Christologie zwischen Judentum und Christentum

Wie können christliche Kirchen und Theologien adäquat und authentisch heute von Jesus Christus reden, ohne das Judentum als bleibende Religion herabzuwürdigen? Dieser Frage, der sich der jüdisch-christliche Dialog in Europa und darüber hinaus seit dem Ende des Holocaust zu stellen versucht, widmet sich unter systematischem Aspekt ein großer Sammelband einer internationalen Wiener Tagung vom Januar 2019 unter dem Arbeitsthema Jesus, the Jew from Galilee, and the Christian Redeemer: Christology between Judaism and Christianity.

Organisiert wurde sie vom evangelischen Lehrstuhl für systematische Theologie in Wien (Christian Danz), von der School of Jewish Theology der Universität Potsdam und dem Abraham Geiger Kolleg Potsdam (Walter Homolka; Kathy Ehrensperger). Zur Tagung eingeladen waren jüdische und evangelische Theologen, aber auch mehrere führende katholische Systematiker, unter deren Aspekten der Band hier vor allem vorgestellt sei.

Wie weit Jesus von Nazareth Juden und Christen trennt oder eint, ist mehrfach klar ausgesagt worden, woran die kundige Einleitung (S. 1– 4) erinnert. Für Martin Buber ist Jesus ja der große Bruder, dessen Glaube eint, der als Gegenstand des Glaubens allerdings trennt. Von jüdischer Seite haben sich besonders Joseph Klausner, David Flusser, Schalom Ben-Chorin, Pinchas Lapide, Daniel Boyarin, Friedrich G. Friedmann, Jacob Neusner, Geza Vermes, Amoz Oz und immer wieder Walter Homolka (zuletzt in: Der Jude Jesus – eine Heimholung, Freiburg 2020) mit Jesus und dem Christentum ausführlich und empathisch befasst. Pioniere des jüdisch-christlichen Dialoges waren auf evangelischer Seite Friedrich-Wilhelm Marquardt (1928–2002) und der Barth-Schüler Berthold Klappert (*1939), auf katholischer Seite der Neutestamentler Franz Mussner (1916–2016), der einen vielbeachteten Traktat über die Juden (München 1979) schrieb, und der Steyler Missionar Clemens Thoma (1932–2011) mit dem Grundbuch Christliche Theologie des Judentums (Aschaffenburg 1978) und vielen lexikalischen Arbeiten (zusammen mit Jakob J. Petuchowski).

Mehrere Aufsätze des Wiener Sammelbandes beziehen sich auf die Nr. 4 der Konzilserklärung Nostra Aetate, die Reflexion der vatikanischen Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum dazu vom Dezember 2015 aus Anlass des 50-jährigen Jubiläums und die daran anknüpfenden, zunächst missverstandenen, Anmerkungen von Papst em. Benedikt XVI. Gnade und Berufung ohne Reue (IKaZ 47, 2018, S. 387– 406). Die Aufsätze konzentrieren sich weniger auf die kontroverse Frage Annahme oder Ablehnung des Messias (vgl. Henri Cazelles, Alttestamentliche Christologie. Zur Geschichte der Messiasidee, Einsiedeln 1983) oder auf das bereits bearbeitete und päpstlich negativ entschiedene Problemfeld einer Judenmisson (dazu: Hubert Frankemölle; Josef Wohlmuth (Hg.), Das Heil der Anderen, QD 238, Freiburg 2010). Die Artikel treten auf beiden Seiten der Dialogpartner heraus aus der Fixierung auf den fortdauernden Schatten des Holocausts (vgl. Helmut Hoping; Jan-Heiner Tück (Hg.), Streitfall Christologie. Vergewisserungen nach der Shoah, QD 214, Freiburg 2005) über den jüdisch-christlichen Beziehungen, um sich den systematisch-theologischen Zentralfragen der Gegenwart und der hoffentlich gemeinsamen Zukunft zu widmen. Das Judesein Jesu ist inzwischen in der christlichen Theologie unumstritten, jeder Antijudaismus wird abgelehnt. Der aus einer polnisch- jüdischen Familie stammende und in Paris geborene Jean-Marie Lustiger (1926–2007), dessen Mutter in Auschwitz ermordet wurde, wurde von Papst Johannes Paul II. zum Pariser Erzbischof und Kardinal ernannt und hat über seinen Lebensweg als Jude und Christ ein ergreifendes Interview (La Choix de Dieu/Gotteswahl, Augsburg 2002) und ein theologisches Buch (La Promesse/ Die Verheißung, Augsburg 2003) veröffentlicht.

Den Tagungsband Christologie zwischen Judentum und Christentum eröffnet die dichte Darstellung der Luzerner Judaistin Verena Lenzen über Jüdische Jesusforschung und israelische Kunst als Inspiration des jüdisch-christlichen Dialogs (S. 5 –16). Dabei fällt ein besonderer Blick auf das wegen zu wenig Hoheitlichkeit antijudaistisch attackierte Bild Der zwölfjährige Jesus im Tempel von Max Liebermann. Ergänzt wird dieser Auftakt durch Beiträge zum Judesein Jesu von Walter Homolka (Potsdam), Markus Öhler (Wien), Martin Stowasser (Wien), Kayko Driedger Hesslein (Saskatoon/Kanada), Reinhold Bernhardt (Basel) und Christoph Schwöbel (St. Andrews). Heinz-Günther Schöttler (Regensburg) vergleicht die soteriologischen Karrieren von Mose und Jesus (S. 377–398). Paula Fredriksen (Boston) und Kathy Ehrensperger (Potsdam) beleuchten das Thema unter paulinischen Aspekten. Im interreligiösen Kontext einer Theologie der Religionen stehen die Aufsätze von Folkart Wittkind (Duisburg- Essen) und Daniel Krochmalnik (Potsdam).

Die evangelische systematische und historische Theologie vertreten Mitherausgeber Christian Danz (Wien) und Christoph Markschies (Berlin). Danz möchte im »Zeitalter des religiösen Pluralismus« Christologie und Israeltheologie völlig getrennt sehen und sich in Absetzung von F.-W. Marquart, B. Klappert und J. Moltmann voraussetzungslos mit Jesus Christus »als Bild des Glaubens von sich selbst« beschäftigen (S. 123– 144). Markschies geht in einem Prospekt für eine noch nicht stattgefundene Tagung dogmengeschichtlich vor: »Die Erforschung antiker christologischer Reflexion und der jüdisch-christliche Dialog« (S. 247–269). Er entwirft auf höchstem kritischem Niveau den Plan für ein neues Gesamtbild, das sich in der Auseinandersetzung mit Alois Kardinal Grillmeiers grundlegendem und unvollendet gebliebenem Werk Jesus der Christus im Glauben der Kirche (Freiburg 1979ff.) entwickelt. Mehr als bei Grillmeier wird dafür die Theologie des Origenes und des Eustathius von Antiochien einbezogen. Mehr als an Rudolf Bultmanns Existenzialtheologie orientiert sich Markschies dabei an den Exegeten Ferdinand Hahn, Günther Bornkamm und Martin Hengel sowie an den Forschungen von Daniel Boyarin zu Abgrenzungen (Berlin/Dortmund 2009) zwischen Juden, Judenchristen und hellenischen Heidenchristen. Sein eigenes, die Thematik ergänzendes opus magnum mit dem Titel Gottes Körper. Jüdische, christliche und pagane Gottesvorstellungen in der Antike (München 2016) erwähnt Markschies nicht.

Erstaunlich ist, dass mehrere Beiträge führender römisch- katholischer Systematiker die von evangelischjüdischer Seite organisierte Tagung und den Band prägen. Den Anfang macht Jan-Heiner Tück (Wien), der von Hans Urs von Balthasars Buber-Buch Einsame Zwiesprache (Freiburg 1993) ausgeht. Israel ist dort »formale Christologie« (ebd. S. 76), und es wird bedauert, dass das lebendige Judentum für Theologie und Kirche jahrhundertelang keine Rolle gespielt habe. Tück stellt bei prominenten Theologen wie Karl Rahner und Walter Kasper eklatante israeltheologische Defizite fest. Bei Rahner verschwindet das Judesein Jesu hinter seinem Menschsein. Die konkret-geschichtliche und jüdische Dimension der Christologie ist »eine Leerstelle, die in einem 1983 veröffentlichten Gespräch Rahners mit Pinchas Lapide deutlich zutage tritt« (S. 187). Walter Kasper sei abhängig vom damals in der Exegese vorherrschenden »Differenzkriterium«, nach dem als genuin jesuanisch gilt, »was sich einerseits vom Kontext des damaligen Judentums, andererseits von der urchristlichen Verkündigung abhebt« (S. 188). Dies wurde später von ihm revidiert. Auch bei Eugen Biser finde sich eine »problematische Tendenz der Abwertung des Alten Testamentes und des Judentums« (S. 189, Anm. 17). Das kirchliche Lehramt und speziell Papst Johannes Paul II. haben dagegen das Judesein Jesu theologisch sehr ernst genommen und dem Differenzkriterium eine Absage erteilt, ja von Jesus im Kommissionsdokument von 2015 als der »lebendigen Tora Gottes« (Art. 26) gesprochen. Dies tat im Anschluss an die in Heinrich Schliers Kommentar zum Galaterbrief erwähnte »Tora des Messias Jesus« (S. 199) schon Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. im ersten Band seiner Jesus-Trilogie (2007– 2012), wenn er von Jesus als der Torah in Person sprach und in einen freundschaftlichen Disput mit Rabbi Jacob Neusner trat. Tück erörtert die damit verbundene Problematik und schlägt vor, besser von Jesus als der »potentiell für alle Menschen bedeutsamen Verwirklichungsgestalt der Tora Israels zu sprechen« (S. 202). Das habe den Vorteil, »dass die Tora als Bestimmungsgröße erhalten bleibt und nicht christologisch absorbiert oder substituiert wird« (ebd.). Weiterführen im Verständnis könne die rabbinische Vorstellung der Inhabitation der Torah in der Schekhina, die aber bei aller Nähe vom christlichem Inkarnationsglauben zu unterscheiden sei.

Erwin Dirscherl (Regensburg) sieht »Das theozentrische Beten und Fragen Jesu als bleibende Herausforderung des christlichen Glaubens an den einen Gott« (S. 209–227) und tritt in Fragen des trinitarischen Gebetes in einen weiterführenden Dialog mit seinem Fakultätskollegen Heinz-Günther Schöttler und mit Dokumenten päpstlicher Räte zum Judentum. Der Freiburger Dogmatiker Helmut Hoping widmet sich mit »Gottes Wort in jüdischem Fleisch« (S. 229–246) Jesus von Nazareth und dem Gedanken der Inkarnation. Er benennt den Verdacht, die Christologie sei eine »Kehrseite des Antijudaismus« (Rosemary Radford-Ruether) und deshalb sei ein Abschied vom »erfüllten Messianismus « (S. 229) gefordert. Es geht ihm auch um »Inkarnation und Bilderverbot« (S. 234) in Auseinandersetzung mit Jean-François Lyotard und Emmanuel Lévinas. Hoping, der die große Christologie Jesus aus Galiläa – Messias und Sohn Gottes (Freiburg 2019) veröffentlichte, berücksichtigt weitere jüdische Auseinandersetzungen mit dem Inkarnationsgedanken von Eugen B. Borowitz und Michael Wyschogrod. Christliche Deutungen sollten wie bei Karl Barth darum bemüht sein, die Vorstellung einer Substitution Israels durch Jesus und die Kirche zu überwinden. Weiterführen könne der von Peter Kuhn beschriebene Gedanke von Gottes Selbsterniedrigung in der Theologie der Rabbinen (München 1968). Nach Zitierung zeitlos gültiger Worte Romano Guardinis zum Gebet beschließt Hoping seinen Beitrag mit dem klaren Statement, dass Christen ihren Herrn Jesus Christus nicht wie einen zweiten Gott verehren dürfen: »Der Adressat des christlichen Gebets kann wie beim jüdischen Gebet nur der eine und einzige Gott sein« (S. 246).

Klaus von Stosch (Paderborn), der Begründer einer komparativen Theologie, setzt sich intensiv und fair mit Gedanken Joseph Ratzingers/Benedikts XVI. auseinander. In der Einzigkeit Jesu Christi sieht er ein »Implikat der Einzigkeit Israels« (S. 291). Dabei kritisiert er die Position von Christian Danz, für den Jesus als objektives Gegenüber keine Rolle mehr spielt, sondern allein in der reflexiven Glaubensbeziehung vorkommt. Genauso lehnt er gut begründet Magnus Striets Soteriologievergessenheit ab, die in der augustinischen Erbsündenlehre Antijudaismus sieht. Der eigene knappe Beitrag des Freiburger Fundamentaltheologen lautet dementsprechend »Vom Judesein Jesu und einem notwendigen dogmatischen Umdenken« (S. 311–318), in dem er Thesen seiner Veröffentlichung mit Walter Homolka Christologie auf dem Prüfstand. Jesus der Jude – Christus der Erlöser (Freiburg 2019) neu vorlegt. Der Verfechter des Autonomiedenkens vertritt hier das Konzept eines »ethischen Monotheismus« (S. 318). Der im jüdisch-christlichen Dialog schon lange engagierte Bonner Theologe und Eichstätter Ehrendoktor Josef Wohlmuth stellt dem jüdischen Jesus die Christologie des Konzils von Chalkedon gegenüber (S. 319– 332). Er setzt sich mit Daniel Boyarins Thesen zum jüdischen Jesus, der frühen Geschichte der Christologie und mit den Konzilsaussagen auseinander. Wohlmuth kommt zu dem Ergebnis: »Judentum und Christentum sind jene zwei Offenbarungspfade, die unvermischt und ungetrennt zusammengehören« (S. 332). Dies sei einem Karl Rahner noch nicht genügend bewusst gewesen.

Der gehaltvolle Wiener Sammelband, dem eine hilfreiche Gesamtbibliographie zur Thematik beigefügt ist (S. 399–431), setzt bleibende Maßstäbe und ist für künftige theologische Begegnungen von Juden und Christen unverzichtbar. Er kann helfen, Irritationen und Sackgassen zu vermeiden. Es wird keine Missionen zueinander geben, aber eigene Vertiefungen und den bezeugenden Hinweis auf das göttliche Licht und seine Herrlichkeit im Glauben des jeweils anderen.

Danz, Christian; Ehrensperger, Kathy; Homolka, Walter (Hg.):
Christologie zwischen Judentum und Christentum

Dogmatik in der Moderne, Bd. 30,
Verlag Mohr Siebeck: Tübingen 2020
447 Seiten, Euro 104,-

ISBN 978-3-16-159096-2

Editorische Anmerkungen

Quelle: Zeitschrift für christlich-jüdische Begegung im Kontext (ZfBeg), 3/2021.

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