bundesrepublik Deutschland eine verfehlte Vergangenheitsbewältigung, als deren Folge die Juden dafür für schuldig erklärt werden, „dass sich die Deutschen immer noch schuldigfühlen müssen“, was statt den Antisemitismus einzudämmen, ihn eher noch verstärke. Auch die in Wien geborene Romina Wiegemann äußert Zweifel an der Wirkung der deutschen Erinnerungskultur. Sie stellt allerdings auch die These vom „importierten Antisemitismus“ der Muslime und vom Antisemitismus der Linken in Frage, weil sie den Antisemitismus als ein ausschließlich rechtes Phänomen betrachtet. Und Rachel Alfandari meint, die Entnazifizierung sei in Deutschland nicht nachhaltig genug gewesen wovon wir heute leider die Folgen wahrnehmen. So beklagt die in Israel geborene Daphna Rosenthal, dass antisemitische Äußerungen in letzten Jahren salonfähig geworden und überall zu hören seien. Die in Polen geborene Jutta Prajs ergänzt, in den Medien dominiere eine einseitige Berichterstattung mit antijüdischen Untertönen und Klischees über die Juden.

Rebekka Nieten äußert ein Bedauern darüber, dass die deutschen Politiker nicht die Sensibilität aufbringen konnten, statt den 9.November, den Tag der Reichspogromnacht, den 10. November zum Tag der Freude über die Öffnung der Berliner Mauer zu erklären. Denn schließlich sei das Öffnen der Mauer in der Nacht zum 10. November 1989 erfolgt. Die Herausgeberin Nea Weissberg stellt resigniert die Frage: „Wird der 9. November 1938 von dem im Jahr 1989 weit weg an den Rand gedrängt? “Mit anderen Worten: Wird die Erinnerung an das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte langsam durch fröhliche Momente der Geschichte überlagert und verdrängt?

Aus der kritischen Haltung aller Frauen zur Bewältigung der Nazi-Vergangenheit in der Bundesrepublik folgt, wie die aus West-Berlin stammende Fotografin und Mitgestalterin des Buches Sharon Adler betont, dass sie über den Anschlag von Halle entsetzt, von ihm aber nicht überrascht waren. Das ist ein sehr schlechtes Zeugnis für die gegenwärtigen Verhältnisse in Deutschland. Von ihm sollten vor allem Politiker Kenntnis nehmen, die das Wohlbefinden der Juden als einen Gradmesser für demokratische Verhältnisse in dem Land sehen. Besonders ihnen, aber auch allen, für die die Geschichte der Juden in Deutschland nicht als mit Auschwitz beendet gilt, ist dieses Buch zu empfehlen.

Nea Weissberg (Hrsg.):

Halle ist überall – Stimmen jüdischer Frauen
Mit Fotos von Sharon Adler und anderen

Lichtig-Verlag, Berlin 2020
162 Seiten, EUR 20,00

Inhaltsverzeichnis

Editorische Anmerkungen

Gabriel Berger wurde 1944 als Sohn eines aus Nazideutschland geflüchteten jüdischen Kommunisten im französischen Versteck geboren. Er besuchte in Leipzig die Oberschule und studierte in Dresden Physik. Danach war er in der Kernforschung tätig. Nach der erneuten antisemitischen Welle in Polen und dem gewaltsamen Ende des Prager Frühlings im Jahre 1968 verlor der junge Physiker den Glauben an eine Demokratisierung des realen Sozialismus. 1975 stellte er einen Antrag auf Übersiedlung in die Bundesrepublik. 1976 wurde er unter dem Vorwurf der „Staatsverleumdung“ verhaftet. Nach einjähriger Haft übersiedelte er nach Westberlin. Dort arbeitete er zunächst im kerntechnischen Bereich, später als Informatiker. In den achtziger Jahren studierte er Philosophie und veröffentlichte Beiträge in Zeitungen und im Rundfunk. Inzwischen ist er Rentner und als Buchautor tätig. Vor kurzem erschein seine jüngste Publikation: Auf der Suche nach Heimat. Eine jüdische Familie im 20. Jahrhundert. (Beggerow-Verlag, Berlin 2020, 292 Seiten, EUR 14,90).

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