Evangelisch in der Türkei. Eine Auslandsgemeinde im Kontext nationalsozialistischer Machtpolitik

Bei dem vorliegenden Werk handelt es sich um eine akademische Qualifikationsarbeit. Die Dissertation wurde an der Theolischen Fakultät der Christian-Albrechts-Univ. Kiel im WS 2017/18 angenommen.

Jan Lohrengel hat sich – was ja bei einer historischen Studie durchaus naheliegt – dazu entschlossen, die Hauptkapitel nach zeitgeschichtlichen Zäsuren zu gliedern. Den Anhang (278–320) bilden ein Abkürzungsverzeichnis (278), ein Quellen und Literaturverzeichnis (279–298) sowie ein Personenregister (299–320). Der Verfasser hat, das zeigt bereits die umfangreiche Auflistung der unveröffentlichten Quellen (279–287), gründliche Archivstudien vorgenommen, die in das vorliegende Werk eingeflossen sind. Das Personenregister ist deswegen so umfangreich, weil der Verfasser sich entschieden hat, bei den einzelnen Personen eine kurze Biographie hinzuzufügen. Gerade bei einem historischen Werk stellt sich die Frage, warum bspw. Kurt Berckenhagen als „Auslandspfarrer in Konstantinopel [!]“ bezeichnet wird. Hier sollte man doch gerade bei einer Auseinandersetzung mit der Türkei den Namen Istanbul verwenden. Störend ist im Personenindex, dass der Verfasser hier relativ häufig auf ein „Personenlexikon“ verweist. Er bezieht sich dabei wohl auf das von Martin Greschat hg. Personenlexikon Religion und Theologie, das bei UTB als Nr. 2063 erschienen ist. Allerdings sollte ein derartiges Werk – da der Verfasser ausdrücklich darauf hinweist, dass die Abkürzungen nach IATG3 erfolgen – dann im Abkürzungsverzeichnis erwähnt und in der Bibliographie aufgelistet werden. Es steht zu erwarten, dass nicht nur Theolog:inn:en, sondern auch Zeitgeschichtler:innen an diesem Band Interesse haben. Gerade deshalb sollten alle Informationen vollständig geboten werden. Bei dem Thema der vollständig zu bietenden Informationen ist auch zu erwähnen, dass es sich eigentlich auch nahelegen würde, einen separaten Index der im Werk behandelten Orte und Regionen, sowie einen Schlagwortindex anzubieten.

Die Einleitung führt in das Thema ein (11–20). Das zweite Kapitel, das mit „Voraussetzungen“ (21–28) überschrieben ist, behandelt die historischen Voraussetzungen und damit die Zeit vor 1933. Das dritte Kapitel list der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg gewidmet („1933–1938: Eine Auslandsgemeinde unter wachsendem Einfluss des Nationalsozialismus“, 29–166). Das vierte Kapitel thematisiert die Zeit des Krieges bis zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen („1939–1944: Die Gemeinde im Zweiten Weltkrieg“, 167– 251). Das fünfte Kapitel, das vom Umfang her eher einen Ausblick darstellt, beschäftigt sich mit dem Übergang zur Nachkriegszeit („1944–1952: Der Abbruch der diplomatischen Beziehungen und frühe Nachkriegszeit“, 252–273). Am Ende der Kapitel drei bis fünf findet sich jeweils ein „Zwischenfazit“. Das sechste Kap. trägt als Ganzes den Titel „Fazit“ (274–277).

Der langen Liste an unveröffentlichten Quellen entspricht der Forschungsstand: „Betrachtet man das Gesamt deutschsprachiger evangelischer Auslandsgemeinden, waren sie verhältnismäßig selten Gegenstand wissenschaftlicher Forschung.“ (14) Der Verfasser schließt damit für die ev. Auslandsgemeinden in der Türkei eine wichtige Forschungslücke. Auf der Ebene der Methodik wähltder Verfasser „die Methoden der sozialhistorisch orientierten Kirchengeschichtsschreibung“ (17).

Gerade weil der Verfasser eigentlich quellenorientiert arbeitet, irritiert es, wenn ganze Unterabschnitte letztlich ein paraphrasierendes Referat anderer Werke darstellen. Dies gilt bspw. für die erste Hälfte des Abschnitts „3.7. Antisemitismus in der Türkei“ (89–96). Wenn dort auf einen – oder mehrere – Artikel in der türkischen Tageszeitung Cumhuriyet Bezug genommen wird, sollte nicht nur der Autor des Textes (Vakit), sondern auch die Ausgabe der Tageszeitung und die S. genannt werden (89). Alternativ könnte die Passage deutlicher als reines Referat dargestellt werden. In diesem Abschnitt wird auch ein methodisches Problem deutlich. Kap. drei handelt von der Zeit 1933–1938 und der Unterabschnitt beschäftigt sich mit dem „Antisemitismus in der Türkei“. Was in diesem Abschnitt Anweisungen des Auswärtigen Amtes an die NSDAP-Ortsgruppen suchen, die im Jahr 1942 verschickt wurden, ist nicht wirklich nachvollziehbar. Bezüglich der Medienlandschaft hält der Verfasser fest: „Mit der Millî İnkılap, die ab 1934 in türkischer Sprache erschien, erhielt die türkische Medienlandschaft ein Blatt, das inhaltlich der deutschen Ausgabe des Stürmer entsprach und vom Deutschen Reich auch finanziell gefördert wurde. Diese Zeitung blieb nicht das einzige antisemitische Blatt der Türkei.“ (89–90) Wenn man dies hervorhebt, dann kann man Zeitungen wie Bozkurt, Orhun oder Çınaraltı auch namentlich erwähnen – und sollte vielleicht nicht verschweigen, dass bspw. der Bozkurt wegen seiner antisemitischen Tendenzen im Jahr 1942 in der Türkei verboten wurde, worauf das bereits vor Jahrzehnten veröffentlichte Werk von Patrick von Zur Mühlen hinweist.[1] Es ist ferner unverständlich, warum auch Hatice Bayraktar für die Frage eines türkischen Antisemitismus in dieser Zeit nicht rezipiert wurde.[2]

Interessant ist bereits in der Hinführung, wie sehr die Verwendung von Auslandsgemeinden für politische Zwecke im 19. Jh. durchaus problematisch wahrgenommen werden konnte: „Die Regierung des Osmanischen Reichs sah in kirchlichen Aktivitäten einen betont missionarischen Charakter, der in ihren Augen zur Destabilisierung der Gesellschaft führen konnte.“ (22) Umgekehrt war nach dem Ersten Weltkrieg „die kirchliche Auslandsarbeit [...] für die Diplomaten deshalb von besonderem Interesse, weil im – bisweilen feindlichen – Ausland bereits Christen deutscher Sprache lebten, die über Kontakte verfügten, die für die Interessen des Deutschen Reiches fruchtbar gemacht werden sollten.“ (2 7

Eine wichtige Beobachtung ist sicherlich, wie schwierig es schon sehr früh für die Auslandsdeutschen in der Türkei war, sich ein Bild der Situation zu machen: „Im Umfeld des so genannten Kirchenkampfes zeigt sich einmal mehr die Informations- und Deutungshoheit des Kirchlichen Außenamtes: Oftmals erhielten die Auslandspfarrer einzig von der Behörde Informationen über die gegenwärtige kirchliche Lage der Heimatkirche und diese wurden, auch aufgrund der scharfen Pressezensur, sorgsam ausgewählt.“ (165) Trotzdem hatte die politische Entwicklung in Deutschland einen großen Einfluss auf die Gemeinde: „Die Ernennung von Adolf Hitler zum Reichskanzler führte zu einer beispiellosen Polarisierung der deutschsprachigen Community in der Türkei und veränderte das Vereinsleben nachhaltig.“ (166)

Für die Kriegszeit hält der Verfasser. Folgendes fest: „Die Nähe zwischen deutscher Diplomatie und evangelischer Auslandsgemeinde sind [sic!] auch in den Kriegsjahren unverkennbar. Für die Gemeinde waren die durchweg [sic!] guten bis sehr guten Beziehungen zu den ranghohen Vertretern ihres Heimatlandes eine Art Lebensversicherung.“ (250)

So lange der Verfasser die von ihm untersuchten Quellen präsentiert und analysiert, darf man von einer wissenschaftlichen Arbeit sprechen, die zeithistorisch wichtige Quellen erschließt. Bei Referaten über bestehende Forschung bleibt der Verfasser wiederholt an der Oberfläche und übersieht Literatur, die zentral zum Thema gehört und rezipiert werden müsste. Hier hätte ein entsprechendes Feedback während der Erstellung der Arbeit oder bei der Beurteilung davor bewahren können, dass dies offensichtlich selbst einem Rezensenten auffällt.

Jan Lohrengel:
Evangelisch in der Türkei. Eine Auslandsgemeinde im Kontext nationalsozialistischer Machtpolitik. – Das Beispiel Istanbul. 

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2022. 320 S., geb. € 90,00

[1] Vgl. hierzu beispielsweise PatrickVON ZUR MÜHLEN: Zwischen Hakenkreuz und Sowjetstern. Der Nationalismus der sowjetischen Orientvölker im Zweiten Weltkrieg, Düsseldorf 1971, 41.
[2] Hatice BAYRAKTAR: Salamon und Rabeka: Judenstereotype in Karikaturen der türkischen Zeitschriften Akbaba, Karikatür und Milli Inkilap 1933–1945, Berlin 2006 (nachgedruckt im Jahr 2019 als Bd. 273 der Islamkundlichen Studien).

Editorische Anmerkungen

Hans Förster, Dr., Privatdozent am Institut für Neutestamentliche Wissenschaft an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.

Quelle: Theologische Revue, 119. Jahrgang – August 2023.

zurück