Zur Geschichte des Christentums gehört eine hartnäckige Tradition der Abgrenzung, Abwertung oder Zurückweisung gegenüber anderen Religionen. Diese Haltungen und Reaktionen kommen auch im gegenwärtigen Christentum vor, bilden aber nicht mehr die bestimmende Grundierung in der Beziehung des Christentums zu den anderen Religionen. Für die katholische Kirche hat das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) in seiner Erklärung über die Haltung der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen „Nostra Aetate“ vom 28. Oktober 1965 eine offenere, tolerantere, ja liebevollere Haltung eingeleitet und grundgelegt. So eröffnete es seine Zuwendung zu den nichtchristlichen Religionen mit den programmatischen Sätzen: „In unserer Zeit, da sich die Menschheit von Tag zu Tag enger zusammenschließt und die Beziehungen unter den verschiedenen Völkern sich mehren, erwägt die Kirche mit um so größerer Aufmerksamkeit, in welchem Verhältnis sie zu den nichtchristlichen Religionen steht. Gemäß ihrer Aufgabe, Einheit und Liebe unter den Menschen und damit auch unter den Völkern zu fördern, fasst sie vor allem das ins Auge, was den Menschen gemeinsam ist und sie zur Gemeinschaft untereinander führt.“ (NA 1)[1]
Die neue Haltung hat sich auch in den Kirchen der Reformation durchgesetzt, findet in der Familie der orthodoxen Kirchen ihr verzögertes Echo und hat sich angesichts der sich verschärfenden politischen Spannungen zwischen den Ethnien, Völkern und Staaten, die eine Dimension des Interreligiösen bei sich haben, zu bewähren. Zur neuen christlichen Haltung gehört u.a. eine Aufmerksamkeit dafür, ob und wie in den anderen Religionen ein Interesse an Jesus Christus vorkommt bzw. begegnet. Der Blick dieser Aufmerksamkeit kann die Frage bei sich haben: Gibt es so etwas wie ein Gegenwärtig-sein Jesu Christi in den anderen Religionen? Könnte dies den Christinnen und Christen einen bislang unbewussten oder gar unbekannten Aspekt am Christusglauben eröffnen? Wäre es ein fremder Christus, der christlichen Gläubigen gleichwohl zu einem Zuspruch und Anruf werden kann?
„Christus“ ist das latinisierte „Christos“, welches die griechische Übersetzung des hebräischen „maschiach“, d.h. der Gesalbte, ist. Christus ist ursprünglich kein Bei- oder Zweitname für die historische Gestalt des Jesus von Nazareth, sondern ein Titulus. Er ist mehr noch ein Bekenntnis, wie es – neben vielen anderen neutestamentlichen Stellen – z.B. im Philipperbrief begegnet: „Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen, damit … jeder Mund bekennt: ‚Jesus Christus ist der Herr‘, zur Ehre Gottes des Vaters“ (Phil 2,9-11). Auch in der Pfingstpredigt des Petrus begegnet eine bekenntnishafte Aussage, wenn es dort heißt: „Mit Gewissheit erkenne also das ganze Haus Israel: Gott hat ihn zum Herrn und Christus gemacht, diesen Jesus, den ihr gekreuzigt habt“ (Apg 2,36). Wer mit dem Namen „Jesus“ bewusst den Titulus „Christus“ verknüpft und als Christ betont „Jesus Christus“ sagt, der bekennt: „Dieser Jesus von Nazareth ist Gottes Gesalbter“. Begegnet aber dem Blick der Christinnen, der Christen auf die „anderen“ Religionen so etwas wie ein Bezug, eine Beziehung oder gar ein Bekenntnis zu Christus? Oder ist Christus nicht so sehr der christlich und nur christlich bekannte „Christus des Glaubens“, dass er nicht universalisierbar ist? Wäre es angemessener, nach dem historischen Jesus in den anderen Religionen zu fragen? Die Frage nach dem historischen Jesus im Judentum liegt nahe, da sein Jude-Sein nicht zu bestreiten ist. Aber für die anderen, d.h. nichtbiblischen Religionen drängt sich eine analoge Relevanz des historischen Jesus nicht auf. Hier ist der mit dem Titulus gemeinte „Christus“ als eine religiöse Wirklichkeit relevant und von Belang.[2] Auf ihn hin ist zu fragen, ob er für alle Menschen offen ist. Und dies, insofern er – aus christlicher Sicht – „für das universale und lebendige Zeichen des Göttlichen und Religiösen schlechthin“ steht, „wie es sich weltumspannender und kulturübergreifender nicht denken lässt“? Nach christlichem Verständnis hat Gott ja mit dem konkreten Menschen Jesus von Nazareth als dem Christus „das Ganze in seine Weltzuwendung und damit in die Offenbarung einbezogen. Deshalb bleibt der religiöse Mitmensch für Christen ein unverzichtbarer Gesprächspartner.“[3]
Die andere Religion bzw. die Religion des anderen Menschen zeigt an, dass der Mensch das Vermögen hat, für das Göttliche empfänglich zu sein. Der Mensch ist des Unendlichen oder Unbedingten fähig. Seine Religion ist ein Indikator dafür, dass der in ihr als in seinem Haus lebende Mensch vom Göttlichen her die Fähigkeit bzw. gar den Auftrag erhalten hat, die Welt und das Leben nach Maßgabe des Religiösen zu gestalten bzw. zu verändern. Das bedeutet für Christinnen und Christen, die auf Andersgläubige zugehen, dass in diesen Anderen ein Hinweis auf Gottes Willen begegnet, sich geschichtlich zu offenbaren. Gott hat die Welt als Ganzes erschaffen. Er hat seinen göttlichen Bezug zu allem, was ist. Die Welt und Menschheit hat von dort her einen Zusammenhang, zu dem auch die anderen Religionen gehören und in dem diese eine theologisch lesbare bzw. wahrzunehmende Dignität haben. So können die anderen Religionen christlichen Menschen als Spiegel, als „Resonanzräume“ für die Botschaft von Christus entgegenkommen und von ihnen als ihnen fremde Orte der Begegnung mit Christus verstanden werden. In den anderen Religionen kann es Raum geben für die Begegnung mit Christus. Es lässt sich mit dem Münchener Theologen Bertram Stubenrauch sagen: „Christen brauchen die Weisheit der anderen, um tiefer zu verstehen, was in Christus der Welt tatsächlich gesagt ist. Sie brauchen das Gespräch mit den verschiedenen Kulturen und Denkrichtungen, damit ihnen aufgeht, in welche Tiefendimensionen das Wort Gottes reicht. Sie brauchen die Religionen, um dankbar einzusehen, dass der Mensch als universales Gottessymbol mit seiner Ahnung nicht ins Leere greift.“ Und die Wahrnehmung des Christentums durch Andersgläubige kann für Christinnen und Christen eine „Sehhilfe“ für das Verständnis des eigenen Glaubens sein.[4]
Andere Religionen als Ort eines fremden Christus bzw. in ihrer Transparenz, in ihrem Durchscheinen auf Christus hin aufzuspüren bzw. wahrzunehmen, das ist für christliche Theologie eine Herausforderung. In ihr ist vorausgesetzt: zwischen den beiden zentralen Gehalten „Christus“ und „andere Religionen“ besteht eine offene oder auch positive Relation. Auf eine solche Offenheit und Positivität zu setzen, ist in jener Haltung begründet, die in der bereits zitierten Konzilserklärung „Nostra Aetate“ einen klassischen Ausdruck gefunden hat: „Die katholische Kirche lehnt nichts von alledem ab, was in diesen Religionen wahr und heilig ist. Mit aufrichtigem Ernst betrachtet sie jene Handlungs- und Lebensweisen, jene Vorschriften und Lehren, die zwar in manchem von dem abweichen, was sie selber für wahr hält und lehrt, doch nicht selten einen Strahl jener Wahrheit erkennen lassen, die alle Menschen erleuchtet“ (NA 2).[5]
Christus im Spiegel anderer Religionen wahrzunehmen, war die Aufgabe einer Vorlesung des Autors im Rahmen einer Gastprofessur vom Sommersemester 2013 am Zentrum Theologie Interkulturell und Studium der Religionen der Katholisch-theologischen Fakultät der Paris Lodron Universität Salzburg. Für die Einladung zur Gastprofessur und die Beauftragung ihrer Lehrveranstaltungen danke ich Prof. Dr. Hans-Joachim Sander als damaligem Dekan der Fakultät herzlich. Gerne und sehr dankbar erinnere ich mich an den Austausch während des Semesters mit Prof. Dr. Franz Gmainer-Pranzl als Leiter des Zentrums zum Fortgang der Vorlesung.6 Deren Anliegen war die Befragung der anderen Religionen unter dem Aspekt einer Transparenz auf Christus hin. Der Ansatz der religionstheologischen Vorlesung war standortbezogen. Ihre Theologie der Religionen ging als christliche von den Grundsätzen des christlichen Glaubens aus. Dieser ist auf den Dialog mit dem Anderen verwiesen und strebt eine theologische Würdigung der religiösen Andersheit an. Das Verhältnis zum Judentum hat eine originäre und besondere Bedeutung. So setzte die Vorlesung damit ein und fragte nachfolgend nach dem Christus im Islam, Hinduismus und Buddhismus und nach dem Wohnrecht anderer Religiosität bzw. Religionen im christlichen Denken. Sie zielte an, den Glauben von Angehörigen anderer Religionen wie auch den eigenen christlichen Glauben besser zu verstehen. Begleitet wurde die Vorlesung von einem Konversatorium „Interreligiöse Begegnung praktisch“, das die Gelegenheit bot, Vertreter/innen anderer Religionen einzuladen und das Gespräch mit ihnen von Angesicht zu Angesicht zu führen. Ein besonders eindrücklicher Seminarnachmittag war die Begegnung mit Marko M. Feingold, dem Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde Salzburg. Dieser stellte sich als fast 100-Jähriger mit einer Biographie, zu der u.a. das Erleiden der Konzentrationslager Auschwitz, Neuengamme, Dachau und Buchenwald gehörte, und mit einer Präsenz vor, die nicht zuletzt anschaulich werden ließ, dass das Judentum mehr ist als eine Religion und zu dessen Identität neben dem Glauben auch die Dimensionen von Volk und Land gehören. Das Gespräch mit ihm erschien den Hörerinnen und Hörern wie ein eigenwilliger Kommentar zur Reihe der Vorlesungen „Christus im Spiegel anderer Religionen“. Die Vorlesungen werden hiermit in einer Überarbeitung und Fortschreibung vorgelegt.
Hans Hermann Henrix:
Christus im Spiegel anderer Religionen
Reihe: Forum Christen und Juden, Bd. 14
LIT Verlag, Münster 2014, 184 S.,
29.90 EUR // 47.90 CHF
(pdf)
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