Die Menschen lügen.  Alle.
Die Psalmen von Arnold Stadler

Arnold Stadler, “Die Menschen lügen. Alle“ und andere Psalmen. Insel Verlag, Frankfurt/Main 2004. 18,80 EUR.

Die Menschen lügen. Alle.

Die Psalmen von Arnold Stadler

Mir verschlug es die Sprache, als ich erfahren mußte: die Menschen lügen. Alle. Der Vers aus dem 116. Psalm hat der ganzen Sammlung den Titel gegeben. Der Vers aus dem 116. Psalm hat der ganzen Sammlung den Titel gegeben.

Dies Buch möchte ich Ihnen ans Herz legen. Nun gibt es in der deutschen Literatur keinen Text, der häufiger und genauer übersetzt worden wäre als die Psalmen. Wozu also eine weitere Psalmenübersetzung? Noch dazu in einer Sprache, deren Stil- und Übersetzungskultur sich von Notker, dem im Jahre 1022 gestorbenen Lehrer der Klosterschule von St. Gallen, über Martin Luther, Moses Mendelssohn und Johann Gottfried Herder bis zu Martin Buber, Bertolt Brecht, Romano Guardini, Paul Celan und noch Kurt Marti, an der Geschichte dieser Übersetzungen und Nachdichtungen beschreiben ließe!

Aber die Psalmenübertragung Arnold Stadlers ist weit mehr als eine weitere, neue Übersetzung. Er hat die alten Texte nicht nochmals mit philologischem Ehrgeiz übersetzt, sondern, orientiert an der hebräischen Vorlage, ein Drittel davon in eine Sprache übertragen, die keine kanonische Geltung beansprucht: die Sprache unserer Alltagserfahrung. Das gibt seinen Psalmen ihren ursprünglichen Atem, ihre wohl einmal vorhandene Individualität zurück, die durch den so sehr vertrauten liturgischen Gebrauch und die Last der Tradition oft verdeckt worden sind. Arnold Stadlers Psalmen taugen als Basis einer neuen Spiritualität.

Der Psalm 90 spricht von der schmerzhaften Vergänglichkeit des Lebens und von der Ahnung des Ewigen inmitten der enteilenden Zeit. Er ist sicher eines der schönsten Lieder und durch Luthers Übersetzung auch dasjenige Lied des Psalters, das tief in die deutsche Segenssprache eingewurzelt ist: Herr, du bist unsere Zuflucht für und für...

Bei Martin Luther klingt es vertraut so:

Das macht dein Zorn, dass wir so vergehen,

und dein Grimm, dass wir so plötzlich dahin müssen.

Denn unsre Missetaten stellst du vor dich,

unsre unerkannte Sünde ins Licht vor deinem Angesicht.

Darum fahren alle unsere Tage dahin durch deinen Zorn;

wir bringen unsre Jahre zu wie ein Geschwätz.

Unser Leben währet siebzig Jahre,

und wenn"s hoch kommt, so sind"s achtzig Jahre,

und wenn"s köstlich gewesen ist,

so ist"s Mühe und Arbeit gewesen;

denn es fähret schnell dahin,

als flögen wir davon.

Wer glaubt aber, dass du so sehr zürnest,

und wer fürchtet sich vor dir in deinem Grimm? Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen,

auf dass wir klug werden.

In Arnold Stadlers Übertragung lauten diese Verse:

So vergehen wir vor dir,

werden in deiner Gegenwart zu nichts.

Du siehst unsere Vergänglichkeit im Licht deiner Unvergänglichkeit.

Alle unsere Tage gehen vor dir dahin.

Unsere Zeit hauchen wir aus wie ein Aufstöhnen, das ist alles.

Unser Leben dauert vielleicht siebzig

Jahre, wenn es hoch kommt, sind es achtzig.

Noch das Schönste daran ist

nichts als Schmerz.

Das Leben ist kurz und schmerzlich.

Einmal das Dorf hinauf und hinunter:

So sind wir unterwegs.

Wer kennt deine Gewalt?

Wer hat Angst vor dir?

Lehre uns unsere Tage zu zählen,

daraus werden wir gescheit

und unser Herz wird weise.

EINMAL DAS DORF HINAUF UND HINUNTER

Der 10. Vers dieses Psalms, jenes lutherische unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn"s hoch kommt, so sind"s achtzig Jahre , ist unschwer auch in der Übertragung durch Arnold Stadler erkennbar. Die sprichwörtlich gewordenen Verse hat er im Kern beibehalten. Dann aber folgt die aus eigener Erfahrung gewonnene Beschreibung des kurzen Lebensweges, und sie ist nicht weniger eindrücklich als Luthers Halbvers: Einmal das Dorf hinauf und hinunter: So sind wir unterwegs.

Arnold Stadler hat mehrfach in seinen Reden und Essays davon berichtet, dass er dieses Bild aus mündlicher Überlieferung kenne, dass es tief im Bewusstsein der Menschen seiner Heimat verwurzelt war: Ich hörte von einer Frau im Dorf, dass ihr Großvater kurz vor seinem Tod um 1900 gesagt habe, dass das Leben trotz allem kurz gewesen sei, so kurz wie einmal das Dorf hinauf und hinunter.

Durch solche Versatzstücke, anachronistisch eingesetzt, stellt Stadler Zeittiefe her für eine erinnerungslose Gegenwart und belegt zugleich im Kontext des 90. Psalms die in Jahrtausenden immer gleiche Tiefe der Empörung und der Trauer um das Skandalon des Todes. Entsprechend heißt es im 30. Psalm:

Du hast meine Klage in ein Lied verwandelt.

Du hast mit die schwarzen Kleider ausgezogen.

Schon im Urtext sind die über Jahrhunderte hin entstandenen Psalmen vom Atem des Lebens erfüllt, von Verzweiflung und Freude, von Klage und Lobpreis. Dass Arnold Stadler ihnen diesen Atem nicht ausgetrieben hat, sondern sie mit seiner Freude und seiner Verzweiflung, mit dem Atem eines heutigen und jedes heutigen Lebens erfüllt hat, das ist seine Übertragungsleistung. Die Psalmen, sagt er, orientieren sich am Herzen eines aufgewühlten oder begeisterten, enthusiastischen oder deprimierten, hilflosen oder dankbaren, immer aber: Menschen, der nach Worten sucht und sie (meist) findet. Stadlers Übertragung der Psalmen sind nicht wortgetreu, nicht geglättet und nicht harmonisch, nicht ‚liturgisch", sondern der Situation ihrer Entstehung nahe. Sie haben einen ganz eigenen Ton. Die Brüche, die Pausen, die Widersprüche sind nicht nur in der Intonation, sondern auch in der Sprache betont. An mancher Stelle, sagt Arnold Stadler über seine Vorlage, vernehme ich noch den schnellen Atem, die Atemlosigkeit, die Empörung und den Schmerz dessen, der da spricht, nein: schreit.

Die Sprachbrüche beziehen die Glaubens-, Meditations- und Übersetzungsgeschichte der Psalmen mit ein. Seit Johann Gottfried Herders Schrift Vom Geist der ebräischen Poesie (1782) ist diese Lyrik als der Wurzelgrund der deutschen Literatursprache benannt und die Aneignungsgeschichte der Psalmen spiegelt, wie sich eine ebenso vielfach gebrochene und mit sich selbst im Streit liegende, europäische Identität aus jüdischen, antiken und christlichen Wurzeln herausgebildet hat.

O, HERR, hilf! O, HERR, lass wohlgelingen!

Gesegnet sei, der kommt im Namen des HERRN!

heißt es in Psalm 118. Bei Stadler aber ist zu lesen:

Herr, hilf doch! Ach, Herr, lass es doch gut gehen! Benedictus qui venit in nomine Domini!

Der geläufige lateinische Vers mitten im deutschen Text erzählt die Geschichte der lebensvollen und spannungsreichen und gelegentlich auch gewaltsamen christlich-christologischen Deutung der Psalmen. Vor den Fluchpsalmen, meint Arnold Stadler, versagten christliche Heimholungsversuche ohnehin.

...DANN BIN ICH UM DEN SCHLAF GEBRACHT

Doch unmittelbar neben solch plastischen Reminiszenzen des Autors an seine Jugendzeit, als er in der Messe diente, finden sich sogar Bildungszitate, die er mit neuem Leben erfüllt.

Ich denke an Gott - und bin betrübt;

ich sinne nach - und mein Herz ist in Ängsten

heißt es in Psalm 77. Bei Arnold Stadler lautet dieser 4. Vers:

Denk ich an Gott bei Nacht,

dann bin ich um den Schlaf gebracht!1

Meine Seele will verzweifeln.

Nicht ohne provozierende Absicht ist Heinrich Heines berühmtes Wort aus den im Exil entstandenen Nachtgedanken dem Psalmtext einmontiert, wobei eine doppelte Quellenbrechung entsteht, weil Heines Gedicht ohne den von ferne anklingenden Psalm kaum zu denken ist:

Denk ich an Deutschland in der Nacht,

Dann bin ich um den Schlaf gebracht.

Ich kann nicht mehr die Augen schließen,

und meine heißen Tränen fließen.

In einem einzigen Vers, dessen Wortlaut vom Urtext so weit nicht abweicht, ist die ganze Geschichte der jüdischen Assimilation in Deutschland aufgerufen, die schließlich mit Moses Mendelssohns Psalmenübersetzung 1783 begonnen hat. Sie suchte den Gebildeten unter den Deutschen die Schönheit hebräischer Poesie zu belegen, Aufklärung und Vernunft dieser Verse. Ich denk an Gott und bin betrübt, übersetzt Mendelssohn. Ich sinne nach, verschmachte.

Doch nicht Mendelssohn wird von Arnold Stadler zitiert, sondern Heinrich Heine und damit das prototypische Schicksal des Dichters im Land der Zerrissenen, der Fachmenschen, der Barbaren, das, schon von Hölderlin beschriebene Schicksal der fühlenden Seele im Land der kalten Herzen:

Seit ich das Land verlassen hab,

So viele sanken dort ins Grab,

Die ich geliebt - wenn ich sie zähle,

So will verbluten meine Seele.2

Mir scheint, dass Arnold Stadler, der als Symbol zerstörter Landschaft so oft den verwüsteten Heimatfriedhof beschrieben hat, bei der Übertragung von Psalm 77 auch an diese Strophe eines Dichters gedacht hat, der die Entterritorialisierung des Heimatbegriffes auf die Formel vom portativen Vaterland gebracht hat. Ein portatives, ein tragbares Vaterland hat Heine die Tora genannt und damit exemplarisch für die durch die Zeiten hin zu Tausenden aus ihren Vaterländern vertriebenen und verbannten Menschen und Völker und Dichter die Grenzen zwischen Heimat und Fremde in einem anderen als dem geografischen Raum gezogen.

Neben Zitatbewahrung und Zitatentstellung, den von ihm souverän angewandten Methoden moderner Poesie, sind Anschaulichkeit und Plastizität jene Merkmale von Stadlers Übertragung, die sie unserem Zeitgefühl nahe bringen. Die Stimme dieses Psalmisten ruft nicht aus der Tiefe zum Herrn, sie schreit von ganz unten (Psalm 130). Nicht aus den Ängsten der Unterwelt ruft da ein Mensch, der in Todesangst gefangen liegt, um Errettung:

Ich saß im Dreck.

Da schrie ich zu Gott.

,Rette mich!, schrie ich.(Psalm 116)

Die vielfältigen Anklänge an die Alltagssprache unserer Gegenwart gehören zu dieser Anschaulichkeit, etwa im Psalm 31:

Herr,

hilf noch einmal, denn

es ist wieder eng geworden.

Schon sehe ich mich zerfallen:

Auge, Seele und Leib.

Mein Leben ist ein einziger Schmerz.

Meine Zeit verrinnt als Klagelied....

Nun können sie alle über mich lachen!

Eine Witzfigur für die Nachbarn,

ein Schreckgespenst für die Freunde,

eine Vogelscheuche;

wer mich zu sehen bekommt,

fliegt davon.

Man hat mich gnadenlos vergessen.

Aus Liebe zu dieser Welt stockt in den Psalmen der Unheilston und wandelt sich jäh in Hoffnung und Dank.

Nicht eine Ewigkeit lang eine Wut haben

auf uns wird er. (Psalm 103)

Und dann:

Ich will meinem Gott singen mein Leben lang.

Spielen ihm, solange ich da bin.

Möge ihm mein Dichten gefallen.

Ich freue mich an meinem Gott. (Psalm 104).

In den Psalmen, auch in der Übertragung Arnold Stadlers, bleibt die Hoffnung, jetzt schon behütet und gerettet zu werden von einem Herrn und Gott, der so gut wie der Himmel weit ist und treu bis zu den Wolken (Psalm 108).

Zweierlei will ich noch anmerken:

Einige Gedanken und Formulierungen für diesen Beitrag verdanke ich der Laudatio von Wolfgang Frühwald, die er aus Anlass der Verleihung des Stefan-Andres-Preises an Arnold Stadler gehalten hat. Ich habe sie im Einzelnen nicht markiert, weil ich Ihnen die Psalmen von Arnold Stadler unverstellt von Fußnoten ans Herz legen möchte.

Das Buch steht seit fünf Jahren auf meinem Schreibtisch, weil ein Christenmensch auch beim Briefschreiben ab und an Psalmen braucht. Auch dafür erweisen sich Stadlers Psalmenübertragungen als ein Schatz - vertraut und neu zugleich.

Arnold Stadler, "Die Menschen lügen. Alle" und andere Psalmen. Insel Verlag, Frankfurt/Main 2004. 18,80 EUR.

ANMERKUNGEN
  1. Diese beiden Zeilen sind bei Stadler im Druck durch Kursivschrift als Zitat kenntlich gemacht
  2. Heinrich Heine, Sämtliche Werke. Band 1 Gedichte. München 1972, 332f

Editorische Anmerkungen

QUELLE: Begegnungen. Zeitschrift für Kirche und Judentum. Heft 4, 2004.

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