Die Juden im Koran

Das ist nicht nur ein Fachbuch, sondern gleichzeitig ein sehr persönliches Buch, das der bekannte liberale Islamwissenschaftler und Religionspädagoge Dr. Abdel- Hakim Ourghi hier vorlegt; es ist zudem ein Diskurs- Buch, das zu einem heiklen Thema viel Gesprächsstoff bietet. Das Buch wurde gleich bei seinem Erscheinen Mitte Mai 23 medial wahrgenommen; zahlreiche Rezensionen und Interviews erschienen in Tages- und Wochenzeitungen, darunter in der Jüdischen Allgemeinen.

Hakim Ourghi lehrt Islamische Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg (im gemeinsamen Institut mit Evangelischer und Katholischer Theologie) und hat wegen seiner liberalen Positionen seit Jahren Schwierigkeiten mit der Stiftung Sunnitischer Schulrat Baden-Württemberg, die ihm die offizielle Lehrerlaubnis verweigern will.

Auslöser für das Buch war Ourghis persönliche Erfahrung, dass er als algerischer Muslim mit Judenfeindschaft und Antisemitismus aufgewachsen ist, mit einem Zerrbild des Judentums, wie er schreibt. Dies hat er jahrelang, und nicht zuletzt durch seine Tätigkeit als akademischer Lehrer (und seine Erfahrungen mit dem Thema im betreuten Schulpraktikum, vgl. S. 24), aufgearbeitet und nun auch islamwissenschaftlich analysiert. Geholfen haben ihm dabei seine guten Kontakte zum Judentum, beispielsweise zur Jüdischen Gemeinde in Freiburg, wo er gerngesehener Gesprächspartner ist. Ourghis Buch ist engagiert, an manchen Stellen kontrapunktisch zugespitzt, aber fachlich fundiert und gut lesbar.

Kulturanthropologisch unterstützt er den Ansatz der Erinnerungskultur, wie sie alt-quranisch auch die Sunna fordert (Koran 51:55). Eine Erinnerungskultur unverfälschter und kritisch rezipierter Inhalte gehört zu den Voraussetzungen des Dialoges im Verhältnis Juden– Christen – Muslims. Darum macht er in einem ersten Durchgang deutlich, was immer noch oder erst recht falsch oder verharmlosend oder bequem sich selbstbestätigend erinnert wird, und was pathologische Züge annehmen kann (auf allen Seiten), um eine ideologisierende Erinnerungskultur zu generieren, die sich an Feindbildern profiliert. Damit klagt Ourghi manche Züge muslimischer Erinnerungskultur an, »die nur an die guten Seiten des historischen Islam erinnert und Unangenehmes verdrängen will« (S. 29).

Gleiches gilt umgekehrt von gut gemeinten islamfreundlichen Untersuchungen westlicher Prägung. Gegenüber den Thesen, dass der Antisemitismus von den Europäern mit Napoleon und später über ihre Kolonialgewalt in die islamische Welt exportiert und vom Nahost- Konflikt verstärkt wurde, oder dass der Antijudaismus über die Kreuzzüge an die arabische Welt vermittelt wurde, hält Ourghi fest: »Das vorliegende Buch vertritt die Meinung des eigenständigen Antijudaismus und des Judenhasses in der islamischen Kultur, der unter anderem durch den Nahost-Konflikt verstärkt und aufrechterhalten wird.« (S. 55) Mit Bensoussan kritisiert er das liebgewordene Bild vom toleranten Andalusien (eine Legende). Er setzt sich u. a. mit dem Altmeister Bernard Lewis auseinander und kritisiert Khorchides Barmherzigkeitsprogramm im Hinblick auf das Judentum im frühen Islam.

Dabei kennt Ourghi natürlich den islamistischen Antisemitismus der Neuzeit. Aber für ihn wurzelt islamischer Judenhass bereits im Koran und in der Frühgeschichte des Islam »und ist von der Rolle des Propheten als politischer Herrscher nicht zu trennen« (S. 65). Ourghi sondiert sorgfältig den Befund im Koran selbst und widmet sich der historischen Problematik der Kriegsereignisse unter Muhammads Führung. Mit T. Nagel u. a. räumt er das gängige Vorurteil beiseite, diese Kriege seien allesamt Verteidigungskriege gegen die Mekkaner gewesen. Allerdings fehlt es diesem Abschnitt angesichts der historisch schwierigen Quellenlage an Tiefe und in der Auseinandersetzung mit Khorchide (hier S. 79ff im Hinblick auf dessen Buch Gottes falsche Anwälte. Der Verrat am Islam, Freiburg 2020) wird nicht genügend berücksichtigt, dass dieser einen ganz anderen Ansatz verfolgt.

Ourghis Übersetzung von Dschihad an einigen Stellen mit Heiliger Krieg ab der medinensischen Periode halte ich für fragwürdig, da ideologisch belastet: Kein Krieg ist heilig. Die m. E. richtige und bessere Definition bringt Ourghi auf S. 87 als Bemühung und Kampf »auf dem Weg Gottes« (fi sabil allah) oder einfach: der »militärische Dschihad« (S. 94). Tatsächlich ist hier das kämpferische Gottesbild involviert, und das ist ein theologisches Problem. Wie auch sonst in seinen Arbeiten unterscheidet Ourghi streng zwischen mekkanischer (Dialog-Bereitschaft) und medinensischer (Innen- Dschihad gegen Mekkaner und Juden) Periode. Eine dritte Etappe ist dann der Außendschihad im Rahmen militärischer Expansion ab 630.

»Ab 624 zieht sich das Phänomen der Gewalt durch die ganze Frühgeschichte des Islam … Ab dieser Epoche beginnt die Macht des Schwertes Oberhand zu gewinnen. « (S. 93) Ourghi sieht gerade in Khorchide einen modernen Vertreter dieser im Islam lang geübten Praxis, die Geschichte des Islam pauschalisierend zu entschärfen und hinsichtlich der Gewalt zu relativieren, ja umzuschreiben. Ourghi spricht von Umkodierung.

Es ist bezeichnend für Ourghi, dass er solche Groß- Tendenzen wahrnimmt, anzeigt und als hermeneutisches Problem markiert. Allerdings sollte er dies auch in der anderen Richtung ausführen. Die Diskussion um Krieg und Gewalt im frühen Islam wird in aktuellen Veröffentlichungen von hermeneutischen Vorentscheidungen beeinträchtigt. In beiden Fällen entstehen einseitige Bilder vom Islam, die polemisch fortwirken, denn die Ursprünge der Frühzeit werden als formativ prägend angesehen. Dennoch wirkt die Profilierung seiner Thesen ausgerechnet am um Ausgleich bemühten Münsteraner Religionspädagogen Khorchide (S. 79 – 101) konstruiert und führt zu kämpferischen Fehlschlüssen, die seine sachlichen Argumente schwächen (»somit ist seine (Khorchides) Position nicht von den Vertretern des politisch-konservativen Islam zu unterscheiden «, S. 99).

Auch Khorchide will auf allen Gebieten die Reform des Islam vorantreiben und bestimmt kann man sich auf seine These einigen, dass »Gottesdienst Dienst an Seiner Schöpfung ist – der Mensch als Hand der Liebe Gottes« (Khorchide a.a.O. S. 218). Dennoch bleibt es spannend, mit Ourghis radikalerem Ansatz Khochides menschenfreundliche Entdeckungen an der koranischen Botschaft gegenzulesen. Das gilt auch für einzelne Positionen, wie zum Beispiel die Analyse des Dschihad. Dass sein Buch von Gegnern wie Freunden des Islam und von Strömungen innerhalb der muslimischen Community selbst instrumentalisiert werden könnte, ist Ourghi als Rezeptionsproblem bewusst. Umso verdienstvoller, dass er zum ersten Mal mutig eine breit angelegte Gegenerinnerung, »eine komplementierende Gegengeschichte gegenüber der offiziellen islamischen Geschichtsschreibung«, vorlegt (S. 44). Angelika Neuwirth hat Recht, wenn sie von Koranforschung als einer »politischen Philologie« spricht (Berlin 2014).

Nach diesen wichtigen Rahmungen widmet sich Ourghi in der Folge konsequent geschichtlichen Einzelaspekten, die in der öffentlichen Diskussion bislang wenig oder nur eingeschränkt bekannt sind: Im historischen Exkurs beschreibt er fundiert und im Gespräch mit den einschlägigen Forschungspositionen die Geschichte der Juden auf der arabischen Halbinsel seit der vorislamischen Zeit. Heute wissen wir, dass das arabische Judentum eine essenzielle Rolle bei der Entwicklung der Lehren des Islam spielte. (S. 103 –121)

Ein zentrales Kapitel befasst sich mit den Juden im Koran. Hier stellt Ourghi sowohl den Dialog mit den Juden (S. 136ff.) als auch den späteren Antijudaismus des Korans vor, dessen kritische Verse er in einem Sündenkatalog über die Juden zusammenfasst (S. 144ff.; Hans Küng sprach an anderer Stelle vom Lasterkatalog Gottes im Alten Testament, und der größere religionswissenschaftliche Rahmen wäre: Wie gehen wir mit aggressiven, inhumanen Texten in unseren heiligen Schriften um?). Schwerpunkt bildet die religiöse Verurteilung der Juden als Frevler an Gottes Gebot und Auftrag aus der Position des koranischen Absolutheits-Anspruches. Gott straft sie mit Erniedrigung und Verelendung (Koran 2:61). Aber auch antike Figuren einer grundsätzlichen Judendiskriminierung sind häufig (Lügen, Falschheit, Geldgier…). Doch hätte hier Ourghi nachfragen müssen, inwiefern die antike Judäophobie als Muster des Fremdenhasses seit dem Hellenismus von der koranischen Welt aufgegriffen wurde (Peter Schäfer u. a.). Eine vorkritische Koran-Auslegung wird die aggressiven antijüdischen Koranstellen als zeitlose, göttlich legitimierte Verhältnisbestimmung Juden-Muslime weiter transportieren und auf ihre Weise Beleg auf Beleg häufen. Entscheidend wäre die geschichtliche Situierung und Einordnung einschlägiger Stellen, wie das zum Beispiel verschiedene Verfasser in Koran erklärt zu 2:65f und 5:60 versuchen, wo Juden zu Affen und Schweinen gemacht werden (Koran erklärt, Bd. 2, Berlin 2019). Diesen Weg hätte Ourghi deutlicher einfordern können, um selber vom Charakter einer bloßen Anklageschrift loszukommen, so beeindruckend (und erschütternd!) das auf den ersten Blick sein mag.

Ein wichtiges Kapitel behandelt die Kriege des Propheten gegen die Juden in Medina (S. 155ff.), für Ourghi die Blaupause im Umgang des Islam mit den Juden. Auch hier kennt Ourghi kein Tabu. Er analysiert nicht nur die geschichtlichen Vorgänge, die zu Vertreibung und Auslöschung jüdischer arabischer Stämme geführt haben, sondern auch die in diesem Fall tendenziösen Aus legungspraktiken islamischer Tradition (Opfer-Täter- Verschiebung). Die Vernichtung der Juden von Chaibar mündet bis heute in die Forderung (besonders im israelisch- palästinensischen Konflikt), auf gleiche Weise und mit Gottes und des Propheten Hilfe das Judentum zu bekämpfen. Die vielen Anmerkungen dazu am Ende des Buches zeigen, wie sorgfältig Ourghi recherchiert hat. Das Literaturverzeichnis selbst ist eine Fundgrube einschlägiger Studien.

In der Folge beschäftigt er sich mit der Situation von Juden unter islamischer Herrschaft (Kopfsteuer, ausgrenzende Auflagen, diskriminierende Abzeichen wie der arabische Judenstern). Er erklärt dazu den Umar-Vertrag als wirkmächtiges Dokument der islamisch- christlich-jüdischen Beziehung und deren Regulierung, die den Status der Schutzbefohlenen kodifiziert (S. 203ff.). Er beschreibt den wechselvollen Umgang islamischer Verwaltung mit Christen und Juden in Staatsämtern, was oft verharmlost wird. Eindrucksvolles Beispiel ist die Anordnung des berühmten Khalifen Harunar- Rashid, der 807 die Entlassung aller schutzbefohlenen Funktionäre aus dem Staatsdienst verlangte und neue Kleidervorschriften durchsetzte.

Ourghi bezieht sich neben den Quellen gern auf das Buch von Nathan Weinstock, Der zerrissene Faden. Wie die arabische Welt ihre Juden verlor (2019). Damit zeigt er, wie Weichenstellungen aus Früh- und Blütezeit islamischer Herrschaft bis in die Neuzeit fortwirken und den Exodus von Christen und Juden aus der arabischen Staatenwelt beschleunigt haben. Dies hat bis heute fatale Folgen.

Johann Bouman hatte 1990 das Buch veröffentlicht: Der Koran und die Juden. Die Geschichte einer Tragödie (Darmstadt, WB). Wie kann man aus dieser Tragödie herausfinden? Neben dem Weg aufrechter Erinnerungskultur im Dialog ist es Bildung und Erziehung, auf die Ourghi setzt. Erinnerungslernen wird noch einmal konkreter im Begegnungslernen. So endet das Buch mit Informationen zu kooperativen Seminarveranstaltungen muslimischer und christlicher Studierender, die in eine interreligiöse Reise im Rahmen des Programms Teachers for the Future führten: »Wir entdeckten Jüdinnen und Juden, die sich nach Frieden zwischen Muslimen und Juden sehnen. Und die muslimischen Studierenden stellten fest, dass Juden Menschen wie wir sind und keine Feinde des Islam und der Muslime.« (S. 232)

Ourghi, Abdel-Hakim (2023):
Die Juden im Koran
Ein Zerrbild mit fatalen Folgen

München: Claudius-Verlag, 261 Seiten
Euro 26,-

Editorische Anmerkungen

Quelle: Zeitschrift für christlich-jüdische Begegnung im Kontext (ZfBeg), 2/3 2023.

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