Franz Rosenzweig - Religionsphilosoph aus Kassel

Lange Zeit war sein Werk fast vergessen, nur kleinen Kreisen sagte der Name Franz Rosenzweig noch etwas. Einen ersten Anstoß zur erneuten Wahrnehmung des in Kassel geborenen und aufgewachsenen Vertreters deutsch-jüdischen Geistes gab der erste internationale Rosenzweig Kongress in Kassel 1986. 25 Jahre danach ist just vor wenigen Tagen ein inhaltlich umfassendes, äußerst sorgfältig editiertes und mit beeeindruckenden Fotografien und Bildern ausgestattetes Buch im Kassler euregioverlag erschienen, das einen hervorragenden Ein- und Überblick in das Leben und Werk Franz Rosenzweigs vermittelt: "Franz Rosenzweig - Religionsphilosoph aus Kassel".

Der von der Literaturwissenschaftlerin Eva Schulz-Jander und dem Philsophen Wolfdietrich Schmied-Kowarzik herausgegebene Sammelband informiert aus der Sicht unterschiedlicher Fachdisziplinen über den jüdischen Religionsphilosophen, der zu seiner Zeit eine Erneuerung des Judentums in der Moderne in den Mittelpunkt seines Denkens und Lebens stellte. Er verzichtete auf eine Universitätskarriere, um mit der Gründung des Freien Jüdischen Lehrhauses in Frankfurt und der Arbeit an der Neuübersetzung der Bibel – gemeinsam mit Martin Buber – diese Erneuerung voranzutreiben. Bis heute wird jährlich die nach Rosenzweig benannte Buber-Rosenzweig-Medaille durch den Deutschen Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit an Personen verliehen, die sich besonders für den christlich-jüdischen Dialog einsetzen.


Nachfolgend lesen Sie die Einleitung der beiden Herausgeber, die einen guten Überblick zum Aufbau und Inhalt des Bandes gibt. Darüber hinaus ist einer der zentralen Beiträge des Buches, nämlich der von Stefan Schreiner über "Martin Buber, Franz Rosenzweig und die Verdeutschung der Schrift", an anderer Stelle hier auf JCRelations.net ebenfalls zu lesen.


JCR Redaktion

 

Einleitung

Eva Schulz Jander / Wolfdietrich Schmied-Kowarzik

In vielen deutschen Städten wie Hamburg und Berlin, München und Frankfurt am Main lebten einst auch in Kassel wohlhabende jüdische Bürger. Namen wie Aschrott, Blumenfeld, Gotthelft, Nußbaum und Rosenzweig zeugen davon. Sie alle haben bis in die dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hinein wesentlich mitgewirkt am wirtschaftlichen, kulturellen, politischen und sozialen Reichtum Kassels. Sie waren hier zu Hause.

Aber was bedeutet das? Kann man deutsch-jüdische Geschichte bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten unter einem positiven Blickwinkel betrachten, wirft doch die Shoah ihren dunklen Schatten nicht nur bis in unsere Zeit hinein, sondern auch auf die ihr vorausgehende und stellt die eindrucksvollen Leistungen, die selbst der aufkommende Antisemitismus nicht ernsthaft behindern konnte, noch nachträglich in Frage. Dennoch sollten wir die beachtlichen Beiträge jüdischer Industrieller, Politiker, Wissenschaftler, Kulturschaffender und Intellektueller nicht nur im Lichte des Scheiterns betrachten, sondern ihre Mitwirkung bei der Entwicklung der deutschen Gesellschaft entsprechend würdigen. Galt doch die deutsch-jüdische Geschichte „im europäischen Kontext bis zum Aufkommen des Nationalsozialismus durchaus als eine Erfolgsgeschichte.“[1] Zwei Namen, wie es Schalom Ben-Chorin 1986 in seiner öffentlichen Ansprache aus Anlass des ersten Internationalen Franz- Rosenzweig Kongresses ausdrückte[2], markieren Anfang und Ende dieser „Erfolgsgeschichte“: Moses Mendelssohn und Franz Rosenzweig. Steht Moses Mendelssohn (1729–1786) im aufklärerischen 18. Jahrhundert für den Eintritt der Juden in die deutsche Gesellschaft, so steht Franz Rosenzweig (1886–1929), am Vorabend des Nationalsozialismus, für ihr furchtbares Ende. Gewissermaßen können wir Leben und Wirken eines der letzten Vertreter des deutschen Judentums als Spiegelbild deutschjüdischer Geschichte ansehen. Durchschritt er doch in der kurzen Spanne seines nur 43 Jahre währenden Lebens die Stufen dieses fragilen Gebildes. Wie viele seiner Zeitgenossen verspürte auch er die Anziehungskraft der deutschen Kultur, die Versuchung des Christentums, die Unzufriedenheit mit dem oberflächlichen religiösen jüdischen Leben, wie er es kennen gelernt hatte. Der vorliegende Band versucht, diesen Weg aufzufächern.

Er wird eröffnet durch Ursula Rosenzweigs Nachzeichnung der Geschichte der Familie Rosenzweig. Isaak Rosenzweig, Stammvater der Kasseler Rosenzweigs, kam etwa 1815 als Lehrer nach Kassel. Wie so viele jüdische Familien in Deutschland waren auch sie den Weg von Ost nach West gegangen, von einem jüdisch gelebten Leben hinein in ein assimiliertes Leben in Deutschland, in dem das Judentum, reduziert zum Lippenbekenntnis, für die Lebensführung von nur noch geringer Bedeutung war. Franz Rosenzweig wurde in eine solche assimilierte und erfolgreiche Familie 1886 hinein geboren, verehrte die deutsche Kultur und ging schließlich einen anderen Weg. Myriam Bienenstock zeichnet diesen geistigen Weg nach, der ihn vom deutschen Idealismus über Schopenhauer und Nietzsche hinführt zum neuen Denken, das sich bewusst aus dem Judentum speist und sich der Herausforderung der religiösen Sinnfragen stellt. Rosenzweig studierte Geschichte und Philosophie und erfuhr, wie viele andere junge Juden seiner Zeit, den Reiz der deutschen Kultur, die überragende Denker wie Kant, Schleiermacher und Hegel aufzuweisen hatte. An ihnen musste er sich abarbeiten, ehe er zu seinem innersten Kern finden konnte. Jules und Josiah Simon zeigen in ihrem Beitrag, wie Rosenzweigs Auseinandersetzung, ja sein Ringen mit Hegel und den damals geläufigen Hegel-Interpretationen ihm einen Platz unter den Hegel-Kennern sicherte, ihm aber auch eineFolie war, um zum eigenen Denken zu finden. Dieses gipfelt in Rosenzweigs Hauptwerk Der Stern der Erlösung, auf das Wolfdietrich Schmied-Kowarzik näher eingeht.

Jüdisches Leben und Denken fand in einem christlich geprägten Umfeld statt, und es gab so etwas wie die Verführung des Christentums, für uns heute kaum nachvollziehbar. So waren sein enger Freund Eugen Rosenstock und sein Vetter Hans Ehrenberg zum Christentum übergetreten. Nicht alle Juden, die zum Christentum konvertierten, taten dies, um mit Heine zu sprechen, für ein Entrée-Billet zur deutschen Gesellschaft, sie taten es aus tiefer Überzeugung. So stand auch Rosenzweig selbst, nach langen intensiven Gesprächen mit den christlichen Freunden, an der Schwelle zur Konversion, ehe er sich für eine bewusste jüdische Existenz entschied. Aus dieser Entscheidung – „Ich bleibe also Jude“ – erwuchsen für ihn zwei Konsequenzen, die Notwendigkeit einer Erneuerung jüdischen Lebens und eines intensiven Gesprächs zwischen Juden und Christen auf gleicher Augenhöhe, aus dem jeweiligen jüdischen und christlichen Selbstverständnis heraus – wie Inken Rühle darlegt und wie es Reinhold Mayer an den Liebesbriefen Rosenzweigs an „Gritli“ Margrit Rosenstock-Huessy, der jungen Ehefrau seines Freundes Eugen Rosenstock, konkretisiert.

Rosenzweigs Auseinandersetzung mit dem deutschen Idealismus führte ihn heraus aus dem theoretischen, akademischen Denken hin zu einem Denken, das existentiell und dialogisch genannt werden kann, in anderen Worten: zum konkreten Leben. So war es nur schlüssig, dass die Erneuerung jüdischen Lebens in einer pädagogischen Arbeit geschehen müsse, die Lehrende und Lernende zusammenführt, darauf gehen mit unterschiedlich sich ergänzenden Akzenten Regina Burkhardt- Riedmiller und Ephraim Meir ein. Die Art wie Franz Rosenzweig dies für das Freie Jüdische Lehrhaus in Frankfurt am Main entwarf, ist eine imminent jüdische Entscheidung. „Daß zur rechten Lektüre der Tora die Notwendigkeit gehört, das Gelernte zu lehren, ist keine Trivialität. […] Wenn man die Tora jedoch lehren muß, um sie weiterzutragen, so ist es wahrscheinlich auch nötig, daß der Schüler Fragen stellt.“(3} schreibt Emmanuel Levinas in seinen Talmudlektüren, und genau dies war das Konzept Franz Rosenzweigs für das Freie Jüdische Lehrhaus in Frankfurt am Main, ein reger dialogischer Austausch zwischen Lehrenden und Lernenden, um beide in eine bewusste jüdische Existenz zu führen. Sehr bald nachdem er das Freie Jüdische Lehrhaus gegründet hatte, machte sich seine schreckliche Totallähmung bemerkbar, die ihn nicht nur ans Krankenlager fesselte, sondern ihm auch die Sprechfähigkeit raubte. Wie Rosenzweig trotzdem im Gespräch mit seiner Mitwelt blieb, berichtet Benyamin Maoz. Es war ein physisches Sterben, dem sich ein reger und kreativer Geist entgegenstämmte. Sieben Jahre währte sein Krankenlager. Dieses langsame Sterben vergleicht Schalom Ben-Chorin mit dem zehn Jahre danach einsetzenden gewaltsamen Sterben des europäischen Judentums.[4] Moses Mendelssohn hatte einst den Pentateuch aus dem Hebräischen ins Deutsche übersetzt, um den Juden, die der deutschen Sprache nicht mächtig waren, den Zugang zu dieser Sprache und damit zur deutschen Gesellschaft zu erleichtern. Am Ende seines Lebens, schon gezeichnet von der Krankheit, ging Rosenzweig den umgekehrten Weg, er versuchte, gemeinsam mit Martin Buber, mit der Verdeutschung der Schrift dem assimilierten Judentum, dem der Originaltext fremd geworden war, die ganze sprachliche Besonderheit und Schönheit des hebräischen Textes – wie Stefan Schreiner aufzeigt – wieder zugänglich zu machen.

Im vorletzten Beitrag betrachtet Micha Brumlik das Denken Rosenzweigs im Lichte unserer Zeit, sein Verhältnis zum Zionismus und der Idee eines jüdischen Staates, so wie die Weiterführung seines Denkens durch Emmanuel Levinas. Der letzte Beitrag von Eva Schulz-Jander geht den Spuren Rosenzweigs in Kassel und den Auswirkungen seines Denkens im internationalen Rahmen nach. So ist dieser Band die Heimholung Franz Rosenzweigs in seine Geburtsstadt Kassel, zeigt aber auch, dass die Gedanken des jüdischen Religionsphilosophen aus Kassel in die Welt hinaus gingen und heute noch hinaus wirken.

Das vorliegende Buch vereint zum ersten Mal in dieser Reihe Autoren und Autorinnen aus drei Kontinenten, ihnen allen sei gedankt für die termingerechte Abgabe ihrer Manuskripte und für die gute Zusammenarbeit. Herrn Dr. Alexander Link vom Stadtmuseum Kassel möchten wir danken für die freundliche Unterstützung bei der Beschaffung zahlreicher Abbildungsvorlagen. Unser Dank geht ebenso an Sabine Kemna und Renate Matthei vom euregioverlag, die unsere Arbeit über das übliche Maß hinaus begleiteten und unterstützten. Raymond Huessy ist zu danken für die Bereitstellung von bisher unveröffentlichten Fotos von „Gritli“ Margrit Rosenstock-Huessy. Abschließend gilt unser Dank der Kasseler Sparkasse für die Ermöglichung dieser Publikation.

FRANZ ROSENZWEIG - Religionsphilosoph aus Kassel.

Hg. von Eva Schulz-Jander und Wolfdietrich Schmied-Kowarzik

euregioverlag, Kassel 2011

140 S., m. zahlr. Abb.,  € 20,00

 

[1] Dan Diner 1991: Zerbrochene Geschichte, S. 7

[2] Schalom Ben-Chorin 1988: Franz Rosenzweig und das Ende des deutschen Judentums, in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Der Philosoph Franz Rosenzweig (1886–1929), 2 Bde., S. 57ff.

[3] Emmanuel Levinas 1994: Stunde der Nationen, Talmudlektüren, S. 105

[4] Ben-Chorin 1988, S. 63f.

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