"Die größte Bettlerin des Jahrhunderts"

Eine entschiedene und dennoch bescheidene Frau stellt Gerhard Zimmermann in diesem Bändchen vor, die sich aus ihrer christlich-humanitären Überzeugung unermüdlich um Menschen kümmerte, die ansonsten dem Vergessen anheim gefallen wären. Oder wem ist das KZ Wapniarka in Rumänien ein Begriff?

Neben den großen symbolischen Namen der Massenvernichtungslager Auschwitz, Majdanek, Mauthausen, Bergen-Belsen und anderen wäre Wapniarka in Vergessenheit geraten, hätte es nicht Menschen wie Charlotte Petersen gegeben. 1990 wurde sie dafür vom Deutschen Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit mit der Buber-Rosenzweig-Medaille geehrt. Anlässlich ihres 110. Geburtstags und 20. Todestages ist dieses Buch erschienen.

Die Authentizität der Darstellung ist durch zahlreiche Zitate gewährleistet, die der Autor aus Akten, Archivalien und Veröffentlichungen zusammengetragen hat. Ein Quellenverzeichnis weist dies am Ende des Buches aus.

Wer an Zufälle glaubt, mag es als solchen betrachten, wie Charlotte Petersen auf ihr Lebensthema stieß: An einer Israelreise, bei der sie wie alle Teilnehmerinnen in Familien untergebracht war, nahm auch Hilda Heinemann, die Frau des späteren Bundespräsidenten, teil. In Haifa trafen sie auf einen norwegischen Pfarrer, der sich um eine Gruppe Überlebender des KZ Wapniarka kümmerte. „Kleines, Sie können doch reden und sich so gut für diese Sache einsetzen, übernehmen Sie doch die Hilfsaktion!“, sagte Hilda Heinemann zu der damals Mittfünfzigerin – und so geschah es.

Zimmermann schildert zunächst die Zustände in diesem Lager, vor allem die Beimischung einer giftigen Erbsensorte zur Nahrung, die bei den Überlebenden bleibende Schäden bis hin zur völligen Lähmung hervorrief. Durch Zeitungsartikel mit dem Kürzel c.p. stieß er auf die Journalistin Charlotte Petersen, die nach der Pensionierung ihres Vaters mit ihrer Familie nach Dillenburg gezogen war. Sie trat der evangelischen Jugendorganisation „Christdeutsche Jugend“ bei, die gegenüber den Nazis eine reservierte Haltung vertrat. In den wenigen biografischen Unterlagen jener Zeit ist eine Notiz erhalten, die für ihr Denken bezeichnend war: sie meldete sich 1933 von einem Jugendtreffen ab, weil sich ein ihr nahestehender Jude das Leben genommen hatte. Diese Einstellung war nach eigenem Bekunden auch das Verdienst ihres Elternhauses. Der Autor ist auch im Besitz eines Briefwechsels zwischen Charlotte Petersen und Martin Buber aus demselben Jahr. Auch ein Bericht über die Vorgänge im November 1938 ist eindrucksvoll und lebensnah, beängstigend die Fotografien von NS-Aufmärschen in einer Kleinstadt wie Dillenburg.

Nach der Barmer Theologischen Erklärung trat sie 1934 offiziell der Bekennenden Kirche bei. Als gelernte Buchhändlerin wandte sie sich nach dem Krieg dem Journalismus zu und arbeitete für die Wetzlarer Zeitung bzw. die Dill-Post. Bereits während der Hitlerzeit hatte sie ihren ursprünglichen Beruf aufgegeben: „Ich wollte nicht die Bücher verkaufen, die es damals ausschließlich zu verkaufen gab.“ So übernahm sie die Pflege ihres kranken Vaters.

Nach ihrer Israelreise 1958 machte sie aus der anfänglichen Wapniarka-Aktion ein regelrechtes Hilfswerk. Etwa 1959 erschien der erste Artikel über diese ehemaligen KZ-Häftlinge. Es folgten zahlreiche Vorträge „in kleinen Dörfern und großen Städten“; dadurch kamen oft „überraschend große Spenden von einzelnen, die sich das Herz auftun ließen für Israel.“ Einmal erlebte sie dabei eine besonders „große Freude. Ein einzelnes Gemeindeglied einer Dorfgemeinde spendete auf einmal 2000,- DM.“

Schuld abtragen war ihr Ziel – sofern so etwas überhaupt möglich ist. Dies kommt auch in dem Kapitel „Keine Wiedergutmachung für Wapniarka“ zum Ausdruck, wenn auch in ganz anderem Sinn. Mit beschämend entlarvender Offenheit wird hier zitiert, wie Adenauer seinerzeit die „Wiedergutmachungsverhandlungen“ im Parlament begründete. Die Wapniarka-Häftlinge gingen dabei allerdings leer aus, weil die Rechtslage Entschädigungszahlungen angeblich nicht zuließ. Charlotte Petersen gewann jedoch viele Mitstreiter, die dem Rezensenten zum Teil persönlich bekannt waren. Einer von ihnen, Pfr. Dr. Freudenberg, erreichte, dass die EKD eine Spende von 100.000 DM zahlte, später die EKHN denselben Betrag. Kein Wunder, dass Bundespräsident Heinemann sie einmal als „die größte Bettlerin des Jahrhunderts“ bezeichnete. Persönlichkeiten dieses Zuschnitts verdienen, dass ihr Gedächtnis gewahrt wird, was mit diesem Buch geschieht.

Geld ist nicht alles. Charlotte Petersen war daher auch ebenso intensiv um das „Gespräch zwischen Christen und Juden“ bemüht, das sie bereits 1933 in ihrem Briefwechsel mit Martin Buber begonnen hatte, aus dem in dem Kapitel „Auf dem Weg zur Versöhnung“ entscheidende Sätze ausführlich zitiert werden. Aber auch sein Schüler Schalom Ben-Chorin kommt zu Wort. Zurückhaltend habe sie sich allerdings bei der Gründung der Dillenburger Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit verhalten, weil sie nicht geglaubt habe, „dort eine entsprechend große Resonanz zu finden“, berichtet das Gründungsmitglied Hartmut May.

Die Ehrungen, die Charlotte Petersen erfuhr, bis hin zur Beerdigungsansprache sowie Einzelbeiträge über Begegnungen mit ihr, darunter eine Fotografie von Golda Meir mit einer handschriftlichen Widmung an Charlotte Petersen, bilden den Abschluss, darunter aber auch ein Kapitel, „Das Hilfswerk stellt seine Arbeit ein“. Charlotte Petersen vermachte ihr ganzes Erbe dem Hilfswerk, als aber die Zahlungen aus den Rücklagen die Spenden weit übertrafen, wurden die monatlichen Zuwendungen so erhöht, „dass bis zum Dezember 2001 die restlichen vorhandenen Mittel aufgebraucht waren.“

Das Buch bietet ein lebendiges Beispiel christlich-jüdischer Verantwortung.

Gerhard Zimmermann,

Die größte Bettlerin des Jahrhunderts.

Charlotte Petersen und ihr Kampf um die Überlebenden des KZ-Wapniarka.

Mit einem Vorwort von Günther Bernd Ginzel.

132 S., zahlr. Fotos,  geb.

Verlag Albrecht Thielmann, Dillenburg 2014

ISBN 978-3-9813197-3-6

Euro 17,90;

Bestellungen: albrecht.thielmann(at)gmx.de

zurück