Ein Rabbi spricht mit Jesus.
Jacob Neusner, Ein Rabbi spricht mit Jesus. Ein jüdisch-christlicher Dialog. Claudius Verlag, München 1997,174 Seiten.
Beim Evangelisten Markus wurden uns fünf "Galiläische Streitgespräche" und in Parallele dazu fünf "Jerusalemer Streitgespräche" (von denen zumindest eines, Mk 12,28-34, ein Lehrgespräch ist) überliefert. Sie zeigen uns Jesus in Auseinandersetzung mit seinen Gegnern. In der Komposition des Markus lassen sich durchaus antijüdische Tendenzen der frühen (römischen) Gemeinde vermuten. Während der Evangelist Johannes eher "mit Abscheu" von "den Juden" spricht, hat der Evangelist Lukas wohl "keine besondere Verbindung" zu ihnen.
Dies bewegt den Judaisten und ausgebildeten Rabbiner Neusner dazu, sich in einen spannenden, mit intellektueller Redlichkeit geführten Dialog mit Jesus selbst einzulassen, und zwar, wie er sich im Matthäus-Evangelium vor dem Hintergrund der (polemischen) Auseinandersetzung der jungen Kirche mit dem palästinischen Judentum um die "Erfüllung von Gesetz und Propheten" müht.
Doch Jesus kann seinen Dialog-Partner nicht überzeugen, geschweige ihn zum Anhänger gewinnen. So sehr der Tora-Jude auch Jesus-Nähe sucht, ihm mit Respekt begegnet und von ihm fasziniert ist, fordert doch Jesus von seinem Selbstanspruch her seinen entschiedenen Widerspruch heraus. Die Tora kennt eben das unüberbietbare "Wir" von "Volk-Land-Kult", "Dorf und Familie", kurz: was mit dem "Ewigen Israel" umschrieben ist; die Familie Israels sind die Kinder Abrahams und Sarahs, Isaaks und Rebekkas, Jakobs und Leahs und Rahels, von denen er sich nicht ablösen kann. So stört den Tora-Lehrer bei Jesus und seinen Anhängern die Fixierung auf die Person Jesu und den Glauben der Jünger an ihn ("Ich aber sage euch...", "hier ist mehr als der Tempel...").
Das Buch von Neusner gerät somit zu einer spannungsvollen Konfrontation von Dekalog und Bergpredigt.
Tatsächlich führte der o.a. Gegensatz in den späteren dogmatischen Festlegungen der Kirche über die Trinität und das christologische Geheimnis ("wahrer Gott und wahrer Mensch") zum eigentlich Trennenden zwischen Juden und Christen. Das "Höre Israel, der Herr euer Gott ist ein Einziger" vertrug sich unmöglich mit der Festlegung: Jesus ist Gott. Während der jüdische Dialog-Partner sich ? das ganze Buch durchziehend ? Jesus diesbezüglich respektvoll und kritisch fragend offen zeigt, hat sich das Christentum ihm gegenüber später per definitionem verschlossen. Mit anderen Worten: Eher kann ein Christ Jude werden und dem Propheten von Nazareth in individualistischer Interpretation von persönlicher "Vervollkommnung und Erlösung" folgen, als umgekehrt ein Tora-Jude in seiner Perspektive von "Heiligkeit Gottes und Heiligung des Menschen" Christ werden kann, ohne den Öffentlichkeitsanspruch der Tora vergewaltigen zu müssen.
So ist und bleibt das Ziel des Buches, "Christen zu besseren Christen zu machen" bzw. Juden einzuladen, "bessere Juden werden zu können" (S.9). Für das Kommen des Himmelreiches sind beide gemeinsam offen. Wenn die Unterschiede zwischen beiden im Dialog deutlich zur Sprache kommen (wie es in diesem Buch geschieht), wird gerade dadurch in Wahrheit und Liebe der Weg zu interreligiösem Frieden geebnet, noch mehr: zu beidseitig tieferer und praktizierter Gottesverehrung und Heiligung im "Hier und Jetzt."