Dazu gehörte eine festliche Abendmahlzeit mit den besonderen Speisen: den drei Mazzen, dem Ei, dem Knochen mit einem Stück Fleisch, dem Maror als geriebenen Meerrettich, dem Karpas, der Schale mit Salzwasser, dem süßen Brei aus Nüssen und Rosinen, den vier Bechern Wein und dem Wein für den Propheten Elia. Mit den seltsamen und merkwürdigen Speisen und der Frage an die Kinder, … Na nischtana … „Warum unterscheidet sich diese Nacht von anderen Nächten?“ wird die Erzählung vom Auszug aus Ägypten auf den Weg gebracht.
Von den mehr als 1000 Haggada-Drucken und –Handschriften die im Verlauf ihrer mehrtausendjährigen Geschichte gefertigt wurden, zum Teil mit höchsten künstlerischen Ansprüchen, sind etwa 200 illustriert. Die volkstümliche, glaubensstarke und mit Wundergeschichten durchsetzte Erzählung leitet nicht weniger als das Fest der Feste ein, das Fest der Befreiung, der einstigen und künftigen Erlösung des Volkes Israel.
Vor allem die Ausgestaltung der Haggada selbst begleitet jede Veränderung im Geschick des jüdischen Volkes. Nirgendwo wird dies dramatisch einsehbarer als in den Haggadot , die seit der Machtübernahme der Nazis in Deutschland 1933, während der folgenden Jahre der Verfolgung und Vernichtung der Juden in Europa und weltweit, entstanden sind.
Eine im Jahr 1943 in Rabat erschienene Haggada stellt beispielsweise den Versuch einer bizarren Parodie und Satire gegen den Nationalsozialismus dar. Sie trug den Titel „Hitlers Haggada“. Schon 1947 entstand in Israel eine Haggada mit Gedichten des in Auschwitz ermordeten Yizhak Katzelson. Weitere entstanden in den Lagern der sogenannten „displaced persons“ sowie eine große Anzahl in den verschiedensten Kibbuzim. Schließlich entstanden auch eine Reihe von Pessach-Haggadot in Erinnerung an den Holocaust (vgl. Christoph Münz, Der Welt ein Gedächtnis geben, Gütersloh 1995, S. 410) u.a. von dem Holocaust-Überlebenden Yosef Dov Sheinson kurz nach Kriegsende in München.
Die inzwischen bekannteste und wohl auch bedeutendste ist die Wolloch-Haggada, die unter den zahlreichen literarischen und künstlerischen Versuchen sich dem Holocaust zu nähern, einen herausragenden Rang einnimmt.
1981 erteilte der gebürtige Lemberger Sygfryd Wolloch, wie seine Ehefrau Holocaust-Überlebende, den Auftrag, zum Gedenken an die von den Nazis ermordeten Eltern eine Pessach-Haggada zu gestalten. Mit der Ausführung der Arbeiten beauftragte Wolloch den damals noch jungen Künstler David Wander und den etwa gleichaltrigen Torarollenschreiber Yonah Weinrib, dem die Aufgabe zufiel, die Fließtexte künstlerisch und kalligraphisch in gemäße Form zu bringen.
Einzige Bedingung sollte sein, der Ausgestaltung des Erzählbuches für die häusliche Pessach-Feier den traditionellen hebräischen Text zugrunde zu legen. Das Ergebnis ihrer Arbeit wurde zunächst 1985 in einer limitierten Auflage für Yad Vashem in Jerusalem gedruckt, die dann später durch eine reguläre Publikation einem weiteren Kreis zugänglich gemacht wurde.
Und dieses Ergebnis ist ebenso erstaulich wie überraschend. Einen einzigartigen Mikrokosmos haben die Arbeiten von Wander und Weinrib geschaffen. Schon mit der einleitenden Darstellung der Sederschüssel ist ein überaus bemerkenswerter „Kunstgriff“ gelungen. Neben den traditionellen Elementen der Sederschüssel findet sich auf der rechten Sternseite ein ganzes Schaf, mit geschorenem, blutigrotem rechten Hinterbein, als Verbotszeichen. Vermeintlich bekannte Elemente erweisen sich als Teil von Verbrennungsöfen, der übliche Rettich erweist sich als Dornengestrüpp, die unschuldig daherkommende Mazza spielt auf die Häftlingskleidung an. Der die Sederschüssel füllende Stern ist der „Judenstern“, der in aller Vorsicht die israelische Flagge andeutet.
Es ist gut, gut dass Rabbiner Chaim Rozawaski und - ausführlicher noch - Peter von der Osten-Sacken, die Haggada mit Erläuterungen zu Texten und Bildern versehen haben, denn so manche dezente oder zarte Andeutung, auch in der Symbolsprache, wäre möglicherweise unbeachtet geblieben, z. B. Feder, Kerze und Holzlöffel, als traditionelle Mittel der rituellen Durchsuchung des Hauses nach Gesäuerten. Wie ein Gleichnis auf das Gesäuerte wirken der erniedrigende Häftlingsanzug und das „versteckte Hab und Gut“, das den Nachbarn anvertraut oder versteckt war, in Form von kleinen Paketen.
Besonders bewegend auch Wanders Blatt über die Koffer der Häftlinge, die pyramidenähnlich aufgehäuft wurden und die zugleicht einen Eindruck von Ziegelmauerwerk geben, um damit die Fronarbeit anzudeuten, die die Kinder Israels verrichten mussten.
Auch das „Rote Meer“ ist in einmaliger Art und Weise thematisiert. Es erscheint hier als Ort der Vernichtung, nicht der Rettung. Blitze gehen über einem wogenden Meer aus Blut nieder, in dem die Pyramiden versinken. Sie sind aus Ziegelsteinen gebaut, wie sie die Kinder Israel in Ägypten streichen mussten und wie sie in den Öfen der KZs wiederkehren.
Und immer ist es die Haggada, die Wander zu bildmächtigen, manchmal beklemmenden Tableaus animiert, etwa in seinem „Elia-Becher“. Der mit rotem Wein gefüllte Becher des Elia steht vor dem leeren, festlichen Stuhl, der für den Propheten bereitbestellt ist. Der Becher steht für Glaube und Hoffnung des verfolgten Israel. Durch die für den Propheten geöffnete Tür, deren Rahmen blutverschmiert ist, erkennte man die Silhouette eines brennenden Ortes. Das Zimmer selbst ist verwüstet. Brennende, auf den Boden geworfene und durch die Luft wirbelnde Bücher bezeugen, wes Geistes Kind die Verwüster sind. Die Szene spielt nicht zuletzt auf das Leid und Unrecht an, das Juden im Laufe der Geschichte besonders oft in der Passa- und Osterwoche zugefügt worden ist.
Oder die kleine Miniatur mit den Gesetzestafeln und dem Sternenzelt und dem verlassenen Bett, die auf das Lied „Er war inmitten der Nacht“ anspielt. Im Verlauf von vielen Mitternächten, die alle auf Vernichtung aus waren, gab es noch eine Nacht des Trostes und der Hoffnung, und wird es einen Tag der Erlösung geben.
Überraschend neu findet sich bei Wander auch die Tafel „ohne Titel“, die das Motiv des Judensterns aufgreift. Auf dem Bild geschieht dies in unverkennbarem Rückbezug auf die Illustrationen der Sederschüssel; historisch führt es in die Zeit der Verfolgung vor den Deportationen zurück, als die Juden durch den gelben Stern ausgegrenzt wurden. Das zweite Element erinnert mit der Häftlingskleidung an die Erniedrigung in den KZs. Das dritte Element nimmt das Motiv der Fahne des Staates Israel auf und weist damit in die Zeit nach der Befreiung.
Natürlich durfte auch das alt bekannte Motiv vom „Zicklein“ nicht fehlen, und wer würde sich wundern, wenn David Wander ihm nicht neue Inhalte beigegeben hätte: Das Messer für den Schlachter, die Hand für den Todesengel, Blitze für Gottes Gerichtshandeln, die Gesetzestafeln an zentraler Stelle, und die Ersetzung des Wassers durch eine Blutlache, die von herabregnenden Tropfen gebildet wird.
Und dann, nach über 40 Blättern und Tafeln, schreibt David Wander die Noten von „Unser Stetl brennt“ und schafft eine erneut überraschende Illustration einer in Flammen stehenden Holzsynagoge, wie sie für das osteuropäische Judentum typisch war. Die das Bild dominierenden Rauchwolke erinnern an den Rauch aus den Schloten der KZ-Krematorien. Der brennende Davidstern ruft nach Wander zum Widerstand auf.
Schließlich schenkt Wander der Haggada eine Graphik zur Veranschaulichung des „Partisanenlieds“. Die Darstellung wird vom Element Feuer beherrscht. Auf den ersten Blick scheint es, als würde ein kahler und trockener Baum gezeigt, doch bei näherem Hinsehen wandelt sich das Bild: Sieben Licht speiende Flammenbündel steigen von dem brennenden Baum in die Höhe und geben ihm die Form eines siebenarmigen Leuchters. Nicht der dürre Baum, nicht das Feuer, nicht die Zerstörung hat das letzte Wort, sondern die dennoch gegebene Gewissheit und Hoffnung für das jüdische Volk, symbolisiert durch die lichtvolle Menora.
Mit der Wolloch-Haggada ist es David Wander auf einzigartige Weise gelungen, sowohl die Unterdrückung und Verfolgung, als auch die Befreiung des jüdischen Volkes in Ägypten deutlich zu machen und gleichzeitig seine Erfahrung von Vernichtung in den KZs und sein Wiederauferstehen im Staat Israel zu zeigen.
Seine Haggada knüpft damit an die wesentlichen Elemente an, die eine jüdische Existenz nach dem Holocaust erst möglich gemacht haben: die „gebietende Stimme für das Leben“, den jüdischen Widerstand und die Wiedererrichtung des Staates Israel.
Zwar sollte Bedingung für die Ausgestaltung des Erzählbuches sein, dass lediglich der traditionelle Text zugrunde gelegt wird, aber dieses Ziel ist durch die knappen Kommentare von Yonah Weinrib zu einzelnen Abbildungen keineswegs verfehlt worden, im Gegenteil: die unterstützenden Texte sind in jeder Beziehung hilfreich, unabhängig davon, ob der Auszug Israels aus Ägypten mit interessanten Details angereichert oder ein Faktum von Verfolgung und Widerstand referiert wird.
Die deutsche Übersetzung der Haggada hatte seinerzeit der Orientalist und Rabbiner David Cassel (1818 -1893) gestaltet. Ein Begleitheft von Peter von der Osten-Sacken lieferte Eckdaten zu Passafest und Sederabend und Rabbiner Chaim Z. Rozwaski gab Erläuterungen zu den Bildern und Texten. Wie von Rabbiner Rozwaski betont wird, bilden die knappen deutenden Passagen ein besonderes Kennzeichen des Begleitheftes und haben zu einem nennenswerten Teil in einem längerem Austausch mit David Wander Gestalt gefunden.
Höchst produktiv war besonders die intensive Befassung Peter von der Osten-Sackens mit Abbildungen der Haggada, denn viele Details der Arbeiten Wanders werden erst nach der Lektüre der Erläuterungen von der Osten-Sackens deutlich bzw. von dem weniger künstlerisch geschulten Auge überhaupt erkannt. Insoweit bietet das Begleitheft einen nicht zu unterschätzenden Gewinn.
Peter von der Osten-Sacken und Rabbiner Chaim Z. Rozwaski betonen, dass das Begleitheft so angelegt sei, dass es die Wolloch-Haggada auch jenen erschließen helfe, die nicht mit dem Ritus des Passa-Abends und mit dem Text der traditionellen Haggada vertraut sind. So sind nicht nur Jüdinnen und Juden, sondern auch Christinnen und Christen und andere Interessierte angesprochen. Hebräischkenntnisse sind zum Verständnis der Haggada nicht erforderlich.
Wie die beiden Herausgeber, von der Osten-Sacken und Rabbiner Rozwaski hervorheben, ist die Haggada mit den übersetzten Texten und Graphiken eine „unerschöpfliche Quelle der Meditation über das Volk Israel in Vergangenheit und Gegenwart und eine Hilfe zur Begegnung mit seiner Geschichte in Deutschland, Europa und nicht zuletzt in Israel im 20. Jahrhundert“.
Peter von der Osten-Sacken, dem Berliner Bibelwissenschaftler und ehemaligen Leiter des Instituts Kirche und Judentum, sowie Rabbiner Chaim Rozwaski ist es zu danken, dass mit der Wolloch-Hagada nach dem Erstdruck 1985 endlich eine „Passa-Haggada zum Gedenken an den Holocaust“ in einer deutschsprachigen Edition vorliegt.

Die Wolloch Haggada
Passa-Haggada zum Gedenken an den Holocaust
Künstlerische Gestaltung und Einleitung von David Wander
Kalligrafie und Mikrografie von Yonah Weinreb
Herausgegeben von Peter von der Osten-Sacken und Chaim Z. Rozwaski
Mit Erläuterungen und einem Begleitheft
Verlag Institut Kirche und Judentum, Berlin 2010
Hebr./dt. Text, 119 Seiten, 46 farb. Abb.,
Fadenheftung, Hardcover; Begleitheft 41 S.
23,80 € inkl. Mehrwertsteuer
ISBN 978-3-923095-98-8



