Erneuerung der Kirchen. Perspektiven aus dem christlich-jüdischen Dialog

Eine Rezension

Nichts kann m.E. deutlicher die Relevanz von Nostra aetate 4 zeigen, als das reformjüdische Dokument Dabru Emet (2008), das orthodoxe Den Willen unserer Vaters im Himmel tun (Januar 2016) wie vor allem auch Zwischen Jerusalem und Rom (August 2017), dem wegen seiner breiten und autoritativen Herausgeberschaft[1] eine besondere Bedeutung zukommt und das explizit Bezug auf Nostra aetate 4 Bezug nimmt. „Von Feinden und Fremden sind wird zu Freunden und Brüdern geworden“, zitiert es ein Wort von Papst Franziskus und versteht es als Indiz für die „offensichtliche Änderung der Einstellung der Kirche gegenüber der jüdischen Gemeinschaft“.[2]

Gleichwohl haben selbstverständlich auch anlässlich des  50. Jahrestags der Verabschiedung von Nostra aetate etliche katholisch-theologische Fakultäten seine Bedeutung und Wirkung in Symposien bedacht. In diese Schar reiht sich der anzuzeigende Band ein. Eine „Wissensbilanz der theologischen Universitäten, Fakultäten und Hochschulen in Österreich“ war das Ziel eines Studientags 2015 an der Universität Wien. Die dreizehn Beiträge dokumentieren Vorträge davon und schließen auch Texte von Lehrenden in Wien und anderen Autoren aus dem Freundeskreis ein.(7)  Unterteilt wird der Band nach den Gesichtspunkten Geschichte, Bestandsaufnahme, Blickwechsel und Themen, alle vier Teile etwa gleich umfänglich.

Im ersten Teil vergewissert sich Stefan Schima kritisch der judenfeindlichen Geschichte der Wiener Universität. Seine fundierte Untersuchung resümiert er dahingehend, dass  sich in concreto eine christliche Judenfeindschaft allermeist nicht mehr vom der rassistisch motivierten Antisemitismus unterscheiden lässt, und die, die „Geister“ vermeintlich „nur“ riefen, selber als solche erscheinen. (44)

In einer präzisen Fallstudie zum Tiroler Andreas von Rinn-Komplex  zeigt Klaus Davidowicz auf, wie feinporig und tief christliche Judenfeindschaft in eine Dorfkultur eingedrungen ist. Schließlich werde selbst heute noch, wenn auch kaschiert, an Resten dieser bösartigen Verleumdung festgehalten. (63/4)

Diese beiden ortsbezogenen Studien werden ergänzt durch programmatische Überlegungen des Münchener Theologen Norbert Reck zur christlichen Mittäterschaft an der Schoa. Reck  analysiert Strategien der Schuldabwehr in den beiden vorangegangen Generationen von Theologen. Auch „Große“ Ihrer Generation wie Romano Guardini taten sich damit schwer. Zwar kenne er eine Aufgabe der Aufarbeitung, lasse die konkreten Täter aber in einem letztlich gesichtslosen „Wir“ der vermeintlich aller Betroffenen verschwinden. Auch für die zweite Generation, zu der etwa Karl Rahner gehörte, irritiere das Fehlen von Empörung. Reck geht es nicht um Bezichtigung deren, auf deren Schultern wir stehen. Er sucht vielmehr  nach Einsichten für den Umgang mit dieser Schuld in der dritten, seiner eigenen Generation. Als (Selbst)Aufforderung an diese nennt er:  Denk- und Frageverbote nicht mehr akzeptieren, Diskurse der Schuldabwehr analysieren und Täterdiskurse mit den Berichten der verfolgten konfrontieren. Ein solcher Umgang mit der Schuld der Großeltern sollte als Ertrag eine neue Freiheit „zur Empörung, zum eingreifenden Handeln, zur Solidarität“ erbringen. (92)

Unter  „Bestandsaufnahmen“ rekapituliert Edmund Kessler, breit angelegt, aus jüdischer Sicht die 50 Jahre seit Nostra aetate. Eine ganze Palette von Themen und Topoi des Dialogs und seiner Theologie wird kommentiert. Erstaunlicher Weise stimmen m.E. viele seiner Beobachtungen und Einschätzungen mit solchen vom im Dialog engagierten ChristInnen überein. Es zeigt den Unterschied zwischen reformjüdischen Wahrnehmungen und denen der orthodox-jüdischen Sicht, die eine veränderte Einstellung anerkennt, doch inhaltlich wesentlich zurückhaltender bleibt und vielleicht angesichts der so langen Geschichte von christlicher Verachtung für mich sehr nachvollziehbar skeptischer bleibt. Die nächsten Jahrhunderte mögen hoffentlich erweisen, dass dies nicht nötig war; ob das aber so sein wird, steht noch aus.

Johanna Rahner lotet das „unabgegoltene Potential von Nostra aetate“ aus. Sie sieht es in theologischen Ansätzen, die auf eine neue Hermeneutik von AT und NT abheben, damit verbunden auch ein verändertes Offenbarungsverständnis, das Israel nicht zu einer Vorgeschichte der Kirche degradiere. Das theologisch begründete Eingeständnis stehe immer noch aus, dass auch Kirche als Kirche gesündigt habe und nicht nur einzelne „Söhne und Töchter“. Und ebenso bedürfe es  einer Verständigung darauf, dass es auch ein „sündiges Dogmatisieren“ (Karl Rahner) gebe. (126) Theologisch sei ein Verzicht auf jede Judenmission notwendig, wobei sie auf den Gesprächskreis Christen und Juden beim ZdK verweist, die diese Position am klarsten vertrete; notwendig sei ebenfalls, J. B. Metz aufgreifende, eine neue „theodizee-empfindliche“ Karsamstags-Christologie.

Originell nimmt sich der Beitrag Roman A. Siebenrocks aus. In die Serie der Reflexionen „schmuggelt“ er gleichsam ein neues Genre fiktional-narrativer Theologie ein, wenn er vom Fund einer versiegelten Box aus dem „“Archiv der Zukunft““ von Kirche und Theologie aufmacht.  Die Box sei beschriftet mit Ioannes XXIV – Pro Iudaeis und enthalte Texte, die Nostra aetate in seiner Genese, seinen Aussagen und seiner  Bedeutsamkeit aus ferner Zukunft nur noch rein „historisch“ analysierten,  Notizen über ein Drittes Vatikanisches Konzil, wobei unklar bleibe, ob das für die fiktiven Verfasser aus der Zukunft schon stattgefunden habe oder noch erwartet werde. Die gefunden Dokumente aus der Zukunft Sie machten Vorschläge zu einer „“kanonischen Konzilsinterpretation““, die NA4 wie alle Texte im Konnex deuteten, während nach dem Vaticanum II eher eine werk- resp. Aussagen zentrierte Auslegung vorherrscht hätte. Und schon in NA4 seien, so der Blick aus der Zukunft, Anstazpunkte gegeben, nach denen sich Kirche selber sehr prekär, durchaus gefährdet und bedürftig entdecken könne. Die staubigen Dokumente und Blätter enthileten noch weitere inspirierte Vorschläge: den etwa, einen hartnäckigen  Kryptomarcionismus doch endlich zu überwinden, oder Jesus von Nazareth als „vollendete(n) Toragehorsam“ und „Christus aller Völker“ zu verstehen. Nur in seiner literarischen Form ist die aktualisierte Version einer endzeitlichen Völkerwallfahrt, zu würdigen, die sich verbindet mit den „Wanderungen“ von Millionen Flüchtlingen in unseren Tagen, Deutungen der Völkerwallfahrt wie der Flüchtlingszüge, wie ich so eindringlich noch nicht gelesen habe.

Unter Blickwechsel sind drei Texte versammelt, die im Titel jeweils ein Zitat aus NA4 enthalten. Wolfgang Treitlers “Jerusalem hat die Zeit der Heimsuchung nicht erkannt“ (NA4) untersucht problematische Aussagen des konziliaren Textes hermeneutisch so problembewusst, dass er auch eine Verkennung der Heimsuchung durch die Christen aussagen kann. So versteht er jedenfalls die faktische Aufgabe des Messianismus, wenn die Parusieverzögerung mit ihren Strapazen und Zumutungen nicht als solche ausgehalten, sondern auf diversen Wegen aufgelöst worden sei. Solche Erkenntnisse sind Resultate aus der spannenden Auseinandersetzung mit vor allem US-amerikanischen jüdischen Infragestellungen des Christentums in der Gegenwart. Diese Diskurse münden im Plädoyer für eine Christologie, die „bescheiden“, aber eben – emphatisch gesprochen – wahrhaftiger und auch dialogfähiger geworden sei. Schließlich sei „in Auschwitz (…) auch die traditionelle Christologie zugrunde“ gegangen. (192) Die sieben Abschnitte, in denen Treitler seinen Beitrag gliedert, dürften für die weitere Entwicklung der Theologie des Judentum von hoher Bedeutung sein. Sie zielen auf die strikte „Ratifizierung“ der Anerkennung Israels im ungekündigten Bund. Wie in einem Grundsatz zu anstehenden Revisionen heißt es darin: In „der Last der Geschichte liegen Fragen, größer als die Antworten, die das Christentum entwickelt und an denen es bis heute gefeilt hat“. (193)

Der US-amerikanische Theologe Philip A. Cunningham sondiert das von NA4 aufgemachte Feld von Themen und Fragestellungen aus der Perspektive der Spieltheorie, die für Kontinentaleuropäer gewiss sehr unerwartet „ins Spiel“ gebracht wird. Sie unterscheidet grundlegend Nullsummen-Spiele von Nicht-Nullsummen-Spielen. Während Erstere immer Gewinner und Verlierer kennen und nur kennen könnten, verzichte das Nicht-Null-Summer-Spiel auf eine solche Logik der Überbietung und Erniedrigung. Obwohl NA4 eine Zeit hervorgebracht habe, in der viele Autoren und Autorinnen Achtung für und Respekt vor dem Judentum an den Tag legten, macht Cunningham dennoch in vielen Fällen eine „Abneigung gegenüber einer Nullsummen-Bewegung“ aus. (217) Der gebrauch dieses außertheologischen Modelle zielt auf die Benennung auch immer noch im Umlauf befindlicher subtiler Muster von Substitutionstheologie oder doch zumindest einen Gestus der Superiorität – trotz und in Erneuerungsversuchen. Nach Cunningham sei  für die Zukunft vor allem angezeigt, diese Logik  des „Entweder-Oder-Denken(s)“ zu verlernen und das Nos in Nostra aetate ganz neu zu gewichten. Voraussetzung dafür sei zum einen „Kommunikation“, zum andern „Vertrauen“. (221)

Auf die Neuentwicklung eines „anderen Kontextes des Verstehens“ zielt auch Rainer Kampling, wenn er eine innerkirchliche und -theologische Verständigung auf die theologisch-hermeneutische Normativität von Röm 9-11, als „„Mitte der Schrift““ für die erneuerte Theologie des Judentums einfordert. Nur so sei die nachkonziliare Rede vom „ungekündigten Bund“  biblisch fundiert und gesichtert.. Erst von daher könne – so Kamplings grundsätzlicher und weitreichender Anspruch – „Israel als Kriterium christlicher Theologie“ ernst genommen werden.(229) Man kann es wohl als eine Konkretisierung des Cunninghamschen Postulats einer Nullsummen-Logik verstehen. Denn als „Kriterium“ der christlichen Theologie wird die Aussage vom ungekündigten Bund schon in der christlichen Erkenntnislogik präsent.

Im letzten Teil Themen geht Armin Lange das für Christen besonders schmerzliche Problem einer Feindseligkeit, ja eines „Hass(es)“ (242) gegen Juden im Neuen Testament an. Locus classicus dafür ist bekanntlich der paulinische Brief 1 Thessalonicher 2,13-16. Lange, der wohltuend auf jeden apologetischen Ton verzichtet, charakterisiert die Stelle als nichts anderes denn eine „antisemitische Polemik“. (243) Nach ihrer historisch-literarischen Rekonstruktion gilt sie ihm als „frühes Beispiel der christlicher Contra Iudaios-Literatur“. (254) Aus den Konflikten in Folge der Heidenmission erwachsen, zeigten sie diese Konflikte als dermaßen „unüberwindbar, dass Paulus wohl aus Gründen der christlichen Identitätsfindung und Selbstdefinition sich in eine judenfeindliche Sprache hineinsteigert, die den Hiatus zwischen beiden Religionen deutlich macht.“ (255) Zu fragen wäre aber zum einen hermeneutisch von Kampling her, ob 1 Thess, 2 nicht doch noch von Röm 9-11 zu retten wäre, ob nicht – bei aller gebotenen wissenschaftlichen Aufrichtigkeit und Unerschrockenheit –  mit Paulus  gegen ihn argumentiert werden könnte, wofür z.B. Mußner u.a. plädieren. Zum andern lässt sich die Rede von „Hiatus“ und „Schisma“ zwischen Judentum und Christentum in diesem Zusammenhang (255) schwerlich aufrecht erhalten, wenn die Studien von Boyarin[3] , aber auch von Schäfer[4]  und Niklas[5]  berücksichtigt werden.  Vielleicht bleibt auch einem unerschrocken um Wahrhaftigkeit bemühten Exegeten  - und Christen überhaupt – dann doch dieser Abgrund eines neutestamentlich bezeugten Schismas erspart.

Bruno Forte, der Erzbischof von Chieti-Vasto, zugleich Vorsitzender der Kommission für Glaubenslehre, Verkündigung und Katechese der Italienischen Bischofskonferenz, vermisst das weite Feld der nachkonziliaren Israeltheologie. Sein „Punto di vista“ ist die Frage nach dem Bund. Erörtert wird, ob sich in einer Ein- Bund-Lehre auch die zu respektierenden Differenzen und das  „das Novum < des christlichen Credo>“ hinreichend klar artikulieren ließen. (269)  Trotz dieser skeptischen Frage plädiert er für eine Ein-Bund-Lehre als „Bundesökonomie“ des „Liebesplan(s)“ Gottes für Sein Volk“. (273) Der „Bund von Golgota“ leugne nicht die anderen Bünde, sondern vollende sie. (273) Dagegen laufe die Gefahr einer Zwei-Bund- Lehre Gefahr, in den Fängen eines Kryptomarcionismus zu bleiben. Methodisch kritisiert er auch die allegorische Exegese als „Aushöhlung des Alten Testaments, und zwar von innen heraus“. (271) Als Möglichkeit, die Inkarnation überhaupt für Juden verständlich zu machen, empfiehlt er, sie über das hebräische dabar für Wort(geschehen) als „fleischgewordenes dabar“ (259) zu deuten. Am spannendsten erscheinen mir seine Vorschläge zur Offenbarungstheologie. Während die deutsche, von Hegel mitbestimme Offenbarung eine völlige undialektische Offenheit suggeriere, sei das lateinische Wort re-velatio viel näher am biblischen Verständnis. Denn in ihm werde „zugleich Verdichtung und das Lüften des Schleiers“ ausgesagt, „das Enthüllen des Verborgenen und das Verhüllen des Offenbaren“ (262).

Peter Ebenbauer fragt, ob und wie die theologischen Revisionen in der Liturgie und den Kirchenliedern angekommen seine. Die Einzelfallproben, die er aus der Liturgie des Kirchenjahres nimmt, werden detailliert untersucht und auch kleine Veränderungen zum Positiven hin vermerkt. So etwa, wenn im neuen Gotteslob von 2013 (dem revidierten Gesang - und Gebetbuch der katholischen Kirche) bei der Karfreitagsliturgie auf eine vollständige Wiedergabe der von ihrer Wirkungsgeschichte her berüchtigten Improperien (Anklagen Gottes an sein Volk angesichts der Kreuzigung seines Sohnes) verzichtet werde. Allerdings wird nicht problematisiert, dass die vollständige Version natürlich weiterhin existiert und ihre Benutzung nicht untersagt ist.  Auch in dem berühmten Hymnus Pange lingua des Thomas von Aquin wurde die alte anstößige und auch oft kritisierte Übersetzung von Marieluise Thurmaier („Das Gesetz der Furcht muss weichen, / da der neue Bund begann…“) ersetzt durch eine neue von Liborius Lumma: „Altes Zeugnis möge weichen, / da der neue Brauch begann…“. (286) Theologisch mag man darin eine Entschärfung ausmachen, doch es sind Texte für Gemeinden, von deren Mitgliedern eine solche Subtilität billigerweise nicht erwartet werden kann. Da eine erneuerte Theologie des Judentums hier so gut wie nicht angekommen ist, wird unter dem „Gesetz der Furcht“ wie  dem „Alten Zeugnis“ nichts anderes als das AT und Judentum verstanden werden können. Gleich bleibt eben auch, dass es „weichen“ muss. Was ist die neue Version anderes als Substitutionstheologie? Vom Interesse an der Aufarbeitung eines gefährlich falschen christlichen Bewusstseins betrachtet, erbringen derart subtile Veränderungen nichts. Die fehlende erneuerte Theologie und Hermeneutik in den Gemeinden relativiert auch leider die Bedeutung des Umstands, dass sich im neuen Gotteslob mehr Texte und Lieder mit alttestamentlichen Motiven finden, worauf Ebenbauer hinweist. Aber im starren Schema Verheißung- Erfüllung bringen sie dennoch nicht den Reichtum des Ersten Testaments zum Aufscheinen. Der Autor wirft leider nicht die Frage auf, ob sich nicht auch die Liturgiewissenschaft an der gewiss für katholisches Bewusstsein schmerzlichen Frage beteiligen muss, ob es neben Fortschreibungen, inclusive dabei immer schon erfolgten Umschreibungen, nach Auschwitz nicht auch Verabschiedungen und Brüche braucht. Wann wenn nicht jetzt sind Veränderungen durchzusetzen? Auch ein Thomas von Aquin ist nicht unfehlbar und war – neben und in seinen genialen Leistungen – selbstverständlich Kind seiner Zeit mitsamt ihren fatalen Irrungen und Wirrungen.

Abschließend zeigt Ebenbauer anhand eines methodistischen Liedes, wie es sein könnte und auch – so darf man die Schlussstellung dieses Beispiels verstehen – katholisch  sein müsste. In einem Preislied auf Gottes Erbarmen habe es geheißen: "Freue dich, Israel (= Kirche), seiner Gnaden!“. Jetzt heiße es stattdessen klar genug: „Freu dich mit Israel seiner Gnaden!“ (291) Sind solche Veränderungen für die katholische Liturgie und ihre Lieder zu viel verlangt? Sind es nicht direkte Explikationen der päpstlich-lehramtlichen Fortschreibung von NA4 im Sinn vom Judentum im "ungekündigten Bund Gottes"?

Regina Pollack "warnt" geradezu vor ihrem Artikel "Achtung: Konkret!", was natürlich eher zur Lektüre animiert als abschreckt. Die Wiener Pastoraltheologin problematisiert die weitgehende Absenz einer erneuerten Theologie des Judentums in ihrer Fachdisziplin und resümiert: "Das Verhältnis zum Judentum ist kein Strukturprinzip der Pastoraltheologie", "bestenfalls" ein "Aspekt"- (297) Sie focussiert sich vor allem auf das Thema Staat Israel, insbesondere die Äußerungen ihres Kollegen Ottmar Fuchs dazu. Seine Grundauffassungen teilt sie,  kritisiert aber seine Ausführungen als perspektivisch zu eingeschränkt und undifferenziert. Ihrer Fachdisziplin angemessen reflektiert sie auch auf studentische Erfahrungen eines Israelbesuchs, um darin deutliche Abwehrhaltungen gegen die Übernahme einer Verantwortung zur Shoaerinnerung in der vierten, also eigenen Generation, zu finden. Dem liege ein Missverständnis von Schuld auch noch und eben in dieser Generation der Enkel und Enkelinnen der Täter zugrunde, das dringend zu bearbeiten sei. Nes Amin als Ort und Projekt einer christlich ermöglichten Begegnung aller in den Konflikt involvierten Menschen in Israel findet nicht nur ihre Wertschätzung; sie sieht darin auch ein  Modell für anstehende Lernprozesse in der Pastoraltheologie. (317) Die aktuelle Aufgabe, so Pollack, sei es, den Kampf gegen den Antisemitismus als theologische Aufgabe zu führen.

Gerade Regina Pollacks Konstatierung der weitgehenden Abwesenheit einer erneuerten Theologie des Judentums in der Pastoraltheologie erscheint m.E. umso fataler, als es die theologische Disziplin ist, deren Publikationen wohl noch am ehesten von Hauptamtlichen der Pastoral gelesen werden. Für die seit langem diskutierte Frage, warum die Vermittlung von erstaunlichen Veränderungen im päpstlichen Lehramt und Teilen der Theologie an die Basis nicht gelingt, dürfte in diesem Umstand eine Antwort vorliegen. Andere blieben zu suchen.

Dass die einzelnen Beiträge an Virulenz und Ansprüchlichkeit variieren, versteht sich von selbst. Diese Rezension, die momentweise schon in die Diskussion eingetreten ist, möchte auch dadurch auf das beachtliche Potential an Themen und Thesen dieses Bandes hinweisen. Ich habe selber dazu gelernt und kann nur sehr wünschen, dass diese in den größeren Diskurs über ein Christentum coram Judaeis aufgenommen werden.

M. Himmelbauer / M. Jäggle / R. A. Siebenrock / W. Treitler (Hg.):

Erneuerung der Kirchen. Perspektiven aus dem christlich-jüdischen Dialog 

(QD 290), Freiburg / Basel / Wien 2018. 325 S.

[1] Rabbinat Council of America , Conference of European Rabbis und Chief Rabbinate of Israel.

[2] Zwischen Jerusalem und Rom. Gedanken zu 50 Jahre Nostra Aetate. (Vollständige wortwörtliche deutsche Fassung), hrsg. vom Rabbinat Israelitische Kultusgemeinde Wien, 9.

[3] Daniel Boyarin, Border Lines.The Partition of Judäo-Christianity, Philadelphia 2004. Deutsch, übersetzt von Gesine Palmer Abgrenzungen. Die Aufspaltung des Judäo-Christentums, Berlin / Dortmund 2009.

[4] Peter Schäfer, Die Geburt des Judentums aus dem Geist des Christentums, Tübingen 2010.

[5] Tobias Niklas, Jews and Christians? Second Century ‘Christian’ Perspectives on the ‘Parting of the Ways’, Tübingen 2014. Vgl. a Andreas Bedenbender (Hg.), Judäo-Christentum. Die gemeinsamen Wurzeln von rabbinischem Judentum und früher Kirche, Paderborn / Leipzig 2012.

Editorische Anmerkungen

Dr. Paul Petzel ist nach Studium der Theologie und Kunst Lehrer an einem Gymnasium in Andernach. Er ist Mitglied im Gesprächskreis "Juden und Christen" beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken (Zdk).

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