Böckler, Annette, Jüdischer Gottesdienst. Wesen und Struktur

Annette Böckler, Jüdischer Gottesdienst. Wesen und Struktur. Mit einem Vorwort von Rabbiner John D. Rayner. Berlin 2002

Jüdischer Gottesdienst. Wesen und Struktur

Annette Böckler, Jüdischer Gottesdienst. Wesen und Struktur. Mit einem Vorwort von Rabbiner John D. Rayner. Berlin 2002 (JVB). 192 S. ? 19,90.

Annette Böcklers Buch ?Jüdischer Gottesdienst? erscheint nur zehn Jahre nach Leo Trepps Darstellung mit dem fast gleichlautenden Titel ?Der jüdische Gottesdienst? und nur sieben Jahre nachdem Ismar Elbogens Standardwerk aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ?Der jüdische Gottesdienst in seiner geschichtlichen Entwicklung? nachgedruckt wurde. Braucht es ein weiteres Buch zum jüdischen Gottesdienst auf dem deutschsprachigen Buchmarkt? Die Antwort lautet ?ja?, denn Böcklers Buch bietet Neues und gehört in die Hände und Bibliotheken aller am Judentum Interessierten.

Schon auf den ersten Seiten fällt auf, dass die Autorin selbst vom jüdischen Gebet fasziniert ist. Ein ?Kunstwerk? sei es, ?ein Kunstwerk aus vielen Zitaten?. Man könne jüdischen Gottesdienst in seinen einzelnen Sequenzen betrachten wie die unterschiedlichen Gemälde einer Galerie. Das Buch diene als ?Ausstellungsführer?, der nicht die eine Deutung der Gemälde liefern, aber seinen Beitrag leisten möchte, ?die Augen [zu] öffnen für die Schönheit und Herausforderungen der Kunstwerke eines jüdischen Gottesdienstes?.

Die Faszination für den jüdischen Gottesdienst ermöglicht es der Autorin, ein einfühlsames und dichtes Buch zu schreiben, hindert sie aber nicht daran, so objektiv darzustellen, wie es sich für ein Fachbuch gehört. Auf der Höhe der wissenschaftlichen Diskussion und doch allgemein verständlich verbindet Annette Böckler historische Informationen mit theologischen und hermeneutischen Deutungen zum jüdischen Gottesdienst und anschaulichen Schilderungen der konkreten liturgischen Vollzüge. Wer etwa das Kapitel zur Verlesung der Tora (106-135) rezipiert hat, wird in einem jüdischen Gottesdienst neu die liturgische Inszenierung der Besteigung des Sinai, des Empfangs der Tora durch jeden Einzelnen und des Abstiegs vom Berg entdecken.

Die hervorragende Gliederung, die 15 Schautafeln sowie das Stichwortregister machen das Buch zudem zu einem grundlegenden Nachschlagewerk - wofür es beinahe noch besser geeignet ist als für die kontinuierliche Lektüre von Anfang bis Ende.

Besondere Beachtung verdient, dass Böckler jüdischen Gottesdienst als ganzheitliches Geschehen vor Augen führt. Sie beschreibt nicht nur die Texte der Gebete, sondern ausführlich auch die Gebetsgesten und die Symbole des Gebetes. Für christliche Leserinnen und Leser finden sich vielfache Hinweise auf Möglichkeiten und Grenzen christlicher Teilnahme am jüdischen Gottesdienst, die m. E. allesamt dick zu unterstreichen sind und im Wesentlichen darauf hinauslaufen, sich als Christ nicht aktiv am jüdischen Gebet und seinen Symbolen und Gesten zu beteiligen.

Neu im Kontext deutschsprachiger Darstellungen jüdischen Gottesdienstes ist auch, dass die Autorin die Frage nach Rolle und Beteiligung von Frauen im Gottesdienst ständig ventiliert.

Nicht zuletzt: Annette Böcklers Buch stellt jüdischen Gottesdienst in seinen Differenzierungen dar; sie beleuchtet traditionelle Formen ebenso wie konservative und liberale Entwicklungen. Genau an diesem Punkt aber zeigt sich, dass die Darstellung insgesamt positionell ausfällt - was insofern nicht verwundert, als Annette Böckler u.a. die Übersetzung des liberalen Gebetbuchs Seder ha-Tefillot (1997) verantwortet hat. Die Entwicklungen im liberalen Judentum seit dem 19. Jahrhundert werden von ihr mit großer Sympathie nachgezeichnet. Ein vergleichbares Engagement, auch das traditionelle Judentum in seinem Festhalten an überlieferten Texten und Traditionen zu verstehen, findet sich nicht. Dabei hätten die Spuren eines Franz Rosenzweig oder eines Abraham Joshua Heschel neue Perspektiven zur liturgischen Hermeneutik liefern können, die u.a. im liberalen Judentum der USA seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vermehrt rezipiert werden und die ein tieferes Eindringen in traditionelle jüdische Liturgie jenseits der falschen Alternative von fundamentalistischer Beharrung auf dem gleichen alten Text und moderner Anpassung an das Zeitgemäße eröffnen könnten.

Hoffentlich wird Annette Böcklers Buch gelesen - von Juden und Christen und allen Interessierten. Und wer weiß - vielleicht regt es angesichts seiner teilweise positionellen Einseitigkeit zu weiteren Diskussionen über das ?Wesen? und die ?Struktur? jüdischen Gottesdienstes an.

 

Editorische Anmerkungen

Quelle: BEGEGNUNGEN. Zeitschrift für Kirche und Judentum, Nr. 2, 2003

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