Fragen an die jüdische Geschichte

Es lohnt sich, die Einleitung genau zu lesen, weil sie einige zu Anlage und Verständnis des Buches wichtige Vorbemerkungen enthält, etwa die Fokussierung auf die deutsch-jüdische Geschichte oder die Tatsache, dass es nicht um eine Geschichte des Antisemitismus gehe.

Beide Autoren sind Oberstudienräte und arbeiten am Fritz-Bauer-Institut in Frankfurt. Ihr erstes Kapitel „Sample und empirische Befunde“ zeigt ihren praktischen Ansatz und charakterisiert den gesamten ersten Teil. Sie haben z.B. 74 repräsentative Unterrichtsbücher auf den Anteil an jüdischer Geschichte untersucht und erschreckend geringe Anteile ermittelt: zwischen 1,81 und 3,79%; selbst in den Kapiteln über NS-Geschichte lag der Anteil nur zwischen 11,11 und 29,71%. Grafiken verdeutlichen das Bild. Das notwendige Abkürzungsverzeichnis der Schulbücher findet sich erst am Ende des Buches.

Das Kapitel „Antike“ ist sehr grobmaschig bis hin zu dem offensichtlich unausrottbaren Begriff „alttestamentarisch“ statt „alttestamentlich“. Didaktisch ist vor allem die Erkenntnis bedeutsam: „Die jüdische Geschichte kann im heutigen Schulunterricht gewiss nicht nur aus innerjüdischer Perspektive, aber auch nicht unabhängig davon erzählt werden.“

Berechtigte Kritik an der Darstellung jüdischer Geschichte der Antike in Schulbü-chern wird im Kapitel „Das Land der Bibel“ geübt; aber man sollte nicht unhistorisch Ismael als „Stammvater der Araber“, sondern „der Muslime“ bezeichnen. Sehr berechtigt ist dagegen die Kritik an der Behandlung des Monotheismus in Schulbüchern. Vielleicht hängt dies weniger mit Schul(re)formen zusammen als damit, dass die Autoren der Geschichtslehrbücher in der Regel zu wenig über theologische Kenntnisse verfügen. Sehr beherzigenswert ist die Kritik an der undifferenzierten und damit irreführenden Bezeichnung des biblischen Landes als „Palästina“ oder der „Klagemauer“ als Rest des Jerusalemer Tempels. Wer die Zulassungsverfahren für Unterrichtsbücher kennt, liest kopfschüttelnd die zahlreichen von den beiden Autoren dort aufgespürten sachlichen Fehler. Geschichts- aber auch Religionslehrer sollten dieses Kapitel sorgfältig zur Kenntnis nehmen.

Dies ist für die Behandlung jüdischer Themen durch alle Jahrhunderte festzustellen. Mit Recht beanstanden die beiden Autoren z.B. die weitgehende Nichtbehandlung jüdischer Kultur und Geschichte im Mittelalter als Folge geltender Lehrpläne und didaktischer Konzeptionen. Für das Entstehen von Ghettos sollte jedoch auch darauf verwiesen werden, dass mittelalterliche Städte ohnehin ständisch gegliedert waren; außerdem könnten „Judenhöfe“, die der Erleichterung der Einhaltung jüdischer ritueller Verschriften dienten, ungewollt Vorstufen einer Ghettoisierung gewesen sein. Sehr ausführlich setzen sich die Autoren mit der angeblichen Kennzeichnungspflicht für Juden durch das IV. Laterankonzil auseinander und halten den „Judenhut“ lediglich für ein „ikonographisches Zeichen“ mittelalterlicher Maler. Der auch in den meisten Büchern angeführte Zusammenhang von kirchlichem Zinsverbot und jüdischem Geldhandel wird ebenfalls als „Mythos“ bezeichnet. Spärlich fällt die Behandlung jüdischer Geschichte in Schulbüchern bis zur Französischen Revolution und zur deutschen „Reichsgründung“ aus. Man kann dies als Ausdruck der „Judenvergessenheit“ sehen. Die Autoren nehmen Analysen einzelner für den Unterricht zugelassener Bücher vor, ohne der Gefahr der Pauschalierung zu erliegen, zeigen aber dennoch vergleichbare Tendenzen auf. Dem Kaiserreich wird eine „Ausgrenzungsgeschichte“ attestiert, die sich nicht nur auf Juden bezog. Ein gesondertes Kapitel zum Thema Antisemitismus haben sie aber nur in zwei Schulbüchern ausgemacht. Doch auch darin entdecken sie problematische Nuancen. Kritisiert wird die ungenügende Dekonstruktion des Begriffs „jüdische Kapitalisten“ im Zusammenhang der Wirtschaftskrise von 1923. Außerdem wird nicht einmal der Mord an Rathenau in allen Schulbüchern behandelt.

Wie differenziert sie beobachten, zeigt u.a. ihre Kritik an der Behauptung, die Nazis hätten „die Vernichtung der Juden zum Selbsterhaltungskampf der deutschen Nation und der westlichen Zivilisation“ erklärt, da die NS-Ideologie gerade die „westliche Zivilisation“ als „von den Juden beherrscht“ angesehen habe. Solche Beobachtungen zeigen, wie wenig mitunter Schulbücher auf terminologische Genauigkeit achtend heutige Begrifflichkeiten in frühere Strömungen extrapolieren. Auch andere Ungenauigkeiten werden aufgespürt, wobei allerdings dem analytischen Konzept des Buches folgend keine Verbesserungsvorschläge gemacht werden. Sie bemängeln auch, dass Kritik an der NS-Ideologie nur anhand von NS-Texten geübt werde, ohne zeitgenössische Kritik entsprechend zu berücksichtigen. Dass die Bücher pauschal moralisch werten, ohne „fundierte Kritik an der Sache“ zu üben, liegt wohl auch daran, dass Schulbücher nicht als Selbstläufer konzipiert sind, sondern entsprechenden Unterricht voraussetzen.

Das Thema Holocaust/Shoah wird in den Schulbüchern durchweg behandelt, das Thema „Widerstand“ auch mit dem entlastenden Unterton, dass nicht alle Deutschen sich an dem Unrecht beteiligten. Auf den jüdischen Widerstand geht nur ein Werk ein, die Frage, wie Juden auf die NS-Politik reagierten, wird meist gar nicht gestellt. Ein Kapitel der Untersuchung ist der Täter-Opfer-Perspektive gewidmet und stellt fest, dass hauptsächlich die Täterperspektive in den Blick kommt. Ein eigenes Kapitel ist der Arbeit mit biografischen Texten gewidmet. Das Kapitel „Konsequenzen, Erinnern und Gedenken“ zeigt, wie wenig diese Aufgabe gesellschaftlich bisher geleistet ist – und deshalb auch in Schulbüchern nur unzureichend geleistet wird. Aus den Beobachtungen ziehen die Autoren Folgerungen und formulieren als „Didaktische Grundsätze“ z.B. „Multiperspektivität“, aber auch „Kontroversität“ und „Mehrdimensionalität“. Beim Prinzip „Gegenwartsbezug“ gehen sie kritisch auf vereinfachende Parallelisierungen ein, auch auf die Forderung des Bundestags, Schüler/innen sollten durch den Unterricht gegen Antisemitismus „immunisiert“ werden.

Mit unterschiedlichen Narrativen setzen sie sich im Kapitel über das Erzählen deutsch-jüdischer Geschichte auseinander und nennen die Unterscheidung zwischen deutschen und jüdischen Narrativen problematisch, da es um deutsche Juden geht. Dabei ist vor allem der Hinweis auf Moshe Zimmermanns Warnung vor einem „wir-ihr-Schema“ zu beherzigen. Aber auch in den Kapiteln „Sündenbock-Theorem“ und „Sozialneid-Theorem“ schlägt der analytische Ansatz durch. Aus den guten Gegenbeispielen ergibt sich aber noch kein didaktisches Prinzip. Auch die Beispiele zu Quellentexten und Bildern machen eher die Problematik deutlich, als dass sie eine entsprechende Didaktik und sich daraus ergebende Methodik aufzeigten.

So ist der Wert dieser Publikation vor allem darin zu sehen, Lehrerinnen und Lehrer auf die versteckten Gefahren in Lehrbüchern, Materialien und Methoden hinzuweisen, und nicht so sehr darin, neue Wege aufzuzeigen. Aber wenn dies gelingt, ist schon ein wesentlicher Schritt getan. Ein Wermutstropfen bleibt: Welchen Stellenwert besitzt eine solide Auseinandersetzung mit Geschichte im heutigen Unterricht überhaupt noch?

Martin Liepach/Wolfgang Geiger:

Fragen an die jüdische Geschichte.

Darstellungen und didaktische Herausforderungen.

189 S., brosch., Wochenschau Verlag, Schwalbach/Ts.. 2014

Euro 19,80

 

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